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Die IPC-Initiative hat im August für einen Teil des Gazastreifens eine Hungersnot festgestellt. Die israelische Regierung behauptet, die IPC habe dafür ihre Kriterien gesenkt. Doch das ist falsch.
Von Alice Echtermann, NDR Verifikation, Sarah Schmidt, Deutschlandradio, und Christian Saathoff, ARD-Faktenfinder
Am 22. August 2025 wurde für einen Teil des Gazastreifens die höchste IPC-Warnstufe „Hungersnot“ erklärt. Die IPC-Standards sind ein System, um Ernährungskrisen weltweit einzustufen. Israel reagierte schnell: Noch am selben Tag behauptete das israelische Außenministerium: Die Kriterien seien nur für Gaza gesenkt worden und die Verantwortlichen dahinter hätten ihre eigenen Standards manipuliert, um eine Hungersnot zu „fingieren“.
In anderen Ländern ziehe man als Grenzwert für eine Hungersnot 30 Prozent Unterernährung bei Kindern heran, in Gaza nur 15 Prozent. Doch diese Darstellung stimmt nicht. Tatsächlich bezieht sich die israelische Regierung hier offenbar auf Grenzwerte von zwei völlig verschiedenen Methoden zur Erhebung von Unterernährung. Eine Anfrage des ARD-Faktenfinder ließ die israelische Regierung unbeantwortet.
Methodik wurde schon in anderen Fällen verwendet
Bei der Bewertung der Lage in Gaza wird eine Methodik angewendet, die auch zuvor schon 2024 im Sudan und 2020 im Südsudan genutzt wurde. Es handelt sich um eine vereinfachte Form der Datenerhebung, die laut IPC-Standards seit 2019 ausdrücklich in Kriegs- und Krisengebieten erlaubt ist. Die Standards wurden also nicht für Gaza verändert oder gar gesenkt.
Insgesamt wird eine Hungersnot nach den IPC-Standards nur selten festgestellt. In den vergangenen rund 15 Jahren nur in insgesamt vier Fällen. IPC ist die Abkürzung für Integrated Food Security Phase Classification. Es handelt sich dabei um eine Methodik, nach der Ernährungsunsicherheit erfasst und auf einer fünfstufigen Skala dargestellt wird – die höchste Stufe lautet „Hungersnot“.
Mitglieder der IPC-Initiative sind internationale Organisationen wie das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, das Kinderhilfswerk UNICEF und die Weltgesundheitsorganisation WHO. Geleitet wird die Initiative von den Vereinten Nationen.
Genaue Vorgaben für Feststellung einer Hungersnot
Für die Einstufung einer Region nach der IPC-Skala werden viele verschiedene Faktoren berücksichtigt. Zum Beispiel Sterbefallzahlen, Veränderungen der Lebensumstände und der Ernährungszustand betroffener Menschen. IPC ruft eine Hungersnot aus, wenn 20 Prozent der Haushalte eines Gebiets unter extremer Nahrungsmittelknappheit leiden, wenn pro Tag zwei bis vier Menschen pro 10.000 Einwohner an den Folgen des Hungers sterben, und wenn ein bestimmter Anteil von Kindern unterernährt ist.
Der Wert, mit dem die Anzahl unterernährter Kinder in Gaza bestimmt wurde, ist der sogenannte MUAC-Wert. Die Abkürzung steht für „Mid Upper Arm Circumference“ – also den Umfang des Oberarms. Die Grenze, ab der eine Hungersnot auf Grundlage des MUAC-Wertes erklärt werden kann, liegt bei 15 Prozent unterernährten Kindern unter fünf Jahren. Laut IPC-Handbuch ist der MUAC-Wert vor allem in Notfallsituationen verbreitet und darf nur unter Berücksichtigung des Kontexts und weiterer Faktoren zur Feststellung einer Hungersnot genutzt werden.
Zwei verschiedene Messwerte
Außerhalb von Notsituationen bevorzugt die IPC-Methodik einen anderen Messwert: WHZ – „Weight-for-Height Z-Score“. Er beschreibt das Verhältnis von Gewicht zu Größe. Hier gilt ein Anteil unterernährter Kinder von mehr als 30 Prozent als Grenze für eine Hungersnot. Der WHZ-Wert ist im Vergleich zur Messung des Oberarmumfangs aufwendiger zu erheben – und darum in Krisengebieten schwieriger anzuwenden.
Jede IPC-Einstufung einer Hungersnot wird noch einmal von einem unabhängigen Expertengremium namens „Famine Review Comittee“ überprüft. In der Überprüfung des Gaza-Berichts wird erklärt: Liegen beide Werte vor, sei WHZ zu bevorzugen. Der MUAC-Grenzwert ist weniger genau – ein Anteil von über 15 Prozent allein genüge hier nicht, um zwischen IPC- Kategorie 4 (Notfall) und 5 (Hungersnot) zu unterscheiden. Deshalb werde der Wert immer in Verbindung mit anderen Faktoren und dem Gesamtkontext benutzt.
Diese weiteren Faktoren werden in dem Gaza-Bericht vom 22. August 2025 aufgeführt. Es wurden zum Beispiel seit Ende 2023 mehr als 11.500 Telefoninterviews in Gaza durchgeführt. Zudem wurden Verfügbarkeit von Lebensmitteln, Marktpreise und Zugang zu Wasser oder Sanitäranlagen berücksichtigt und Schätzungen zur Sterblichkeit durchgeführt. Belastbare Sterbefalldaten lägen aus Gaza nicht vor, heißt es im IPC-Bericht.
Datenerhebung unter schwierigen Bedingungen
Die IPC-Initiative erklärt zudem, Versuche, in Gaza die aussagekräftigeren WHZ-Daten von Kindern zu erheben, seien wiederholt aufgrund des eskalierenden Konflikts gescheitert. Für eine solche Erhebung müssten Teams länger vor Ort sein, was zu gefährlich sei.
Dass in Gaza nur Daten zum Oberarmumfang und nicht zum bevorzugten Größen-Gewichts-Verhältnis erhoben wurden, hängt also mit den Bedingungen zusammen, unter denen humanitäre Helfer vor Ort arbeiten. Thorsten Schroer, der für die Hilfsorganisation „Cadus“ über mehrere Wochen in Gaza im Einsatz war, beschreibt die Situation vor Ort als „extrem gefährlich.“
Es sei unmöglich für humanitäre Helfer, sich in Gaza frei zu bewegen, da dort überall immer wieder Angriffe stattfänden. Außerdem seien große Teile des Gazastreifens nur mit Genehmigung der israelischen Armee zugänglich, die nicht immer erteilt würde. Der Zugang zur hilfsbedürftigen Bevölkerung sei dadurch stark eingeschränkt.
Grundsätzliche wissenschaftliche Kritik
Inzwischen überlagern andere Argumente die Debatte um den IPC-Bericht. Die israelische Regierung verbreitet nun nicht mehr vorrangig die falsche Behauptung über die Senkung der Anforderungen, sondern übt grundsätzliche Kritik an der Methodik. So behauptet sie in einer auf einer eigens angelegten Sonder-Webseite, der MUAC-Grenzwert dürfe für den Nahen Osten nicht bei 15 Prozent liegen, er müsse höher sein.
Laut Lukas Kornher, Experte für Ernährungssicherheit und Forscher am German Institute of Development and Sustainability (IDOS), ist die Kritik aus wissenschaftlicher Sicht teilweise berechtigt. Die IPC-Initiative argumentiert, ein WHZ-Wert von 30 Prozent entspreche etwa dem MUAC-Wert von 15 Prozent (Verhältnis 2:1).
Laut Kornher lässt sich das aber so pauschal nicht umrechnen. Eine Studie von 2019, auf die sich die IPC-Initiative selbst auch als Quelle bezieht, kommt für die Region Naher Osten genau genommen auf ein Verhältnis von 1,85:1 und nicht 2:1. Hierfür wurde ein Mittelwert für die Länder Irak, Jordanien und Jemen berechnet.
Experte: genaue Prozentzahl nicht entscheidend
Kornher betont jedoch auch, dass es bei der Einschätzung einer Gesamtsituation auf die genauen Prozentpunkte nicht ankomme. Man versuche mit solchen Datenanalysen immer nur, Wahrscheinlichkeiten einzugrenzen. „Ob wir 29 Prozent oder 30 Prozent haben, ist den Hungernden egal“, so Kornher.
Alle Modelle hätten ihre Unsicherheiten, erklärt Kornher. Aber sie seien über längere Zeiträume angewendet gut, um Entwicklungen abzubilden. Der IPC-Bericht für Gaza bezieht sich auf Daten, die seit November 2023 fortlaufend erhoben wurden, und argumentiert vor allem auch mit einer rapiden Verschlechterung der Ernährungssituation. So hätte sich der Anteil unterernährter Kinder nach dem MUAC-Wert in einem Teil des Gaza-Streifens seit Mai 2025 verdreifacht.
Die israelische Regierungsorganisation COGAT, die für die Versorgung des Gazastreifens zuständig ist, betont, Israel habe Maßnahmen ergriffen, um die Lage dort zu stabilisieren, und die Hilfslieferungen im Vergleich zu den Vormonaten erhöht. Hilfsorganisationen wie „Cadus“ kritisieren, seit Monaten kämen nicht genügend Lebensmittel in den Gazastreifen.
Millionenschwere PR-Kampagne im Hintergrund
Die israelische Webseite mit den Vorwürfen gegen den IPC-Bericht wurde kürzlich bei Suchanfragen nach dem IPC auch als Werbeanzeige bei Google ausgespielt. Wie der Faktenfuchs des Bayerischen Rundfunks und Deutsche Welle Faktencheck berichten, finanziert die israelische Regierung seit Wochen eine Online-Kampagne, um Zweifel an der Hungersnot in Gaza zu streuen. Dafür wurden den Medienberichten zufolge seit Mitte Juni Verträge zwischen der “Israeli Government Advertising Agency“ und Google über mehr als 42 Millionen Euro abgeschlossen.
Laut br reagierte Google nicht auf eine Anfrage dazu. Die israelische Botschaft in Berlin verwies lediglich auf einen offenen Brief und einen X-Post des israelischen Außenministeriums. Darin kritisiert das Außenministerium die IPC für ihre Analyse der Lebensmittelversorgung in Gaza.