Iryna Sandalova hat den Baum mit den roten Äpfeln am Vorabend schon auf einer nahe gelegenen Streuobstwiese gefunden. Er wird heute noch eine Bedeutung haben. Jetzt aber schließt Sandalova erst mal die Tür. Und dann soll der Krieg keine Chance haben. Er muss für eine Weile draußen bleiben. Rein dürfen jetzt nur noch die Frauen. Und der selbstgebackene Kuchen, die vielen Kekse, die Weintrauben, die Äpfel und die Tomaten. Jede bringt etwas mit. Der Tisch ist voll beladen. Zwischen all dem stehen Kannen mit starkem schwarzen Tee und ein Sammelsurium an Tassen. Bevor die Runde startet, schlüpft eine der Frauen noch schnell in einen bunt gemusterten Rock, den sie mitgebracht hat. Kostümprobe. Die andere zieht ein Kleid über die Jeans und hält einen dicken Gehstock wie eine Kampfansage in die Höhe. Die beiden ziehen Grimassen, stellen sich in Pose und giggeln wie junge Mädchen.
(Lebens)Motiv: Alte, sehr muntere Tanten
Immer wieder schauen sie auf das Display ihres Handys und gleichen ihr Aussehen mit der Abbildung dort ab. Heute sind Anna und Ludmilla dran. Sie werden heute wie bei den Treffen vorher ein Bild nachstellen. Diesmal ist es eine Zeichnung der finnischen Zeichnerin Inge Löök aus deren leicht subversiver Serie „Alte Tanten“. Der Nachmittag wird auf einer Streuobstwiese enden. Unter jenem Apfelbaum, der genauso rote Früchte trägt, wie sie die Künstlerin auf ihrem Bild gezeichnet hat.
Die Frauen üben schon mal fürs Apfelbaumfoto. Foto: Lichtgut/Julian Rettig
Neudeutsch würde man das, was die Frauen tun, wohl Quality Time in unruhigen Zeiten nennen. Oder dass sie an ihrer Resilienz arbeiten. Denn die Frauen kommen alle aus der Ukraine, haben ihre Heimat in Folge des Angriffskriegs Russlands auf ihr Heimatland verlassen. Sie stammen wie Iryna Sandalova aus Mariupol, aus Kiew, dem Donezk oder Odessa. Sie waren Architektin, Mathematiklehrerin, Wasseringenieurin, Bibliothekarin oder Theaterpädagogin wie Iryna Sandalova. Sie leitet die Gruppe. Alle sind nach Deutschland gekommen, als sie bereits im Ruhestand waren. Das macht den Anschluss und das Ankommen schwerer als so schon. Iryna Sandalova ist mit ihren 59 Jahren die Jüngste im Kreis. Aber sie ist ja auch die Moderatorin der Gruppe.
Beunruhigende Kriegsnachrichten aus der Ukraine
„Moskau kündigt Herbstoffensive an“, „Russland stellt Bedingungen für Treffen mit Selenskyj“ oder „Die heftigsten Angriffe auf Kiew seit Beginn des Krieges“, so lauten die Schlagzeilen der vergangenen Tage. Die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer haben auch in Deutschland die App auf ihrem Mobiltelefon, die vor Drohnenangriffen warnt. Das auszublenden ist schwer. Denn jede hat Freunde oder Verwandte, auf die diese Angriffe zielen.
Die Kleider Stimmen – die Laune auch. Foto: Sandalova
Doch hier und heute verkriechen sie sich nicht etwa in einem Bunker. Ihr Schutzwall heißt „Radost“. Das bedeutet Freude und ist ihre sehr persönliche Abwehr gegen die traurigen Gedanken und den Trübsinn. „Radost“ ist der Name der Gruppe, unterstützt von Caritas, ursprünglich gedacht als Unterstützung beim Einleben in Deutschland. Einmal in der Woche treffen sie sich in Stuttgart-Birkach im Gruppenraum des Palotti-Quartiers. Iryna Sandalova hat die Gruppe von der Psychologin Natalija Romanowa übernommen – und den Sprung ins kalte Wasser gewagt.
Und ist dabei für die anderen gleich der lebende Beweis, dass man Ressourcen in sich wecken kann, wenn man sich auf Neues einlässt. Also fragt Sandalova heute in die Runde: Was habt Ihr hier in Deutschland zum ersten Mal getan in Eurem Leben? Alles ist ein Schritt in die Zukunft, das Betreten von Neuland – und das Entdecken von eigenen vielleicht unbekannten Fähigkeiten.
Faina besucht mit ihren 88 Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben einen Sprachkurs. Wenn auch gezwungener Maßen. Aber so wie sie es sagt, klingt es recht vergnügt. Valentina hat zum ersten Mal in einem Film über eine ukrainische Familie mitgespielt. Eine andere war zum ersten Mal in Paris, Ludmilla hat das Stricken angefangen –„Ein bisschen ist das wie Meditation“. Anna mit ihren 67 Jahren hat in Stuttgart mehr Freundinnen als in der Heimat. Sie geht mit den neugewonnenen Gefährtinnen ins Theater, ins Schwimmbad. Die Antworten gehen in einem Gelächter unter. Die neuen Verbündeten machen offenbar stark und stützen sich gegenseitig. Den Gedanken an die Rückkehr in die Ukraine lassen manche gar nicht erst aufkommen. „Meine Kinder leben über ganz Europa verstreut“, sagt eine der Frauen.
Kann man die Gedanken stoppen?
Trotz dieser dunklen Gedanken schaffen sie das Kunststück, in großer Runde nicht über das zu reden, was hinter ihnen liegt. In den knapp drei Stunden, die sie jede Woche in Birkach miteinander verbringen, sind sie im Jetzt. Lässt sich von Valentina, Ludmilla, Anna und den anderen Resilienz lernen? Oder steht der Krieg als weißer Elefant doch immer mit im Raum? Kann man das: abschalten und die Gedanken für einen Nachmittag stoppen? In der Nacht zuvor hat Russland die Ukraine wieder mit Drohnen angegriffen. Als die Frauen zusammenkommen, melden die Nachrichten bereits 19 geborgene Tote. Am Ende werden es 23 Tote sein.
Oben auf der Treppe steht die 88-jährige Faina. Foto: Sandalova
Die Frauen halten dagegen. Swetlana aus der Nähe von Butscha, die vorher nie gesungen hat, singt nun in einem Chor. Butscha, das ist der Ort mit einem der schlimmsten Massaker an der Zivilbevölkerung. Die Musik, die Stimme, die Atmung haben Swetlana die Unruhe genommen, sagt sie. Valentina, es gibt drei Valentinas in der Gruppe, geht einmal in der Woche in die Atemgymnastik und tanzt jetzt Bachatta, einen lateinamerikanischen Tanz. Und dann sagt sie noch offen, dass sie in Deutschland zum ersten Mal in ihrem Leben psychologische Hilfe in Anspruch genommen hat. Ein mutiges und vielleicht ja auch Mut machendes Statement. Iryna Sandalova nickt. Für ihre Nebensitzerin ist die Gruppe wichtig, um unter Menschen zu sein. Ihr Mann ist hier in Deutschland verstorben. Galina hat zum ersten Mal Rasen gemäht in Deutschland, Fanina hat bei einem Ausflug zum ersten Mal Bier probiert in Deutschland. Eine andere berichtet, dass sie zum ersten Mal im Neckar geschwommen sei. Das brauchte Mut, aber mit 65 Jahren hat sie sich getraut. Sie kommt aus Slawensk im Donezk.
Erste Reise durch Europa
Iryna hat ihren ersten Hirsch gesehen – und sie sagt das ironisch – mit der Fahrt von Mariupol nach Deutschland die lang erträumte Reise durch Europa gemacht. Humor gilt auch als ein wesentlicher Resilienzfaktor. Eine andere beschreibt ihren ersten Aufenthalt in einer Flüchtlingsunterkunft als durchaus gute Erfahrung. Die Leute waren freundlich und die Versorgung – auch die medizinische – sei gut gewesen. Dankbarkeit ist ein Gefühl, das alle ganz extrem empfinden. Es sind Erfahrungen, die sie einen.
Und nun stehen sie wieder davor, einen Moment fröhlicher Gemeinsamkeit zu schaffen. Sie ziehen los. Über einen gekiesten Feldweg laufen sie den Hang hinauf und dann über die Wiese zum Baum mit den roten Äpfel. Es wird ernst. Anna und Ludmilla schlüpfen in ihre Verkleidung. Die anderen halten Taschen, geben Kommandos. Sie arrangieren das Bild vom schelmischen Apfeldiebstahl. Und dann hält Iryna Sandalova diesen einen Moment, auf den sie alle schon den ganzen Nachmittag hingefiebert haben, in einem Foto fest. Sie sind im Jetzt. Der Krieg ist in diesem Moment nicht da.