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Fertig für den scharfen Schuss? Russlands Oreschnik-Rakete ist nur eine der Waffen, vor der sich die Ukraine fürchtet; aber noch kann Putin prahlen.
Moskau – „Trotz Russlands Rekordausgaben für das Militär zeigen unsere Untersuchungen, dass sich die Rüstungsindustrie derzeit im Niedergang befindet – ganz im Gegensatz zu dem, was der Kreml der Welt weismachen will“, schreibt Mathieu Boulègue. Mit seiner Aussage steht der Analyst des britischen Thinktanks Chatham House im krassen Gegensatz zu ukrainischen Militärs. Laut Wadym Skibitsky habe Wladimir Putin seine Taktik im Ukraine-Krieg geändert – der stellvertretende Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes klagt gegenüber Ukrainska Prawda (UP), dass Russland mittlerweile auch modernisierte Waffen nutze – und der Ukraine damit zusehends zusetze.
Militärparade in Peking: China präsentiert unter den Augen von Putin und Kim neue SuperwaffenFotostrecke ansehenPutins Rüstung stagniert: Produktion wird voraussichtlich vereinfacht und gedrosselt werden müssen
UP-Autorin Katerina Tischtschenko berichtet, Skibitsky ginge davon aus, „dass die russischen Angriffe in Zukunft kombiniert werden und Drohnen verschiedener Typen, insbesondere sogenannter falscher Ziele, sowie Marschflugkörper verschiedener Art umfassen werden“, wie sie schreibt. Als Beispiel nennen sie intelligentere Marschflugkörper und in ihren Möglichkeiten erweiterte Shahed-Drohnen, die länger herumlungern und ausdauernder über einem Ziel kreisen könnten. Von einem Sturzflug spricht auch Forscher Boulègue – allerdings umgekehrt: „Die Produktion wird in den kommenden Jahren voraussichtlich vereinfacht und gedrosselt werden müssen, während Russland mit Qualitätseinbußen rechnen muss und unter einer ‚Innovationsstagnation‘ in der technologischen Forschung und Entwicklung leiden wird.“
Bereits mit der Oreschnik-Mittelstreckenrakete („Haselstrauch“) hatte Russland Stärke demonstrieren wollen und den Beleg dafür erbringen, dass Russland in der Lage sei, Tod und Vernichtung von Moskau aus beispielsweise bis ins portugiesische Lissabon tragen zu können. Mit dem Test der Oreschnik Ende 2024 habe Wladimir Putin damit nach eigenem Bekunden die Freigabe westlicher Waffen für einen Angriff auf Russlands Territorium beantwortet. Sein neuer Marschflugkörper Burewestnik („Sturmschwalbe“) soll jetzt sogar gefährlicher sein und weiter fliegen können als die Oreschnik, die auf maximal 5.000 Kilometer geschätzt wird: mindestens 10.000 Kilometer fürchten Analysten. Und aufgrund eines Atomantriebs soll sie ewig lange in der Luft bleiben können.
Russland hat trotz erheblicher Verluste in der Ukraine eine bemerkenswerte Fähigkeit zu schnellem Lernen und Innovationen bewiesen. Dies macht Russland zu einem herausfordernden Gegner, der bisherige Annahmen über seine militärische Stärke in Frage stellt
Soweit die Theorie, die zunächst aus russischer Progaganda besteht. Viel wahrscheinlicher behalten westliche Beobachter recht, laut denen Russland Ende dieses Jahres seine riesigen Vorräte an Artillerie, Kampfpanzern und gepanzerten Fahrzeuge aus der Sowjetzeit im Kampf verloren und damit aufgebraucht haben wird. Auf der einen Seite ist Russland insofern auf Truppen zu Fuß angewiesen, um Territorium zu besetzen. Andererseits muss Russland mehr dafür tun, verteidigtes Territorium sturmreif zu schießen. Wadym Skibitsky fürchtet sich vor allem vor der forcierten Entwicklung einer Waffe wie des Marschflugkörpers X-101/Kh-101. Laut Skibitsky sei sie für die ukrainische Luftabwehr ein fast gänzlich neuer Feind am Himmel.
Ukraine-Krieg zwingt zu Notlösungen: „Russland wird sich weiterhin durchwursteln“
Die Waffe soll beispielsweise Täuschkörper ausstoßen können und damit die Patriot-Abwehrsysteme verpuffen lassen sowie Sprengköpfe mit erhöhter Ladung tragen. Russland wird während seines Manövers Sapad-2025 wahrscheinlich auch seine bisher einmalig zu Testzwecken eingesetzte Mittelstreckenrakete Oreschnik erneut zu optimieren versuchen, prognostizieren westliche Beobachter – „entweder simuliert oder mit scharfem Schuss“, wie Aylin Matlé und András Rácz schreiben. Die beiden Analysten der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sehen in diesen Testszenarien eine deutliche Gefahr für die Nato in Russlands Probe-Krieg; wobei immer wieder bezweifelt wird, dass Russlands Ökonomie solche Waffen in einer für einen Konflikt ausreichenden Menge beziehungsweise Qualität wird herstellen können.
„Russland wird sich weiterhin durchwursteln“, schreibt Mathieu Boulègue – aufgrund Russland Unfähigkeit zur qualitativ hochwertigen Produktion und dem Mangel an Masse bliebe seiner Meinung nach das Patt der beiden Kriegsgegner bestehen; um den Ukraine-Krieg zu gewinnen, müsse Russland im ganzen Produktionsprozess nachlegen, so Boulègue in seinen Überlegungen für Chatham House: „‚Gut genug‘ zu sein, um einen Krieg gegen die Ukraine zu verlängern, ist nicht dasselbe wie langfristig mit den westlichen (und chinesischen) militärtechnischen Fortschritten Schritt halten zu können.“ Was Russland aber mit Macht anzustreben scheint, wie der stellvertretende Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes über den Sender ntv verlauten lässt.
USA in Sorge: „Vorbereitung auf einen Krieg mit der Nato bis 2030 erfordert eine viel größere Reichweite“
Bei der Entwicklung seiner Raketentechnik konzentriere sich Russland auf die Verbesserung der Genauigkeit und Erhöhung der Effektivität der Sprengköpfe sowie auf die Reichweiten-Verlängerung, so Skibitsky. „Ziele in der Ukraine zu treffen, erfordert einen bestimmten Einsatzradius, aber die Vorbereitung auf einen Krieg mit der Nato bis 2030 erfordert eine viel größere Reichweite.“ Dass Russland dazu in der Lage sei, vermutet auch der Wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses. Gregory Guillot habe in diesem Jahr geäußert, die neuartigen russischen Raketen-Kapazitäten würden die Fähigkeiten der USA, „einen Angriff zu erkennen und zu charakterisieren und im Konfliktfall eine angemessene Reaktion zu bestimmen, erheblich beeinträchtigen“, so der Kommandeur des Northcom (Northern Command).
Technik, die begeistert? Im Februar 2024 besuchte Präsident Wladimir Putin (rechts) Uralvagonzavod, die wichtigste Panzerfabrik des Landes im Ural, in Nischni Tagil. In robuster Technik scheint Russland unschlagbar, mit Hochtechnologie erleidet das Land häufig Rückschläge (Symbolfoto). © Alexander Kazakov/POOL/AFP)
Laut der Autorin Anya L. Fink bezieht sich der General auf die Entwicklung des Burewestnik-Marschflugkörpers, wahrscheinlich der als Hyperschallrakete vermuteten Oreschnik sowie vor allem der neuen Interkontinentalrakete Russlands: Die RS-28-Sarmat-Rakete bliebe für die Modernisierung der russischen Verteidigung von zentraler Bedeutung – trotz der Herausforderungen durch fehlgeschlagene Tests und Rückschläge, schreibt Amir Daftari. Der Newsweek-Autor zitiert Sergei Karakajew, demzufolge die Stationierung des silobasierten Sarmat- beziehungsweise Satan-2-Raketensystems voranschreite. Der Kommandeur der Strategischen Raketenstreitkräfte (SMF) bezeichnete das gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Tass als einen entscheidenden Schritt der Modernisierung des russischen Atomarsenals. Allerdings waren die letzten Informationen über Tests eher ernüchternd.
Putins Atomdrohung: „Der Kreml tut alles, um die Nerven des Westens auf die Probe zu stellen“
Sowohl die Burewestnik als auch die Sarmat seien ihren Entwicklern um die Ohren geflogen. Aber Russland hat sich unter den Atommächten zum Außeneiter entwickelt, wie BBC-Autor Will Vernon schreibt. „Der Kreml tut alles, um die Nerven des Westens auf die Probe zu stellen.“ In Litauen werden offenbar die erheblichen Sorgen von Wadym Skibitsky unter Militärs geteilt, wie Vytis Andreika im US-Army-Magazin Military Review deutlich macht: „Russland hat trotz erheblicher Verluste in der Ukraine eine bemerkenswerte Fähigkeit zu schnellem Lernen und Innovationen bewiesen. Dies macht Russland zu einem herausfordernden Gegner, der bisherige Annahmen über seine militärische Stärke in Frage stellt“, so der Oberst der litauischen Streitkräfte.
Laut Andreika habe sich Russland gegenüber starren Konzepten einer Sowjet-Armee emanzipiert und sei im Ukraine-Krieg moderner geworden: in seinen militärischen Überzeugungen, in der Organisation seiner Streitkräfte sowie im Komplex der Rüstungsindustrie. Allerdings macht er das fest an den Innovationen an Shahed- und First-Person-View-Drohnen, unbemannten Luftfahrzeugen zur Drohnenabwehr sowie „leichter elektronischer Kampfsysteme“, wie er schreibt. Auch in der Technik von Glasfaser-Drohnen ist Russland unbestreitbar stark. Hochtechnologie statt Waffen aus Baumarktteilen wird Russland aber vermutlich weiterhin Schwierigkeiten bereiten. Und auch die Zeit gilt als Putins Gegner, wovon Pavel Luzin überzeugt ist.
Für einsatzbereite Innovationen auf strategischer Ebene sieht der Analyst des US-Thinktanks Center for European Policy Analysis (CEPA) Russland enorm unter Druck; zweifellos kann Putin 2025 als Erfolg darstellen; für 2026 meldet Luzin allerdings Zweifel an. Ihm zufolge zermürbten Putins Truppen nicht nur der schleppende Fortschritt an der Front. In seinem Rücken machten dem Kreml-Chef mangelnde Arbeitskräfte zu schaffen, die damit einhergehende stockende Rüstungsproduktion und explodierende Budgets, wie Lutzin glaubt: „Ohne einen Waffenstillstand wird der Kreml mit tieferen Ungleichgewichten in seiner innenpolitischen Ökonomie konfrontiert sein und strategisch geschwächt werden.“