Ist das russische Militärmanöver „Sapad 2025“ ein Vorwand, um Europa anzugreifen? General a.D. Harald Kujat erklärt, warum diese Diskussion nichts mit der Realität zu tun hat – und ob bald deutsche Soldaten in der Ukraine stationiert werden

Glaubt daran, dass Russland den Krieg beendet will: General a.D. Harald Kujat

Foto: Emmanuele Contini/Imago

Trotz aller Bemühungen aus dem Weißen Haus ist der Ukrainekrieg noch nicht zu Ende. Statt sich den diplomatischen Vorstößen von US-Präsident Donald Trump anzuschließen, werben Deutschland und Frankreich in einem an andere EU-Staaten übermittelten Positionspapier für neue Sanktionen, insbesondere gegen den russischen Energiesektor. Welche Rolle kann Europa in der Beilegung des Konfliktes spielen?

Der für seine scharfen Analysen bekannte General a.D. Harald Kujat ist überzeugt: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stand mehr als einmal einer Einigung mit Moskau im Weg. Mit dem Freitag spricht Kujat über die Verhandlungsbereitschaft Putins, das bevorstehende russische Militärmanöver „Sapad 2025“ – und die Frage, ob es in Deutschland noch Parteien gibt, die sich mit vollem Herzen der Friedenspolitik verschrieben haben.

der Freitag: Herr Kujat, sind Sie Optimist oder Pessimist?

Harald Kujat: Ich bin grundsätzlich optimistisch.

Sind Sie auch optimistisch, dass der Ukrainekrieg bald zu einem Ende kommt?

Ja. Ich habe den Eindruck, dass der amerikanische Präsident bemüht ist, einen Friedensschluss zwischen Russland und der Ukraine herbeizuführen. Obwohl ich zugeben muss: Unmittelbar nach dem Treffen von Wladimir Putin und Donald Trump in Anchorage war ich optimistischer als heute. Es ist völlig ungewiss, ob und wann es zu einem Treffen Putin-Selenskyj oder einem Dreiertreffen mit Trump kommt. Russland fordert ein schrittweises Vorgehen mit einer abgestimmten Tagesordnung und einer sorgfältigen Vorbereitung einer solchen Begegnung, mit vorgeschalteten Verhandlungen auf hoher Ebene. Der ukrainische Präsident wiederum verlangt, dass Russland vor einem Treffen die von der Ukraine ausgearbeiteten Sicherheitsgarantien akzeptiert.

Das ist ein Widerspruch, der sich nur sehr schwer auflösen lässt. Zumal obendrein die Europäer darauf bestehen, dass es zunächst zu einem Waffenstillstand kommt. Mit anderen Worten: Wir haben eine schwierige Lage. Es gibt eine Reihe von Hindernissen, die überwunden werden müssen. Gleichwohl denke ich, dass am Ende die Vernunft bei allen Beteiligten siegen wird.

Grundsätzlich glaube ich, dass Russland ein Interesse hat, den Krieg zu beenden

Am Wochenende hat Russland die Ukraine mit 810 Drohnen und einem Dutzend Raketen angegriffen. Manche folgern daraus, dass Putin aktuell keinen Frieden will. Sehen Sie das auch so?

Nein, das sehe ich nicht so. Der Kreml hat am 2. Juni der Ukraine ein Memorandum übergeben, in dem er seine Position für einen Waffenstillstand und für eine Friedenslösung dargelegt hat. Dass er vorgeschlagen hat, darüber bei dem Zusammentreffen der beiden Verhandlungsdelegationen in Istanbul zu sprechen, ist für mich ein Indiz dafür, dass Russland daran interessiert ist, diesen Krieg zu beenden. Es war Selenskyj, der es abgelehnt hat, über einen Waffenstillstand und ein Friedensabkommen zu verhandeln. Der ukrainische Präsident wollte ausschließlich über einen erneuten Gefangenenaustausch und die entführten Kinder sprechen. Diese Tatsache kam in unseren Medien etwas zu kurz. Russland versucht noch bis zu tatsächlichen Friedensverhandlungen die militärischen Ziele zu erreichen, die es sich gesetzt hat. Das ist insbesondere die Eroberung der vier Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson in ihren ehemaligen Verwaltungsgrenzen.

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Aber grundsätzlich glaube ich, dass Russland ein Interesse hat, den Krieg zu beenden. Nicht, weil die Sanktionen so schwerwiegend sind, dass die russische Wirtschaft zusammenbricht, wie das häufig dargestellt wird. Sondern aus geopolitischen Gründen: Russland hat durch den Krieg insbesondere im Südkaukasus, also in Aserbaidschan und Armenien, sehr stark an Einfluss eingebüßt. Es ist auch möglich, dass die militärische Auseinandersetzung zwischen Israel und dem Iran noch einmal aufflammt. Deshalb möchte Russland seine durch den Ukrainekrieg geschwächte geopolitische Handlungsfähigkeit zurückgewinnen.

Der Politologe Ivan Krastev hat kürzlich in der „Zeit“ das Szenario entworfen, dass es erst Ende des Jahres zu echten Friedensverhandlungen kommen wird, weil die russische Offensive noch erfolgreich sein dürfte, solange das Wetter gut ist.

Da ist was dran! Normalerweise verändern sich Ende September die Bodenverhältnisse in der Ukraine deutlich, und die Bewegung von mechanisierten Verbänden wird dann sehr schwierig. Selbstverständlich versuchen die Russen, diese Zeit, die noch verbleibt, zu nutzen, um größtmögliche Erfolge zu erzielen. Das sehe ich genauso wie Herr Krastev. Aber das bedeutet auf der anderen Seite eben auch, dass sich die Aussichten für konkrete Verhandlungen bald verbessern könnten. Zumal Präsident Trump angekündigt hat, in Kürze ein weiteres Gespräch mit Putin zu führen.

In der „Financial Times“ war kürzlich zu lesen, wie sich der Westen die Nachkriegsordnung vorstellt: Direkt an der Kontaktlinie soll eine entmilitarisierte Zone eingerichtet werden, in der neutrale Truppen patrouillieren; dahinter sind ukrainische Kräfte positioniert, ausgebildet und ausgerüstet von NATO-Staaten; weiter im Landesinneren dann eine von Europa gestellte „Abschreckungsgruppe“. Wie realistisch ist dieses Szenario?

Angeblich arbeitet die EU im Zusammenhang mit Sicherheitsgarantien an konkreten Plänen für die Entsendung multinationaler Truppen in die Ukraine nach dem Ende des Krieges, die von den USA unterstützt werden. Grundsätzlich gilt: Eine Friedensvereinbarung, einschließlich einer Regelung der Sicherheitsgarantien für die Ukraine, muss von den beiden Vertragsparteien, also Russland und der Ukraine, geschlossen werden. Sollte die Ukraine auf einer Regelung bestehen, wie sie anscheinend von einigen europäischen Staaten geplant und von Russland abgelehnt wird, gibt es keine Friedenslösung. Sollten dann dennoch Streitkräfte aus europäischen NATO-Staaten als „Rückversicherung“ der Ukraine stationiert werden, dann werden sie, wie Putin es formulierte, „legitime Ziele“. Diese europäischen Staaten würden das Risiko eingehen, dass es zu direkten Kampfhandlungen mit russischen Streitkräften kommt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dadurch sicherlich nicht der Beistand aller NATO-Verbündeten nach Artikel 5 des NATO-Vertrags ausgelöst wird.

Die öffentlichen Äußerungen in Deutschland werden immer unpatriotischer, je länger der Ukrainekrieg dauert

Wäre Deutschland kapazitätsmäßig überhaupt dazu in der Lage, Truppen in die Ukraine zu entsenden?

Ich habe vor einiger Zeit gelesen, dass Deutschland in diesem Fall ein Kontingent von 5.000 Soldaten stellen könnte. Dazu muss man wissen, dass man im Grunde genommen mit der dreifachen Anzahl rechnen muss: Man braucht immer ein Kontingent, das im Einsatz ist, ein Kontingent, das gerade aus dem Einsatz zurückgekommen ist, und ein weiteres Kontingent, das sich auf den Einsatz vorbereitet. Aber das Entscheidende ist eigentlich etwas ganz anderes.

Was denn?

Wir müssen uns doch fragen: Ist es im deutschen Interesse, dass es zu Kampfhandlungen zwischen deutschen und russischen Streitkräften kommen könnte? Ich habe den Eindruck, je länger dieser Krieg dauert und je mehr er sich dem Ende zuneigt, desto irrationaler werden die Abwägungen. Und entschuldigen Sie, aber ich muss das Wort jetzt auch mal in unserem Gespräch aussprechen: Die öffentlichen Äußerungen dazu werden auch immer unpatriotischer. Denn natürlich ist eine Konfrontation mit Russland nicht in unserem Interesse! Der Einzige, der das relativ klar zu sehen scheint, ist der bayerische Ministerpräsident. Er hat gesagt: Es ist für mich kaum vorstellbar, dass NATO-Truppen dort stationiert sind. Das hat er damit begründet, dass Russland eine solche Präsenz nicht akzeptieren würde, weil es sich faktisch um eine Vorstufe der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine handeln würde. Da hat Herr Söder absolut recht. Ich favorisiere nach wie vor den Einsatz einer UN-Blauhelmtruppe mit einem robusten Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta. Wenn sich Staaten wie China, Indien, Brasilien und Ägypten beteiligen würden, wäre dies eine gute Lösung. Insbesondere die Teilnahme Chinas hätte einen außerordentlich hohen Stabilisierungseffekt. Diese Option würde auch deshalb Sinn machen, weil die Ukraine den russischen Vorschlag in den Istanbuler Verhandlungen akzeptiert hatte, dass die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates Garantiemächte für die Sicherheit der Ukraine werden.

Ich halte es für völlig abwegig, aus dem Sapad-Manöver Vorbereitungen für einen Angriff auf ein NATO-Land abzuleiten

Vom 12. bis zum 16. September wird Russland in Belarus das Militärmanöver „Sapad 2025“ abhalten. Nun war oft zu lesen, dass dies die Vorbereitung eines Angriffs sein könnte. Der ukrainische Geheimdienst hat bereits die baltischen Staaten gewarnt. Haben Sie diese Sorge ebenfalls?

Nein. Dieses Manöver findet regulär alle vier Jahre statt. In diesem Jahr nehmen 13.000 Soldaten auf weißrussischem und 30.000 Soldaten auf russischem Territorium daran teil. Weißrussland hat die OSZE-Staaten angeblich bereits 2024 formell informiert. Russland hat dazu am 4. Juni 2025 eine offizielle Erklärung im „Forum for Security Co-operation“ der OSZE abgegeben. Alle 56 Teilnehmerstaaten des Wiener Dokuments wurden eingeladen, Beobachter zu entsenden. Zusätzlich sollen Militärattachés – auch aus NATO-Mitgliedsstaaten – beobachten. Das wurde auch öffentlich bekanntgegeben. Deshalb halte ich es für völlig abwegig, daraus Vorbereitungen für einen Angriff auf ein NATO-Land abzuleiten. Daran sieht man, wie wenig diese Diskussion mit der Realität zu tun hat.

Wie konnte es aus Ihrer Sicht zum Krieg in der Ukraine kommen?

Eigentlich müsste man mit dem Putsch im Februar 2014 beginnen, durch den der demokratisch gewählte ukrainische Präsident Janukowitsch aus dem Amt vertrieben wurde. Jeffrey Sachs hat die Vorgeschichte kürzlich sehr detailliert in einem Beitrag dargestellt. Im Dezember 2021 hat Russland einen Vertragsentwurf an die NATO und an die Vereinigten Staaten geschickt, in dem es darum ging, über Sicherheitsgarantien für Russland zu verhandeln. Der Westen war zu ernsthaften Verhandlungen nicht bereit, obwohl diese den Krieg hätten verhindern können. Daraufhin hat Russland durch die Konzentration starker militärischer Kräfte Druck aufgebaut, um diese Verhandlungen zu erzwingen. Das ist eine Erklärung.

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Es wird ja immer von einem „umfassenden Angriff auf die Ukraine“ gesprochen. Tatsächlich hat dann Russland eine Invasion mit etwa 170.000 Soldaten durchgeführt, und zwar gegen eine ukrainische Armee von über 400.000 Soldaten, die acht Jahre lang vom Westen modern ausgerüstet und ausgebildet worden war. Meine Theorie ist: Russland hat mit dem Angriff am 24. Februar 2022 versucht, die ukrainische Regierung ab- und eine russlandfreundliche Regierung einzusetzen. Offenbar beabsichtigte Russland, den früheren Oppositionsführer Wiktor Medwedtschuk als Nachfolger Selenskyjs einzusetzen. Das ist Russland nicht gelungen, und der Krieg dauert bis heute an. Nicht zuletzt, weil der Westen die Istanbuler Friedensverhandlungen konterkariert hat, obwohl der „Vertrag über die ständige Neutralität und Sicherheitsgarantien für die Ukraine“ vom 15. April weitgehend ausgehandelt war und das Ergebnis für Kiew sehr vorteilhaft gewesen wäre.

Dieser fürchterliche Krieg ist dreieinhalb Jahre von den Europäern genährt worden. Eine Ausnahme bildet nur einer: Viktor Orbán

Lassen Sie uns über mögliche Gebietsabtretungen der Ukraine sprechen. Der Rechtsprofessor Stefan Oeter hat letzte Woche in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ geschrieben: „Der klassische Modus des am ‚grünen Tisch‘ in den Hauptstädten vereinbarten Hin- und Herschiebens von Territorien ist mit einem selbstbestimmungsorientierten Völ­ker­recht postkolonialer Prägung nicht mehr vereinbar“. Was er meint: Wenn man über die Abgabe von Gebieten redet, dann muss in den betroffenen Gebieten darüber abgestimmt werden. Sehen Sie das auch so?

Absolut. Ich habe vor zwei Jahren einen Vorschlag für Friedensverhandlungen veröffentlicht und darin dafür plädiert, dass Referenden in diesen Gebieten durchgeführt werden. Dieser Vorschlag ist jedoch durch die Entwicklung der militärischen Lage überholt. Es wird ja immer wieder behauptet, dass die ukrainische Verfassung verbietet, ukrainisches Territorium abzutreten. Das ist einerseits richtig: Das Parlament und der Präsident sind laut ukrainischer Verfassung dazu verpflichtet, die territoriale Unteilbarkeit zu gewährleisten. Andererseits heißt es in Artikel 73, dass das Abtreten von Territorium ein gesamtstaatliches Referendum voraussetzt. Möglich wäre das also. Ein Referendum könnte nach Abschluss der Verhandlungen durchgeführt werden, bevor der Vertrag in Kraft tritt. Übrigens hat Selenskyj selbst vor einiger Zeit angeboten, ukrainisches Territorium an Russland abzutreten – wenn die Ukraine dafür die NATO-Mitgliedschaft erhielte. Das war natürlich völlig unrealistisch.

Sind Sie eigentlich Mitglied in einer Partei?

Nein.

Gibt es denn eine Partei in Deutschland, die Ihrer Meinung nach eine friedensorientierte Perspektive auf den Ukrainekrieg hat?

Ich kann nur Rückschlüsse aus dem ziehen, was ich in den Medien lese. Natürlich gibt es Einzelpersonen, die sich für Frieden einsetzen. Beispielsweise Peter Brandt, Horst Teltschik und Hajo Funke, mit denen ich 2023 einen konkreten Vorschlag für eine Friedenslösung veröffentlicht habe. Aber ich weiß nicht, ob eine Partei ähnliche Vorschläge gemacht hat. Dieser fürchterliche Krieg ist dreieinhalb Jahre von den USA und den Europäern genährt worden, die Diplomatie wurde suspendiert, und es wurde kein einziger Vorstoß unternommen, der zu einer Beilegung des Krieges geführt hätte. Eine Ausnahme bildet allerdings der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der in direkten Gesprächen mit Trump, Putin und Selenskyj versucht hat, einen Weg aus dieser Sackgasse zu finden. Er ist dafür maßlos kritisiert worden. Erst als Präsident Donald Trump ins Amt kam, bewegte sich etwas. Leider habe ich nicht den Eindruck, dass es in dieser Frage zu einem europäischen Schulterschluss mit der US-Administration gekommen wäre.

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Nehmen Sie an der Friedensdemo am 13. September teil, zu der unter anderem Sahra Wagenknecht aufruft?

Nein. Aber ich finde es außerordentlich wichtig, dass sich immer mehr Menschen der Gefahren bewusst werden, die von diesem Krieg ausgehen. Noch ist nicht völlig ausgeschlossen, dass aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine wird, der die Zukunft unseres europäischen Kontinents gefährdet. Nur wenn es für alle direkt oder indirekt Beteiligten eine dauerhafte, ihre Sicherheitsinteressen wahrende Friedenslösung gibt, kann eine kontinentale Sicherheits- und Friedensordnung entstehen, in der auch die Ukraine und Russland ihren Platz haben. Oder, wie es Gorbatschow einmal formulierte, das „gemeinsame Haus Europa“ geschaffen werden.

General a.D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. In dieser Funktion war er auch Vorsitzender des NATO-Russland-Rates, der NATO-Ukraine-Kommission und des Nordatlantischen Partnerschaftsrates der Generalstabschefs.

ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stand mehr als einmal einer Einigung mit Moskau im Weg. Mit dem Freitag spricht Kujat über die Verhandlungsbereitschaft Putins, das bevorstehende russische Militärmanöver „Sapad 2025“ – und die Frage, ob es in Deutschland noch Parteien gibt, die sich mit vollem Herzen der Friedenspolitik verschrieben haben.der Freitag: Herr Kujat, sind Sie Optimist oder Pessimist?Harald Kujat: Ich bin grundsätzlich optimistisch.Sind Sie auch optimistisch, dass der Ukrainekrieg bald zu einem Ende kommt?Ja. Ich habe den Eindruck, dass der amerikanische Präsident bemüht ist, einen Friedensschluss zwischen Russland und der Ukraine herbeizuführen. Obwohl ich zugeben muss: Unmittelbar nach dem Treffen von Wladimir Putin und Donald Trump in Anchorage war ich optimistischer als heute. Es ist völlig ungewiss, ob und wann es zu einem Treffen Putin-Selenskyj oder einem Dreiertreffen mit Trump kommt. Russland fordert ein schrittweises Vorgehen mit einer abgestimmten Tagesordnung und einer sorgfältigen Vorbereitung einer solchen Begegnung, mit vorgeschalteten Verhandlungen auf hoher Ebene. Der ukrainische Präsident wiederum verlangt, dass Russland vor einem Treffen die von der Ukraine ausgearbeiteten Sicherheitsgarantien akzeptiert.Das ist ein Widerspruch, der sich nur sehr schwer auflösen lässt. Zumal obendrein die Europäer darauf bestehen, dass es zunächst zu einem Waffenstillstand kommt. Mit anderen Worten: Wir haben eine schwierige Lage. Es gibt eine Reihe von Hindernissen, die überwunden werden müssen. Gleichwohl denke ich, dass am Ende die Vernunft bei allen Beteiligten siegen wird.Grundsätzlich glaube ich, dass Russland ein Interesse hat, den Krieg zu beendenAm Wochenende hat Russland die Ukraine mit 810 Drohnen und einem Dutzend Raketen angegriffen. Manche folgern daraus, dass Putin aktuell keinen Frieden will. Sehen Sie das auch so?Nein, das sehe ich nicht so. Der Kreml hat am 2. Juni der Ukraine ein Memorandum übergeben, in dem er seine Position für einen Waffenstillstand und für eine Friedenslösung dargelegt hat. Dass er vorgeschlagen hat, darüber bei dem Zusammentreffen der beiden Verhandlungsdelegationen in Istanbul zu sprechen, ist für mich ein Indiz dafür, dass Russland daran interessiert ist, diesen Krieg zu beenden. Es war Selenskyj, der es abgelehnt hat, über einen Waffenstillstand und ein Friedensabkommen zu verhandeln. Der ukrainische Präsident wollte ausschließlich über einen erneuten Gefangenenaustausch und die entführten Kinder sprechen. Diese Tatsache kam in unseren Medien etwas zu kurz. Russland versucht noch bis zu tatsächlichen Friedensverhandlungen die militärischen Ziele zu erreichen, die es sich gesetzt hat. Das ist insbesondere die Eroberung der vier Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson in ihren ehemaligen Verwaltungsgrenzen.Placeholder image-1Aber grundsätzlich glaube ich, dass Russland ein Interesse hat, den Krieg zu beenden. Nicht, weil die Sanktionen so schwerwiegend sind, dass die russische Wirtschaft zusammenbricht, wie das häufig dargestellt wird. Sondern aus geopolitischen Gründen: Russland hat durch den Krieg insbesondere im Südkaukasus, also in Aserbaidschan und Armenien, sehr stark an Einfluss eingebüßt. Es ist auch möglich, dass die militärische Auseinandersetzung zwischen Israel und dem Iran noch einmal aufflammt. Deshalb möchte Russland seine durch den Ukrainekrieg geschwächte geopolitische Handlungsfähigkeit zurückgewinnen.Der Politologe Ivan Krastev hat kürzlich in der „Zeit“ das Szenario entworfen, dass es erst Ende des Jahres zu echten Friedensverhandlungen kommen wird, weil die russische Offensive noch erfolgreich sein dürfte, solange das Wetter gut ist.Da ist was dran! Normalerweise verändern sich Ende September die Bodenverhältnisse in der Ukraine deutlich, und die Bewegung von mechanisierten Verbänden wird dann sehr schwierig. Selbstverständlich versuchen die Russen, diese Zeit, die noch verbleibt, zu nutzen, um größtmögliche Erfolge zu erzielen. Das sehe ich genauso wie Herr Krastev. Aber das bedeutet auf der anderen Seite eben auch, dass sich die Aussichten für konkrete Verhandlungen bald verbessern könnten. Zumal Präsident Trump angekündigt hat, in Kürze ein weiteres Gespräch mit Putin zu führen.In der „Financial Times“ war kürzlich zu lesen, wie sich der Westen die Nachkriegsordnung vorstellt: Direkt an der Kontaktlinie soll eine entmilitarisierte Zone eingerichtet werden, in der neutrale Truppen patrouillieren; dahinter sind ukrainische Kräfte positioniert, ausgebildet und ausgerüstet von NATO-Staaten; weiter im Landesinneren dann eine von Europa gestellte „Abschreckungsgruppe“. Wie realistisch ist dieses Szenario?Angeblich arbeitet die EU im Zusammenhang mit Sicherheitsgarantien an konkreten Plänen für die Entsendung multinationaler Truppen in die Ukraine nach dem Ende des Krieges, die von den USA unterstützt werden. Grundsätzlich gilt: Eine Friedensvereinbarung, einschließlich einer Regelung der Sicherheitsgarantien für die Ukraine, muss von den beiden Vertragsparteien, also Russland und der Ukraine, geschlossen werden. Sollte die Ukraine auf einer Regelung bestehen, wie sie anscheinend von einigen europäischen Staaten geplant und von Russland abgelehnt wird, gibt es keine Friedenslösung. Sollten dann dennoch Streitkräfte aus europäischen NATO-Staaten als „Rückversicherung“ der Ukraine stationiert werden, dann werden sie, wie Putin es formulierte, „legitime Ziele“. Diese europäischen Staaten würden das Risiko eingehen, dass es zu direkten Kampfhandlungen mit russischen Streitkräften kommt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dadurch sicherlich nicht der Beistand aller NATO-Verbündeten nach Artikel 5 des NATO-Vertrags ausgelöst wird.Die öffentlichen Äußerungen in Deutschland werden immer unpatriotischer, je länger der Ukrainekrieg dauertWäre Deutschland kapazitätsmäßig überhaupt dazu in der Lage, Truppen in die Ukraine zu entsenden?Ich habe vor einiger Zeit gelesen, dass Deutschland in diesem Fall ein Kontingent von 5.000 Soldaten stellen könnte. Dazu muss man wissen, dass man im Grunde genommen mit der dreifachen Anzahl rechnen muss: Man braucht immer ein Kontingent, das im Einsatz ist, ein Kontingent, das gerade aus dem Einsatz zurückgekommen ist, und ein weiteres Kontingent, das sich auf den Einsatz vorbereitet. Aber das Entscheidende ist eigentlich etwas ganz anderes.Was denn?Wir müssen uns doch fragen: Ist es im deutschen Interesse, dass es zu Kampfhandlungen zwischen deutschen und russischen Streitkräften kommen könnte? Ich habe den Eindruck, je länger dieser Krieg dauert und je mehr er sich dem Ende zuneigt, desto irrationaler werden die Abwägungen. Und entschuldigen Sie, aber ich muss das Wort jetzt auch mal in unserem Gespräch aussprechen: Die öffentlichen Äußerungen dazu werden auch immer unpatriotischer. Denn natürlich ist eine Konfrontation mit Russland nicht in unserem Interesse! Der Einzige, der das relativ klar zu sehen scheint, ist der bayerische Ministerpräsident. Er hat gesagt: Es ist für mich kaum vorstellbar, dass NATO-Truppen dort stationiert sind. Das hat er damit begründet, dass Russland eine solche Präsenz nicht akzeptieren würde, weil es sich faktisch um eine Vorstufe der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine handeln würde. Da hat Herr Söder absolut recht. Ich favorisiere nach wie vor den Einsatz einer UN-Blauhelmtruppe mit einem robusten Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta. Wenn sich Staaten wie China, Indien, Brasilien und Ägypten beteiligen würden, wäre dies eine gute Lösung. Insbesondere die Teilnahme Chinas hätte einen außerordentlich hohen Stabilisierungseffekt. Diese Option würde auch deshalb Sinn machen, weil die Ukraine den russischen Vorschlag in den Istanbuler Verhandlungen akzeptiert hatte, dass die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates Garantiemächte für die Sicherheit der Ukraine werden.Ich halte es für völlig abwegig, aus dem Sapad-Manöver Vorbereitungen für einen Angriff auf ein NATO-Land abzuleitenVom 12. bis zum 16. September wird Russland in Belarus das Militärmanöver „Sapad 2025“ abhalten. Nun war oft zu lesen, dass dies die Vorbereitung eines Angriffs sein könnte. Der ukrainische Geheimdienst hat bereits die baltischen Staaten gewarnt. Haben Sie diese Sorge ebenfalls?Nein. Dieses Manöver findet regulär alle vier Jahre statt. In diesem Jahr nehmen 13.000 Soldaten auf weißrussischem und 30.000 Soldaten auf russischem Territorium daran teil. Weißrussland hat die OSZE-Staaten angeblich bereits 2024 formell informiert. Russland hat dazu am 4. Juni 2025 eine offizielle Erklärung im „Forum for Security Co-operation“ der OSZE abgegeben. Alle 56 Teilnehmerstaaten des Wiener Dokuments wurden eingeladen, Beobachter zu entsenden. Zusätzlich sollen Militärattachés – auch aus NATO-Mitgliedsstaaten – beobachten. Das wurde auch öffentlich bekanntgegeben. Deshalb halte ich es für völlig abwegig, daraus Vorbereitungen für einen Angriff auf ein NATO-Land abzuleiten. Daran sieht man, wie wenig diese Diskussion mit der Realität zu tun hat.Wie konnte es aus Ihrer Sicht zum Krieg in der Ukraine kommen?Eigentlich müsste man mit dem Putsch im Februar 2014 beginnen, durch den der demokratisch gewählte ukrainische Präsident Janukowitsch aus dem Amt vertrieben wurde. Jeffrey Sachs hat die Vorgeschichte kürzlich sehr detailliert in einem Beitrag dargestellt. Im Dezember 2021 hat Russland einen Vertragsentwurf an die NATO und an die Vereinigten Staaten geschickt, in dem es darum ging, über Sicherheitsgarantien für Russland zu verhandeln. Der Westen war zu ernsthaften Verhandlungen nicht bereit, obwohl diese den Krieg hätten verhindern können. Daraufhin hat Russland durch die Konzentration starker militärischer Kräfte Druck aufgebaut, um diese Verhandlungen zu erzwingen. Das ist eine Erklärung.Placeholder image-2Es wird ja immer von einem „umfassenden Angriff auf die Ukraine“ gesprochen. Tatsächlich hat dann Russland eine Invasion mit etwa 170.000 Soldaten durchgeführt, und zwar gegen eine ukrainische Armee von über 400.000 Soldaten, die acht Jahre lang vom Westen modern ausgerüstet und ausgebildet worden war. Meine Theorie ist: Russland hat mit dem Angriff am 24. Februar 2022 versucht, die ukrainische Regierung ab- und eine russlandfreundliche Regierung einzusetzen. Offenbar beabsichtigte Russland, den früheren Oppositionsführer Wiktor Medwedtschuk als Nachfolger Selenskyjs einzusetzen. Das ist Russland nicht gelungen, und der Krieg dauert bis heute an. Nicht zuletzt, weil der Westen die Istanbuler Friedensverhandlungen konterkariert hat, obwohl der „Vertrag über die ständige Neutralität und Sicherheitsgarantien für die Ukraine“ vom 15. April weitgehend ausgehandelt war und das Ergebnis für Kiew sehr vorteilhaft gewesen wäre.Dieser fürchterliche Krieg ist dreieinhalb Jahre von den Europäern genährt worden. Eine Ausnahme bildet nur einer: Viktor OrbánLassen Sie uns über mögliche Gebietsabtretungen der Ukraine sprechen. Der Rechtsprofessor Stefan Oeter hat letzte Woche in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ geschrieben: „Der klassische Modus des am ‚grünen Tisch‘ in den Hauptstädten vereinbarten Hin- und Herschiebens von Territorien ist mit einem selbstbestimmungsorientierten Völ­ker­recht postkolonialer Prägung nicht mehr vereinbar“. Was er meint: Wenn man über die Abgabe von Gebieten redet, dann muss in den betroffenen Gebieten darüber abgestimmt werden. Sehen Sie das auch so?Absolut. Ich habe vor zwei Jahren einen Vorschlag für Friedensverhandlungen veröffentlicht und darin dafür plädiert, dass Referenden in diesen Gebieten durchgeführt werden. Dieser Vorschlag ist jedoch durch die Entwicklung der militärischen Lage überholt. Es wird ja immer wieder behauptet, dass die ukrainische Verfassung verbietet, ukrainisches Territorium abzutreten. Das ist einerseits richtig: Das Parlament und der Präsident sind laut ukrainischer Verfassung dazu verpflichtet, die territoriale Unteilbarkeit zu gewährleisten. Andererseits heißt es in Artikel 73, dass das Abtreten von Territorium ein gesamtstaatliches Referendum voraussetzt. Möglich wäre das also. Ein Referendum könnte nach Abschluss der Verhandlungen durchgeführt werden, bevor der Vertrag in Kraft tritt. Übrigens hat Selenskyj selbst vor einiger Zeit angeboten, ukrainisches Territorium an Russland abzutreten – wenn die Ukraine dafür die NATO-Mitgliedschaft erhielte. Das war natürlich völlig unrealistisch.Sind Sie eigentlich Mitglied in einer Partei?Nein.Gibt es denn eine Partei in Deutschland, die Ihrer Meinung nach eine friedensorientierte Perspektive auf den Ukrainekrieg hat?Ich kann nur Rückschlüsse aus dem ziehen, was ich in den Medien lese. Natürlich gibt es Einzelpersonen, die sich für Frieden einsetzen. Beispielsweise Peter Brandt, Horst Teltschik und Hajo Funke, mit denen ich 2023 einen konkreten Vorschlag für eine Friedenslösung veröffentlicht habe. Aber ich weiß nicht, ob eine Partei ähnliche Vorschläge gemacht hat. Dieser fürchterliche Krieg ist dreieinhalb Jahre von den USA und den Europäern genährt worden, die Diplomatie wurde suspendiert, und es wurde kein einziger Vorstoß unternommen, der zu einer Beilegung des Krieges geführt hätte. Eine Ausnahme bildet allerdings der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der in direkten Gesprächen mit Trump, Putin und Selenskyj versucht hat, einen Weg aus dieser Sackgasse zu finden. Er ist dafür maßlos kritisiert worden. Erst als Präsident Donald Trump ins Amt kam, bewegte sich etwas. Leider habe ich nicht den Eindruck, dass es in dieser Frage zu einem europäischen Schulterschluss mit der US-Administration gekommen wäre.Placeholder image-3Nehmen Sie an der Friedensdemo am 13. September teil, zu der unter anderem Sahra Wagenknecht aufruft?Nein. Aber ich finde es außerordentlich wichtig, dass sich immer mehr Menschen der Gefahren bewusst werden, die von diesem Krieg ausgehen. Noch ist nicht völlig ausgeschlossen, dass aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine wird, der die Zukunft unseres europäischen Kontinents gefährdet. Nur wenn es für alle direkt oder indirekt Beteiligten eine dauerhafte, ihre Sicherheitsinteressen wahrende Friedenslösung gibt, kann eine kontinentale Sicherheits- und Friedensordnung entstehen, in der auch die Ukraine und Russland ihren Platz haben. Oder, wie es Gorbatschow einmal formulierte, das „gemeinsame Haus Europa“ geschaffen werden.