Straßburg. Wenn an diesem Mittwochmorgen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an das Rednerpult im Straßburger Parlament tritt, ist die Stimmung unter den Abgeordneten so schlecht wie lange nicht mehr. Die Unzufriedenheit ist groß – mit ihr, mit der EU, mit der Weltlage. In ihrer „Rede zur Lage der Union“ muss sie eine Zukunftsvision für die EU entwerfen. Dabei ist die Lage der Kommissionschefin selbst alles andere als stabil: Wächst von der Leyen die Vielzahl der Krisen gerade über den Kopf?

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Seit 2009 hat sich die jährliche Rede des Kommissionspräsidenten zu einer kleinen Tradition entwickelt. Doch dieses Mal geht es um mehr: „Es ist die wichtigste ‚Rede zur Lage der Union‘ seit ihrer Einführung“, sagt René Repasi, Vorsitzender der deutschen SPD-Abgeordneten. „Von der Leyen muss eine Antwort auf das liefern, was in dem Golfclub in Schottland beschlossen wurde.“ Es sei die letzte Chance, wieder gutzumachen, was dort schiefgelaufen sei.

Von der Leyen muss eine Antwort auf das liefern, was in dem Golfclub in Schottland beschlossen wurde.

René Repasi,

Vorsitzender der Europa-SPD

Ende Juli hatte die Kommissionschefin in einem schottischen Golfclub US-Präsident Donald Trump getroffen und einem weitreichenden Zollabkommen zugestimmt. Der Deal sieht vor, dass die USA auf fast alle EU-Produkte 15 Prozent Zoll erheben dürfen, während Europa im Gegenzug nahezu sämtliche Zölle auf US-Industriegüter streicht. Das EU-Parlament tobt: Der Vertrag sei einseitig, unfair und ein politisches Zugeständnis auf Kosten der europäischen Wirtschaft.

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„Was wir in diesem Sommer mit Trump und dem Zoll-Deal erlebt haben, darf sich nicht wiederholen – sonst wird es für Europa sehr schmerzhaft“, warnt Grünen-Fraktionschef Bas Eickhout. Von der Leyen müsse jetzt einen anderen Ton anschlagen.

Dass sie aus einer Position der Schwäche heraus verhandelte, darüber herrscht Einigkeit. Zwar ist die EU ökonomisch vergleichsweise stark, doch sicherheitspolitisch schwach. Die Furcht vor einem abrupten US-Truppenabzug oder mangelnder Unterstützung für die Ukraine hat die Europäer erpressbar gemacht. Am Ende waren sich die EU-Staaten nur noch in einem einig: Hauptsache, der Zollstreit ist schnell vorbei.

„Dieser Deal hat gezeigt, dass die EU eine Gemeinschaft des kleinsten gemeinsamen Nenners ist“, so Repasi. Jetzt erwarteten die Abgeordneten von der Kommissionspräsidentin Antworten darauf, wie sie verhindern will, dass Europa erneut aus einer solchen Schwächeposition heraus verhandeln muss.

US-Radar

Was die Vereinigten Staaten bewegt: Die USA-Experten des RND ordnen ein und liefern Hintergründe. Jeden zweiten Dienstag.

Ob von der Leyen im EU-Parlament überhaupt eine Mehrheit für den Zollpakt erhält, ist offen. Ein Abkommen, das gegen die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) verstößt, sei nicht tragbar. Einige suchen nach Schlupflöchern im Vertrag, die sich zugunsten der EU für Verhandlungen nutzen lassen.

Milder urteilt Roderick Kefferpütz, Direktor des EU-Büros der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Brüssel. „Von der Leyen muss aus diesem Chaos das Beste machen“, sagt er. „Sie hat mit den USA Schadensbegrenzung betrieben, das Handelsabkommen mit Mercosur vorangebracht, globale Partnerschaften ausgebaut und einen milliardenschweren Verteidigungsfonds aufgesetzt.“ Wer von der Leyen nun einfach als Sündenbock nutzen will, mache es sich zu einfach: Eine Kommissionspräsidentin sei nur so stark wie die Unterstützung, die sie aus den Hauptstädten und vom Parlament erhalte.

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Vielen EU-Abgeordneten dämmert längst: Europa ist nicht mehr dasselbe. In der neuen Weltordnung sind die USA nicht mehr Partner der EU; das alte, einflussreiche Europa scheint verschwunden. Viele vermissen Führung in diesen unsicheren Zeiten. Für sie ist von der Leyen zu einer Getriebenen der Dauerkrisen geworden.

Beispiel Nahost: Sozialdemokraten, Grüne und Linke werfen der Kommissionspräsidentin vor, zur humanitären Katastrophe im Gazastreifen zu oft zu schweigen. „Die Untätigkeit der EU-Kommission angesichts eklatanter Verstöße gegen das Völkerrecht ist unerträglich“, schrieb ihr die sozialdemokratische Fraktionschefin Iratxe Garcia Perez in einem Brief. Die EU-Chefin müsse endlich neue Sanktionen gegen Israel vorlegen, egal ob es dafür die nötige Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten gibt oder nicht.

Konkret verlangt sie eine Kennzeichnungspflicht für Produkte aus israelischen Siedlungen. Für die Sozialdemokraten ist klar: Bloße Aufrufe zu Waffenruhe und mehr Hilfslieferungen reichen nicht mehr. Jetzt sei endlich mehr nötig. Viele Abgeordnete verlangen von der Kommissionspräsidentin jene Führungsstärke, die sie im Ukrainekrieg gezeigt hatte. Von Doppelstandards im Umgang mit Israel ist die Rede.

Wenn das Schiff im Sturm schwankt, wirft man nicht den Kapitän über Bord.

Roderick Kefferpütz,

Direktor der Böll-Stiftung in Brüssel zu Misstrauensanträgen

Linke und Rechtsextreme sammeln bereits Unterschriften für eigene Misstrauensanträge gegen von der Leyen. Erst kurz vor der Sommerpause hatte die Kommissionschefin einen solchen überstanden – schon damals nur mit einem blauen Auge: Sie entging zwar der Niederlage, musste sich aber offener Kritik stellen und Zugeständnisse machen.

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„Einen erneuten Misstrauensantrag gegen sie zu stellen, schwächt nicht von der Leyen, sondern Europa“, mahnt EU-Experte Kefferpütz von der Böll-Stiftung. „Wenn das Schiff im Sturm schwankt, wirft man nicht den Kapitän über Bord.“