Cover: "Vija Celmins", Herausgegeben von: Theodora Vischer, James Lingwood

AUDIO: Bildschöne Bücher: „Vija Celmins“ (6 Min)

Stand: 08.09.2025 11:41 Uhr

Vija Celmins gilt als eine der wichtigsten Malerinnen und Zeichnerinnen in den USA. Bei Hatje Cantz ist nun eine umfangreiche Monographie über die Amerikanerin mit lettischen Wurzeln erschienen.

von Silke Lahmann-Lammert

Kaum eine andere Künstlerin hat ein so eigenwilliges Werk geschaffen wie Vija Celmins. In Europa waren ihre Bilder im Centre Pompidou und auf der documenta zu sehen, im Kölner Museum Ludwig oder der Hamburger Kunsthalle. Und wohl niemand, der ihre Arbeiten erlebt hat, kann sich der geheimnisvollen Stimmung, der Präzision und Schönheit entziehen, die von ihnen ausgeht. Noch bis zum 21. September zeigt die Schweizer Fondation Beyerler die Werke der 86-jährigen Künstlerin.

Celmins‘ Wandel der Motive vom Zeitgeschehen zur Natur

„Letter“ ist der Titel eines Bildes aus dem Jahr 1968. Es zeigt einen täuschend echt gezeichneten Brief. Jede Knitterfalte, jeder Fingerabdruck auf dem Papier wirkt authentisch. Adressiert ist das Schreiben an „Miss Vija Celmins, 701 Venice Boulevard, Venice California“.  Aufgegeben hat es ihre Mutter in Indianapolis.

Ist „Letter“ also ein fotorealistisches Werk? Ein Brief, den die Künstlerin eins zu eins kopiert hat? Wer den Umschlag genauer betrachtet, entdeckt ein irritierendes Detail: Auf den Briefmarken sind Kriegsszenen zu sehen: ein brennendes Haus, düstere Wolken, schwarzer Rauch über einem Schlachtfeld. „Keine andere Arbeit Celmins ist auf derart unverhohlene Weise persönlich, keine andere stellt eine so eindeutige Verbindung zwischen ihrem Schaffen und Leben her“, schreibt Buchautor James Lingwood.

Geboren wurde Vija Celmins 1938 in Riga. Wie bei vielen Menschen ihrer Generation prägten die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs ihre Kindheit: Sie war sechs, als die Familie vor der Roten Armee nach Deutschland floh. Dort lebten die Celmins in einem Flüchtlingslager, bevor sie 1948 in die USA auswanderten. Es liegt also nahe, die Kriegsmotive als Anspielungen auf die gemeinsame Vergangenheit zu deuten. Sie stehen für die Erfahrungen von Gewalt und Vertreibung, die in jeder Zeile und jedem Wort mitschwingen, das zwischen Mutter und Tochter gewechselt wird.

Vom Zeitgeschehen zur Natur: Celmins‘ Wandel im Motiv

„Letter“ gehört zu einer Serie von Stillleben, auf denen Celmins Gegenstände aus ihrer unmittelbaren Umgebung darstellt: eine Schreibtischlampe, eine glühende Elektroplatte, ein Messer auf einer Untertasse. Auch Fotos aus Illustrierten dienen als Vorlage für ihre Bilder. Im August 1965 malt sie das Cover des „Time Magazines“. Titelthema sind die „Los Angeles Riots“: Proteste afroamerikanischer Bürger gegen rassistische Polizeigewalt, bei denen 34 Menschen ums Leben kamen. Kunst mit Wirkung: Während die zeitgenössischen Presseberichte längst vergessen sind, hält Celmins Ölgemälde bis heute die Erinnerung an die Auseinandersetzungen wach.

Im Laufe der Jahre verschwinden solche aktuellen Anspielungen aus ihren Werken. Celmins nimmt die Natur in den Fokus. Auf ihren Leinwänden ist nun nichts anderes zu sehen als das gekräuselte Grau des Ozeans oder der steinige Sand der Wüste. Und immer wieder malt sie den Sternenhimmel: Bilder, in die man sich versenken kann wie in das funkelnde Firmament einer Sommernacht.

Eine Welt jenseits der Worte

Die neue Monographie präsentiert Arbeiten aus allen Schaffensphasen der 86-Jährigen Amerikanerin. Spannend sind nicht nur die hochwertigen Abbildungen ihrer Zeichnungen und Gemälde, sondern auch die Begleittexte: Künstlerinnen und Künstler wie Marlene Dumas, Robert Gober oder Teju Cole formulieren – zum Teil sehr poetisch – ihre Gedanken zu den Werken ihrer Kollegin. Ergänzt werden die Essays durch Zitate aus Celmins‘ Notizbüchern:

Die Farbe des Himmels … ist meine! Und doch nicht meine. Kunst zu schaffen, heißt dem nachzuspüren, was wir nicht sagen können.

Vija Celmins

Besser könnte sie den Zauber ihrer Kunst nicht zusammenfassen. Vija Celmins bringt Ahnungen, Stimmungen und Empfindungen auf die Leinwand und öffnet damit die Tür zu einer Welt jenseits der Worte.

Cover: "Vija Celmins", Herausgegeben von: Theodora Vischer, James Lingwood

Vija Celmins

von Theodora Vischer, James Lingwood (Hg.)

Seitenzahl:
208 Seiten
Genre:
Bildband
Verlag:
Hatje Cantz
ISBN:
978-3-7757-6030-0
Preis:
58 €