Im Herbst 2021 kam in Luxemburg das Thema „Plagiat“ auf die Agenda. Waren es bisher meist deutsche Politiker wie Carl-Theodor zu Guttenberg, die wegen „akademischen Fehlverhaltens“ in den Fokus gerieten, hatte es nun Xavier Bettel erwischt. Auf 54 von 56 Seiten seiner Diplomarbeit an der Uni Nancy soll der spätere Premier- und Kulturminister und heutige Außenminister Textpassagen ohne Quellenangabe untergebracht haben, so reporter.lu.
Bettel moderierte die Sache staatsmännisch ab – er bezeichnete die Arbeit aus dem Jahr 1999 als „kein Meisterstück“ und zog sie, gesichtswahrend für sich und die Universität, zurück. Dazu sagte er, er habe lediglich „eine Reihe von Punkten von links und rechts zusammengetragen“. In jedem Fall habe er „net beduckst, net gelunn a net getrickst“. Das sprach zwar nicht dafür, dass ihm die akademische Tragweite bewusst war. Doch Luxemburg hatte so im Frühsommer 2022 bereits eine Vorstellung davon, dass man fremde Werke nicht ohne Quellennennung als seine eigenen ausgeben sollte.
In diese Stimmung platzt am 2. Juni 2022 die Schlagzeile: „US-Fotografin wirft Luxemburger Künstler Plagiat vor“. Und dieses Mal geht es nicht „nur“ um akademische Gepflogenheiten, sondern recht handfest um Urheberrecht, also auch um Geld – und in der Konsequenz auch um den Kunstbegriff. Die Gelegenheit, aus gegebenem Anlass einmal seriös und unaufgeregt über Kunst zu diskutieren, wurde allerdings schlussendlich verpasst. Stattdessen wäre Luxemburg um ein Haar das Land geworden, das der Fotografie als Genre den Urheberrechtsschutz gerichtlich aberkennt.
Lesen Sie auch:US-Fotografin wirft Luxemburger Künstler Plagiat vor
Was war passiert? Der Kunststudent Jeff Dieschburg, damals 24, hatte ein Diptychon, also ein zweiteiliges Bild, in Öl gemalt und unter dem Titel „Turandot“ bei der 11. Kunstbiennale Strassen für 6.500 Euro zum Kauf angeboten. Dem Werk wurde ein Förderpreis von 1.500 Euro zuerkannt, den Dieschburg allerdings nicht abholte. Die rechte Tafel zeigt den Maler selbst in der Pose Johannes des Täufers (das heißt: enthauptet). Stein des Anstoßes war aber die linke: Für deren Motiv einer asiatischen Frau, von Dieschburg als chinesische Prinzessin Turandot interpretiert, hatte der Student sich von einer Modefotografie „inspirieren lassen“, die er im Internet gefunden hatte. Eine Quelle oder Referenz nannte er nicht.
Die Fotografin Jingna Zhang aus Seattle, die das ursprüngliche Bild im Rahmen eines Cover-Shootings für die vietnamesische Ausgabe des Modemagazins „Harper’s Bazaar“ geschossen hatte, machte den Fall öffentlich. Ihre Aussage: Das Foto ist urheberrechtlich geschützt, zur Weiterverwendung, auch der künstlerischen, hätte Dieschburg eine Lizenz von ihr bekommen müssen – Preis Verhandlungssache. Danach hat er sie aber nie gefragt. Später erklärte er ihr lediglich, warum er überzeugt sei, keine Lizenz zu benötigen.
Lesen Sie auch:Jeff Dieschburg vs. Jingna Zhang – eine Chronologie
Der aufziehende Sturm wäre vielleicht als laues Lüftchen an Luxemburg vorbeigezogen. Doch zum einen verfügte Zhang damals schon über eine gewisse Szenebekanntheit und viele Follower auf Instagram. Schon ihr erstes Posting, in dem sie auf ihre Urheberschaft hinwies und nach mehr Informationen fragte, erzeugte in kurzer Zeit so viel Wirbel, dass es schwerfiel, das Ganze als bloße Provinzposse abzutun. Zum anderen verkündete Dieschburg noch am selben Tag, er werde sich von Luxemburgs lautestem Anwalt vertreten lassen – wobei zu diesem Zeitpunkt von rechtlichen Schritten noch gar keine Rede gewesen war.
Und Me Gaston Vogel verlegte sich, erwartbar, auf seine seit Jahren erprobte Standard-Taktik der maximalen Eskalation. Alle Aufmerksamkeit auf den Anwalt und weg vom Mandanten. Offensives Gepöbel gegen alle, die nicht sofort davon überzeugt waren, Dieschburg habe jedes Recht der Welt, sich bei Zhangs Fotos oder anderswo im Internet zu bedienen. Diesen Standpunkt vertrat der 2024 verstorbene Anwalt bei einem seiner letzten großen Auftritte: einem als Interview getarnten, durchaus unterhaltsamen Monolog beim Kleinsender Apart TV. Dieschburg male „wie ein Gott“, zudem figurativ und nicht abstrakt, „wie es diejenigen machen, die keine Nasen malen können“. Man müsse ihn beschützen vor den „Hyänen aus den Kanalisationsrohren der sozialen Medien“. Und andere Werke als Vorlage hergenommen hätten neben van Gogh schließlich auch schon die Gewinner früherer Strassener Biennalen.
Lesen Sie auch:Künstlerische Aneignung und was vor Gericht daraus wurde
Auch wenn Vogels Argumentation massive Lücken aufwies, kam sein Auftritt bei der gewünschten Zielgruppe gut an: „De Maître war a Form“, hieß es am nächsten Tag auf den Facebookseiten von Dieschburgs Unterstützern.
Morddrohungen, rassistische Beleidigungen und ein Pseudonym
Die von Vogel angesprochene hässliche Seite des Internets zeigte sich aber tatsächlich – beidseits. Gegen Dieschburg wurde eine anonyme Morddrohung ausgesprochen. Beleidigt wurden beide, bei Zhang kam noch die rassistische Komponente dazu. Zudem wurde die gebürtige Singapurerin zum Suizid aufgefordert. Dieschburg hatte zu diesem Zeitpunkt seine Social-Media-Kanäle bereits gelöscht. An der Debatte nahm er trotzdem teil – unter Pseudonym und mit dem Profilbild des französischen Historienmalers Jean-Paul Laurens belehrte er die seiner Meinung nach unqualifizierten Journalisten und Experten und schrieb Lobeshymnen auf sich selbst in der dritten Person. Auch Vogel tippte eifrig offene Briefe, in einem davon rückte er die Berichterstattung in die Nähe der Nazi-Kulturpolitik („entartete Kunst“).
Lesen Sie auch:Dieschburg gegen Zhang: Entscheidung terminiert
An gütliche Einigung war in diesem aufgeheizten Klima nicht mehr zu denken, und so landete die Sache schließlich vor Gericht. In erster Instanz verlor die Klägerin, die nicht habe nachweisen können, die kreative Verantwortung für das „Harper’s Bazaar“-Foto allein gehabt zu haben, so die Richter. Ein Punkt für Vogel, der daraus bei Apart TV machte, das Gericht habe geurteilt, „Madame Zhang drückt nur aufs Knöpfchen“ und könne als Fotografin daher kein Urheberrecht geltend machen. Ihre Arbeit sei schlicht nicht schützenswert. Ein Telefonat, in dem er vom „Luxemburger Wort“ gebeten wurde, das Urteil zum Zwecke der Berichterstattung doch bitte etwas genauer zu erklären, ging im Geschrei unter, bevor der Maître den Hörer auf die Gabel knallte.
Öffentlich zeigen bei Strafe verboten
Der Revisionstermin, zu dem Zhang eigens anreiste, lief für die Fotografin und ihren Anwalt Vincent Wellens dann deutlich besser. Die Zweifel an ihrem Status als „Art Director“ für das Fotoprojekt wurden ausgeräumt. Auch Dieschburgs Argument, die „klassische Pose“, in der sie das Model fotografiert habe, sei nicht von ihr erdacht, sondern basiere auf zahlreichen Vorgängerbildern, verfing nicht. Im Mai 2024, fast zwei Jahre nach Beginn der „Causa Dieschburg“, bekam Zhang vor der Cour d’Appel Recht: Der Luxemburger Maler darf die linke Tafel seines Diptychons nicht mehr ausstellen und musste Zhang 3.000 Euro zahlen. Seine Forderung von 10.000 Euro an die Fotografin wegen „procédure abusive et vexatoire“ (Vogel: „Eine Lynchkampagne ohne Beispiel!“) wiesen die Richter ab.
Alles geklärt also? Nicht ganz. Denn es ging beim Dieschburg-Prozess um weit mehr als ein Foto und ein Ölgemälde, das für ein paar Tage in einem Luxemburger Gemeindehaus hing und jetzt nicht mehr gezeigt werden darf.
Lesen Sie auch:Die Affäre Dieschburg war von vorne bis hinten vermeidbar
Dieschburgs Sieg in der ersten Instanz hätte ernst zu nehmende Folgen für Fotografie und Werbebranche haben können, hätte das Urteil Bestand gehabt. Denn es wäre der Maler, der eine fremde Idee als seine eigene ausgab, als Sieger über die Fotografin hervorgegangen, die laut dieser Argumentation keine Künstlerin sein kann, weil sie sich auf die Technik verlässt.
Wer ist künftig noch Künstler?
Nicht nur Zhang hatte gewarnt, auch vor dem Hintergrund der sich damals bereits abzeichnenden entscheidenden Phase der KI-Revolution: Was wird eigentlich aus dem Künstler und seinem Werk, wenn jeder ohne eigene Idee oder sogar selbst erlerntes Handwerk etwas produzieren kann, das wie Kunst aussieht, aber keine ist? Diese Frage betrifft jetzt und künftig auch Maler wie Dieschburg, nicht nur Fotografen oder Autoren. Zumal Dieschburgs technische Fähigkeiten, im Gegensatz zu seiner Kreativität und künstlerischen Eigenständigkeit, nie zur Debatte standen – eine Technik, auf die er sich bei seiner Arbeit genauso verlässt, wie Zhang es bei ihrer tut. „Ein Künstler hat ein Konzept“, sonst sei er keiner – so formulierte es der Kunsthistoriker Paul di Felice im Wort-Interview damals.
Lesen Sie auch:Dieschburg vs Zhang: Das sagen die Experten
Die Kuratorin Danielle Igniti ging noch weiter und bezeichnete das Bild als Fälschung. Aber das sei gar nicht der wichtige Punkt: Die Art, wie der Fall skandalisiert werde, sei eine verpasste Chance, so Igniti: „Wir könnten so viel über Urheberrechte und Lizenzen lernen, über die Frage, was man als Künstler beachten muss, aber auch wie man von seiner Kunst in Luxemburg leben kann, darüber, wer eigentlich Künstler ist. Diese Debatte über Professionalisierung der Kunst hierzulande fehlt mir komplett.“
Jingna Zhang gründete im Dezember 2022 die Portfolio-Plattform Cara, bei der sogenanntes KI-Scraping ausgeschlossen ist. Künstliche Intelligenz soll also keinen Zugang zu den dort gezeigten Werken bekommen, um zum Beispiel damit trainiert zu werden und sie in Zukunft noch besser kopieren zu können. Auch diese Problematik ist eng mit der Urheberrechtsfrage verknüpft. Cara zählt – gerade wegen dieses „no scraping“-Versprechens – mittlerweile mehr als eine Million User.
Zhang hätte sicher einiges zu den von Igniti gestellten Fragen, erweitert um die Facette „Kunst und KI“, zu sagen gehabt. Wenn man ihr zugehört hätte.
Lesen Sie auch:Jingna Zhang: „Wer mein Bild nicht bezahlen will, soll selbst eins machen“
Die Sommerserie der Kulturredaktion beleuchtet „Kultur, die aneckt“. Am vorigen Montag haben wir an dieser Stelle über die Gründung der Escher Kulturfabrik berichtet.