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Die EU-Kommissionspräsidentin ist massiv unter Druck geraten. Trump-Deal und Gaza-Kritik schwächen von der Leyen. Neue Misstrauensanträge folgen.
Brüssel – Die alljährliche Ansprache zur Lage der Europäischen Union stellt traditionell einen wichtigen Moment der EU-Demokratie dar. Dabei definiert Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre Schwerpunkte für das folgende Jahr, blickt auf das vergangene Jahr zurück und verkündet neue Initiativen. Der Ansprache folgt eine Plenardebatte im Europäischen Parlament, um die Rechenschaftspflicht zu verstärken. Diese als SOTEU (State of the European Union Speech) bekannte Rede markiert den Start der Arbeitssaison nach den Sommerferien und bestimmt den politischen Kurs für die kommenden zwölf Monate. Doch diesmal ist alles anders als gewöhnlich.
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Wenn von der Leyen am Mittwoch (10. September) vor das EU-Parlament tritt, findet sie sich in einer für sie unbekannten Situation wieder: in einer schwachen Position. Nach ihrer Wahl 2019 schaffte es die deutsche Politikerin schrittweise, sich ein Image als verlässliche und kompetente EU-Führungspersönlichkeit aufzubauen, die den Block durch turbulente Zeiten lenken konnte. Ende 2022 kürte das Magazin Forbes sie sogar zur einflussreichsten Frau der Welt. Doch in wenigen Monaten hat sich ihre Stellung dramatisch verschlechtert, da sie von sämtlichen Seiten des politischen Spektrums Vorwürfen und Kritik ausgesetzt ist.
Von der Leyen in der Krise: Kommissionspräsidentin vor schwieriger SOTEU-Rede
Im Juli sah sich die Kommissionspräsidentin genötigt, ihr Amt gegen einen Misstrauensantrag rechtsextremer Europaabgeordneter zu verteidigen – den ersten seit ihrem Amtsantritt. Der Antrag wurde aufgrund vermeintlicher finanzieller Unregelmäßigkeiten und fehlender Transparenz eingereicht. Obwohl sie ihn mit deutlichem Abstand überstand, befinden sich bereits zwei weitere separate Anträge in Vorbereitung, was einen bedrohlichen Ausblick auf das neue Arbeitsjahr eröffnet.
Die europäische Linke benötigt lediglich noch 26 Unterschriften für einen neuen Antrag im Oktober, der sie wegen eines Handelsabkommens mit Trump und ihrer mutmaßlichen Mitschuld an der humanitären Katastrophe in Gaza angreift. Das schädlichste Problem für von der Leyens Ansehen bildet jedoch das Handelsabkommen mit US-Präsident Donald Trump, das die gesamte Opposition mobilisiert hat.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen steht eine schwierige Rede bevor. © IMAGO/Eliot Blondet / Pool / BestimageVon der Leyens Kapitulation vor Trump: EU zahlt 750 Milliarden für umstrittenes Handelsabkommen
Nach den Bedingungen, die von der Leyen bei einem persönlichen Treffen mit Trump in Schottland aushandelte, unterliegen die meisten EU-Waren einem Zollsatz von 15 Prozent. US-Waren bleiben dagegen zollfrei. Außerdem verpflichtete sich die Union, 750 Milliarden Dollar für Energie aufzuwenden, 600 Milliarden in die US-Wirtschaft zu investieren und KI-Chips im Wert von 40 Milliarden Dollar zu erwerben. Die USA gingen keine vergleichbaren Verpflichtungen ein; pro-europäische Kräfte sehen das Abkommen als Kapitulation.
Ukraine-Krieg und Putin-Fans: EU-Kommissionspräsidentin vor Sicherheitsherausforderung
Auch der Green Deal, ehemals ein Prestigeprojekt der EU, entzweit die pro-europäische Koalition der Mitte zusätzlich. Von der Leyens eigene Europäische Volkspartei (EVP) hat eine umfangreiche Offensive eingeleitet, um die im Rahmen des Green Deal beschlossenen Rechtsvorschriften zur Emissionsreduzierung zu schwächen. Die EVP stimmte teilweise gemeinsam mit rechten und rechtsextremen Kräften ab, um dieses Ziel zu erreichen, und löste damit den Unmut der Sozialisten, Liberalen und Grünen aus. Dies wird als Verstoß gegen das Versprechen betrachtet, das von der Leyen vor ihrer Wiederwahl abgegeben hatte, eine strukturierte Kooperation mit der extremen Rechten zu verweigern.
Verschärft wird die Situation durch die geopolitische Lage, geprägt vom Ukraine-Krieg und Israels Handeln in Gaza. Angesichts eines zunehmend aggressiven Russlands, das als wachsende Gefahr für Europa insgesamt wahrgenommen wird, und eines nachlassenden Engagements der USA muss Europa größere Verantwortung für seine eigene Verteidigung übernehmen. Dies geschieht vor dem Hintergrund eines immer rechtslastigeren Europäischen Parlaments, in dem Mitglieder mit Moskaus Position sympathisieren, und zwei Mitgliedstaaten – Ungarn und die Slowakei – die aus ihrer Sympathie für den russischen Präsidenten Wladimir Putin kein Geheimnis machen.
Verteidigungsausgaben im Fokus: Von der Leyen will EU zur eigenständigen Militärmacht ausbauen
Der polnische Sender TVP vermutet daher, dass Sicherheit einen Fokus der Rede darstellen wird. Von der Leyen werde voraussichtlich die deutsche Forderung erneuern, dass Europa zu einem bedeutenden internationalen Akteur werden muss – politisch, wirtschaftlich und militärisch. Sie werde für erhöhte Verteidigungsausgaben und eine Erhöhung der Waffenproduktion der EU eintreten müssen. Neben Sicherheit und Umwelt werde die Wirtschaft ein weiteres wichtiges Thema sein, wobei von der Leyen wahrscheinlich versuchen werde, die Kritik an ihrem Handelsabkommen mit der Trump-Regierung zurückzuweisen.
Wie bei der SOTEU gewöhnlich werden Ankündigungen und symbolische Gesten im Zentrum stehen, meint Euronews – schließlich habe von der Leyen diese Plattform in der Vergangenheit genutzt, um wichtige Initiativen wie die europäische Gesundheitsunion 2020 oder den Chips Act 2021 zu verkünden. Die SOTEU habe sich aber auch zu einer „One-Woman-Show“ entwickelt, in der sie Ankündigungen macht, oft verbunden mit großzügigen Finanzzusagen wie dem 50-Milliarden-Euro-Pandemie-Vorbereitungsfonds oder der 3-Milliarden-Euro-Wasserstoffbank. Für Beobachter sei besonders interessant, was unerwähnt bleibt. Das sei schließlich ein ebenso aufschlussreicher Indikator für die politischen Prioritäten.