Berlin taz | Durch einen nächtlichen Anruf seiner Schwester Tamar aufgeschreckt, nimmt Gadi widerwillig in Zürich den nächstmöglichen Flug nach Israel. Sein Vater, den er 30 Jahre nicht gesehen hat, liegt in Jerusalem im Krankenhaus auf der Intensivstation im Sterben.

Nach dem Tod werden Gadi und Tamar in seinem Testament von einem ungewöhnlichen Anliegen überrascht. Zakai Mieche, ihr Vater, zu dem sie zu Lebzeiten kaum Kontakt hielten, bittet sie, wider das gängige jüdische Bestattungsritual, eine Hälfte seiner Asche in Israel zu beerdigen, den anderen Teil aber nach Bagdad zu bringen und unter der alten Brücke im Tigris zu verstreuen. Warum Bagdad?

Das ist die Ausgangssituation in Usama Al Shahmanis Roman „In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“, der von der zögerlichen Auseinandersetzung des Protagonisten mit der Biografie des Vaters und der Herkunft erzählt. Bis zu ihrer endgültigen Vertreibung 1950 aus dem Irak gehörte die Familie zur großen, jahrhundertealten jüdischen Gemeinde von Bagdad.

Zwei Jahre verbrachte er in Schweizer Flüchtlingsunterkünften, brachte sich selbst Deutsch bei, wurde zum Dolmetscher und Übersetzer

Usama Al Shahmani, 1971 in Bagdad geboren und heute in Zürich lebend, begann 2020 mit den Recherchen zu der historisch-fiktionalen Erzählung. Doch Einschränkungen der Coronapandemie und der Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel 2023 gefährdeten das literarische Projekt.

Die Kindheit des Vaters

2002 war der Autor vor dem Regime des damaligen Diktators Saddam Hussein aus dem Irak geflohen. Zwei Jahre verbrachte der sprachbegabte Literaturwissenschaftler anschließend in Schweizer Flüchtlingsunterkünften, brachte sich selbst Deutsch bei, wurde zum Dolmetscher und Übersetzer. Heute schreibt und veröffentlicht er in deutscher Sprache.

Aus dieser Herausforderung entwickelt er einen eigenen Stil, der eine geradlinige, präzise Sprache mit Elementen der arabischen Literaturtradition verbindet. „In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“ ist sein fünftes erzählendes Werk, das im Schweizer Limmat Verlag erscheint.

In seinem neuen Roman reist die Hauptfigur mit der Urne des Vaters schließlich nach Bagdad. Begleitet wird Gadi von ­Nedim, einem irakischen Freund aus Zürich. In Bagdad wohnen sie im Haus von Nedims Onkel ­Sabir und seiner Frau Myra, einer der letzten, unerkannt lebenden Jüdinnen im Land.

Die Gespräche mit der alten Dame helfen Gadi, eine Verbindung zu den hinterlassenen Aufzeichnungen des Vaters zu knüpfen, dessen Kindheitserinnerungen in das ehemals jüdische Viertel Betawin führen.

Der Roman

Usama Al Shahmani: „In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“. Limmat Verlag, Zürich 2025. 224 Seiten, 26 Euro.

Zakai Mieches Memoiren bilden die zweite Ebene in Al Shahmanis melancholischer Erzählung vom Verlust eines Orts und seiner Kultur. „Den Geschmack des morgendlichen Tees in Bagdad habe ich nie vergessen“, schreibt Gadis Vater wehmütig und hält an anderer Stelle sachlich fest: „Amin Husseini war es, der den Antisemitismus in Bagdad etabliert und die gesellschaftliche Stimmung dort für immer vergiftet hat. In der Stadt, die ihm einst Zuflucht geboten hatte, entfachte er damit einen Flächenbrand …“

Amin al-­Husseini, auch bekannt als Mufti von Jerusalem, unterhielt seit 1933 enge Kontakte zu den Nationalsozialisten in Berlin. Nach seiner Flucht aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina agitierte der islamisch-arabische Nationalist dann auch im Irak gegen Juden. Im November 1941 setzte er sich nach Nazideutschland ab, wo er über den Reichssender Berlin weiter Hass und Hetze in der arabischen Welt verbreitete.

Taktisches Bündnis mit den Nationalsozialisten

Detailreich schildert Al Shahmanis Roman die schicksalhaften Entwicklungen im Irak der 1930er und 1940er Jahre. Eine zentrale Rolle spielt in dieser Zeit das taktische Bündnis arabischer Nationalisten mit dem „Dritten Reich“ Adolf Hitlers. Gemeinsam einte sie die Feindschaft gegen die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien und deren angebliche Agenten, die Juden.

Die antisemitische Propaganda verfing. Am 1. Juni 1941 kam es zu einem zweitägigen Pogrom gegen die jüdischen Bewohner Bagdads, das als ­Farhud („gewalttätige Enteignung“) bekannt wurde. Umfangreiche historische Quellen lässt der irakischschweizerische Schriftsteller in seine Prosa einfließen und richtet so den Blick auf die komplexen Hintergründe jener Konflikte in der Region, die bis in die Gegenwart reichen.

„In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“ bemüht sich erfolgreich, diesem verdrängten Kapitel der irakischen Geschichte einen literarischen Raum zu eröffnen. Auch wenn die Fülle der verarbeiteten Informationen manchmal überwältigt und dadurch das Gleichgewicht der verschiedenen Erzählstränge gefährdet, bietet der Roman eine spannende und anregende Perspektive, die sich tastend zwischen Fiktion und Faktischem bewegt.