Die Autorin Sabine Lemire kennen manche jungen Leser schon aus der Comic-Reihe mit Mira, die mit ihrer Familie auf einem Hausboot lebt. Aber Comics lassen sich nicht so gut vorlesen. Dabei wollen die Kleinen ja gern alles vorgelesen haben – abends zum Beispiel, vorm Schlafengehen. Und so gibt es die neue Reihe mit Geschichten von Sabine Lemire als richtig schönes Vorlesebuch.

Die Heldin ist diesmal Molly, die gleich im ersten Buch wohl eines der schrecklichsten Abenteuer erlebt, die einem als Schulkind passieren können: Sie kommt an eine neue Schule.

Was nun einmal auch bedeutet, dass sie alle ihre Freundinnen aus der alten Klasse verliert, außer Ellen vielleicht, die sie noch in Tanzkurs trifft. Aber wer in der Grundschule so etwas erlebt hat, weiß, was das bedeutet: Von heut auf morgen ist alles weg, was einem in Sachen Schule Halt gegeben hat – die ganzen Kinder aus der Klasse, die vertrauten Lehrer, das vertraute Schulgebäude, der vertraute Schulweg. Alles weg. Und in der neuen Klasse ist man auf einmal diejenige, die neu ist und nicht dazu gehört.

Da dürften auch Mama und Papa beim Vorlesen schlucken. Das ist einer der wichtigsten Gründe, der kleine und große Menschen heute so ratlos, haltlos und überfordert macht: das Gefühl, ständig in einer neuen Umgebung, mit fremden Leuten wieder Fuß fassen zu müssen. Da merkt man erst, wie wichtig eine stabile Umgebung ist und ein Kreis von Menschen, die einem vertraut sind.

Denn das ist ja nun einmal der große Webfehler in all diesen entfesselten Theorien von Mobilität und Flexibilität, mit denen Menschen geradezu zu Einzelkämpfern wider Willen gemacht werden: die Erwartung, Menschen würden einfach funktionieren und in der Selbstoptimierung immer besser und glücklicher werden. Und jederzeit überall einsetzbar sein.

Es ist die größte Lüge unserer Gegenwart.

Überwältigende Gefühle

Und wer Kinder hat, weiß, dass es gelogen ist. Und dass man Kindern möglichst stabile und vertraute Umgebungen schafft. Die Eingewöhnungszeit in der Kita kann zu einem wochenlangen Drama werden. Aber wenn die Kinder erst mal ihre Gruppe haben und ihre kleinen Freunde, ist nichts schlimmer, als wenn man ihnen auf einmal ankündigt, dass sie woanders hin müssen.

Und genauso ist es, wenn ein Mädchen wie Molly ihre alte Grundschulklasse verlassen muss und an eine neue, viel größere Schule kommt. Mit viel mehr Kindern. Logisch, dass sie sich am ersten Tag geradezu verloren fühlt. Und das Talent von Sabine Lemire ist nun einmal, dass sie von diesen überwältigenden Gefühlswelten erzählen kann – so plastisch, dass man sich regelrecht hineinversetzt fühlt in die kleine Welt von Molly und ihr Gefühl des Verlorenseins am ersten Tag in der neuen Schule.

Ein Gefühl, das garantiert alle kleinen Zuhörer nachempfinden können, die sich diese Geschichte vorlesen lassen. Und dann immer wieder über die Schulter des Vorlesers schmulen, weil Signe Kjær all das, was Molly an diesem Tag erlebt, einfühlsam in Bilder gebannt hat. Bilder, in die man sich hineinversetzen kann. Angefangen mit den Szenen am Frühstückstisch, wo Molly sich auch noch gegen ihren kleinen, nervenden Bruder Mingus durchsetzen muss. Was sie eigentlich nicht muss.

Aber wer kleinere Geschwister hat, weiß, wie man da auf einmal als größeres Geschwisterkind in eine Rolle gedrängt wird, auf die man auch nicht vorbereitet ist. Die Kleinen nerven ja nicht nur, sie kämpfen um Aufmerksamkeit und haben sowieso noch keinen Nerv dafür, dass auch ihre großen Vorbilder-Geschwister unter seelischem Druck stehen könnten, mit Problemen kämpfen, die sie eigentlich überfordern.

Über die sie aber nicht wirklich reden können, weil man ja als großes Kind gelernt hat, dass man sich zurücknimmt, Gefühle herunterschluckt, die Eltern nicht nervt und mit seinen Problemen allein zurechtkommen soll.

Gefühle müssen raus

Das ist das Schöne an vielen Büchern aus dem Klett Kinderbuch Verlag: Sie öffnen den Blick für die ganzen meist unthematisierten Probleme, die Kinder mit dem Wachsen, Klein- und Großsein haben, wie sie in Rollen landen, die sie oft genug überfordern. Und wie sie auch als große Geschwister unter Druck sind und den kleinen Quälgeist Mingus am liebsten … Dabei mag Molly den kleinen Kerl ja. Aber trotzdem ist sie selbst jetzt erst einmal diejenige, die mit der neuen Situation völlig überfordert ist und nicht weiß, ob sie in der neuen Klasse Anschluss finden wird, sogar richtige Freundinnen wie Ellen.

Und vor dem Wochenende im Garten kann sie mit den Eltern darüber auch nicht reden. Und wer weiß, wie so etwas im Bauch brodeln kann, wenn man tagelang nicht darüber reden kann, der versteht dann so einiges, was Molly dann im Garten anstellt – von einer richtig heftige Schneckenschlacht bis zur Flucht ins Baumhaus.

Na ja, vielleicht ist es doch keine so gute Idee, die Geschichte vorm Schlafengehen vorzulesen. Danach dürften die kleinen Zuhörer erst recht munter sein. Oder vielleicht sogar konfrontiert mit ihren eigenen Fluchten und Überforderungen. Also vielleicht doch lieber im Garten vorlesen. Bevor die armen Schnecken dran glauben müssen und von „Tierquälerei“ die Rede ist.

Obwohl doch eigentlich nur ein paar Gefühle gewütet haben. Letztlich geht es nun einmal auch darum, Gefühle zuzulassen. Genau diese Dinger, die einen so richtig umhauen können und immer zehn Nummern zu groß sind. Im Grundschulalter sowieso.

Also ist es auch ein Buch voller kleiner Botschaften an die Eltern. Die sich durchaus auch an ihre eigenen Erlebnisse in der Schule erinnern dürften. Die vielleicht auch nicht so toll waren. Denn manchmal fängt das ganze Drama ja damit an, dass die Eltern so tun, als hätte es das alles in ihrer Kindheit nicht gegeben.

Auch das klingt an, wenn Sabine Lemire das ganze Drama vorsichtig zu Ende bringt. Mit offenem Ende natürlich. Denn auch das ist eben die Kindheit: dass hinter dem gerade erlebten Drama schon das nächste lauert. Im nächsten Buch.

Sabine Lemire, Signe Kjær „Molly mittendrin. Die neue Schule“ Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2025, 14 Euro.