In der Nacht vom 9. auf den 10. September sind mutmaßlich 19 russische Drohnen in den polnischen Luftraum eingedrungen und wurden teilweise von der polnischen Luftwaffe abgeschossen. Der Zwischenfall soll sich im Rahmen einer groß angelegten russischen Luftkampagne gegen die Ukraine abgespielt haben, während derer nach ukrainischen Angaben mehr als 415 Drohnen und 42 Marschflugkörper von russischen Streitkräften gestartet worden sein sollen. Polen schloss kurzzeitig den eigenen Luftraum, stellte den zivilen Flugbetrieb an vier Flughäfen ein und warnte die eigene Bevölkerung in den Grenzregionen.
Inzwischen scheint sicher, dass es sich bei den abgeschossenen Drohnen um Geran-2 Drohnen russischer Fertigung handelte, einem Nachbau der bereits häufig im Krieg gegen die Ukraine eingesetzten iranischen Sahed-Drohnen.
Veröffentlichung der polnischen Streitkräfte zeigen eine F-16, diese Mehrzweckkampflugzeuge sollen in den Abschuss der Drohnen involviert gewesen seien. (Bild: X SztabGenWP)
Mobilisierung von NATO-Luftverteidigungsfähigkeiten
Als Reaktion auf das Eindringen feindlicher Flugkörper in polnischen Luftraum wurden mehrere Plattformen zur Abwehr und Detektion von Bedrohungen in höchste Alarmbereitschaft versetzt, darunter Radaraufklärung und bodenbasierte Flugabwehr. In der Region waren laut Daten des Dienstes Flight Radar und offiziellen Angaben unter anderem folgende Systeme aktiv:
- Polnische F-16 Fighting Falcon Mehrzweckkampfflugzeuge
- Niederländische F-35A Lightning II
- Eine italienische Gulfstream G-550 CAEW (Conformal Airborne Early Warning), gestartet aus Estland
- Mindestens eine F-35A Lightning II der US-Luftwaffe
- Ein Airbus A330 Multi-Role Tanker Transport (MRTT) der niederländischen Luftwaffe, möglicherweise für Luftbetankungen der F-35A
- Eine Saab 340 Airborne Early Warning and Control (AEW&C) Plattform der polnischen Luftwaffe
Politische Reaktionen
Das Kommando der polnischen Streitkräfte veröffentlichte in derselben Nacht ein Statement, in dem von einer Verletzung des Luftraums durch „drohnenartige Objekte“ und einer laufenden „Operation zur Identifizierung und Neutralisierung dieser Objekte“ gesprochen wird. Von den Aktivitäten der nächtlichen Operation sollen „Podlachien, Masowien und Lublin“ am stärksten betroffen gewesen sein. Polens Premierminister Donald Tusk sprach von einer „großen Zahl“ Drohnen und der Neutralisierung dieser „direkten Bedrohung“. Er sagte außerdem gegenüber dem polnischen Parlament, dass eine „signifikante Anzahl“ von Drohnen aus Belarus in den polnischen Luftraum eingedrungen seien. Er befinde sich auch in ständigem Kontakt mit NATO-Partnern.
Vertreter des belarussischen Verteidigungsministeriums behaupten, dass die Drohnen aufgrund von elektronischer Kriegsführung unabsichtlich in den polnischen Luftraum gelangt sind. Russlands staatliche Agentur RIA zitierte russische Diplomaten, die bisher noch keine „Beweise für russischen Ursprung“ der Drohnen sehen.
Der Flughafen Chopin kündigte in der Nacht kurzzeitig die Schließung des Luftraumes an. (Bild: X Chopin Airport)
Aktivierung von NATO-Artikel 4: Krisenkonsultationen statt Beistand
Tusk bestätigte im polnischen Parlament, dass Polen in Reaktion auf den Zwischenfall den Artikel 4 des NATO-Vertrags aktiviert hat. Dieser Artikel ermöglicht es jeder Vertragspartei, Konsultationen mit den Alliierten einzuleiten, wenn sie die Unversehrtheit ihres Gebiets, ihre politische Unabhängigkeit oder ihre Sicherheit bedroht sieht. Artikel 4 dient als Kriseninstrument zur Beratung und Eskalationsverhinderung, ohne automatisch militärische Maßnahmen auszulösen. Die Konsultationen finden im Nordatlantikrat statt.
Die Reichweite Radaraufklärung der gestarteten Saab 340 Airborne Early Warning and Control beträgt 300-400km. (Bild: CC1.0)
Sie können zu gemeinsamen Reaktionen führen – etwa verstärkter Präsenz, Luftüberwachung oder anderen Abschreckungsmaßnahmen –, geben jedoch keine Verpflichtung zur militärischen Intervention vor. Dieser Mechanismus steht im Gegensatz zu Artikel 5, der die kollektive Verteidigungsverpflichtung regelt und nur nach einstimmiger Entscheidung der Alliierten greifen kann.
Polnischer Drohnenabschuss: Neue Eskalationsstufe im Konflikt
Russische Drohnen drangen seit dem Start des Krieges in der Ukraine bereits mehrfach in den polnischen Luftraum ein. Als Aggression gegenüber Polen wurden solche Fälle bisher nicht gewertet. Doch eine so große Zahl an Flugkörpern ist bislang beispiellos. Auch markiert der direkte Abschuss von drei bis vier Drohnen einen Präzedenzfall indirekter Konfrontation zwischen der Russischen Föderation und einem NATO-Mitglied.
Jannis Düngemann