Schon seit 70 Jahren zeichnet der World Press Photo Award journalistische Fotografie aus – und ist dabei nicht immer unumstritten. Welches Foto kann man als „Bild des Jahres“ bezeichnen? Heuer fiel die Entscheidung der mittlerweile globalen Jury auf ein Porträt eines im Gaza-Krieg verstümmelten palästinensischen Buben, das die Fotografin Samar Abu Elouf für die „New York Times“ machte. Dieses und die anderen ausgezeichneten Fotos sind vom 12. September bis zum 9. November bei Westlicht – Schauplatz für Fotografie in Wien zu sehen.
Die Palästinenserin Elouf fotografierte den neunjährigen Mahmoud Ajjour, der im März 2024 auf der Flucht vor einem israelischen Angriff so schwer verletzt wurde, dass beide Arme amputiert werden mussten. Der Bub steht an einem Fenster im Halbschatten, das warme Licht fällt auf sein Gesicht. Mahmoud lebt heute in Katar.
Ein nachdenkliches, durchkomponiertes Porträt. Die Fotografin lebt in demselben Wohnkomplex wie der Bub. Er lernt jetzt, mit seinen Füßen zu schreiben. Samar Abu Elouf für „The New York Times“
„Es ist ein stilles Foto mit einer lauten Botschaft“, sagte die Generaldirektorin des Fotowettbewerbs, Joumana El Zein Khoury. „Es erzählt die Geschichte eines Jungen, aber auch die eines größeren Krieges, der Auswirkungen für Generationen haben wird.“ Die Fotografin Elouf hat im Dezember 2023 Gaza verlassen müssen und lebt nun in Doha in Katar – in demselben Wohnkomplex wie Mahmoud. Sie dokumentierte die schweren Verletzungen von Menschen aus dem Gazastreifen.
Mahmoud lerne jetzt, mit seinen Füßen zu schreiben, zu gamen und Türen zu öffnen, teilte die Jury mit. Er habe einen Traum: „Er wünscht sich Prothesen und will leben, wie jedes andere Kind auch.“
Chinesische Migranten
Zwei weitere Finalisten wurden in diesem Jahr ausgezeichnet. Darunter ein Bild von John Moore, einem US-amerikanischen Fotografen der Agentur Getty Images. Es zeigt chinesische Migranten, die sich an der Grenze der USA zu Mexiko an einem Feuer wärmen. Die unerlaubte Einwanderung aus China in die USA hat in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen.
Dieses Bild, das zugleich unwirklich und intim ist, zeigt die komplexe Realität der Migration an der Grenze, die im öffentlichen Diskurs in den Vereinigten Staaten oft verflacht und politisiert wird, so die Begründung der Jury. John Moore, Getty Images
Ausgezeichnet wurde auch ein Werk von Musuk Nolte (Peru/Mexiko) zum Thema Dürre in der Amazonasregion. Ein junger Mann steht mit Sackerln voller Nahrungsmittel vor einem ausgetrockneten Fluss. Sein Dorf Manacapuru in Brasilien ist nicht länger per Boot erreichbar.
Der Titel des Bildes lautet „Droughts in the Amazon“. Der junge Mann ist mit Lebensmitteln auf dem Weg zu seiner Mutter. Er muss dabei zwei Kilometer durch ein ausgetrocknetes Flussbett in der Amazonasregion gehen. Musuk Nolte, Panos Pictures, Bertha Foundation
Weitere ausgezeichnete Bilder: Eine Auswahl
Jerome Brouillet fotografierte den Brasilianer Gabriel Medina am 29. Juli 2024 im fünften Heat der dritten Runde des Surfwettbewerbs der Männer während der Olympischen Spiele 2024 in Teahupo‘o, Tahiti, Französisch-Polynesien. Medina holte sich schließlich die Bronzemedaille, Gold ging an den Franzosen Kauli Vaast. Surfen feierte bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio sein olympisches Debüt. Bei den Spielen 2024 in Paris fanden die Surfwettbewerbe fast 26.000 Kilometer von Frankreich entfernt statt, in Tahiti in der halbautonomen Region Französisch-Polynesien, die für ihre anspruchsvollen Wellen bekannt ist.
Gabriel Medina erhielt allein auf seinem Instagram-Account mehr als 9,5 Millionen Likes für das Foto. AFP/Jerome Brouillet
Fotograf Prins de Vos widmete sich dem Thema Geschlechtanpassung: Mika (21) hat 22 Monate auf einen ersten Termin in einer Genderklinik gewartet. In der Zwischenzeit hat er die Kosten für eine Brustoperation und eine Hormonbehandlung selbst übernommen. Im Mai 2024 hatte er endlich seinen ersten Termin. Fotograf Prins de Vos möchte mit seinem Projekt die Probleme hervorheben, die lange Wartezeiten für eine Geschlechtsanpassung mit sich bringen und zu besserem Verständnis und einem mitfühlenderen Ansatz bei der Versorgung ermutigen.
Mika Prins de Vos | Queer Gallery
Marijn Fidder lichtete den Bodybuilder Tamale Safalu beim Training ab. Bei einem Motorradunfall verlor dieser 2020 ein Bein. Safalu blieb dem Wettkampf-Bodybuilding trotzdem treu und wurde der erste Athlet mit Behinderung in Uganda, der gegen Athleten ohne Behinderung antrat. „Indem ich als Bodybuilder auf der Bühne antrete, möchte ich andere Menschen mit Behinderungen ermutigen, ihre eigenen Talente zu erkennen und niemals den Kopf hängen zu lassen“, sagt er.
Tamale Safalu Marijn Fidder
„Beyond the Trenches“, „hinter den Schützengräben“, heißt die Fotoserie des Deutschen Florian Bachmeier. Er wollte ein Licht auf Kinder werfen, die inmitten von Gewalt aufgewachsen sind. Auf diesem Bild ist die sechsjährige Ukrainerin Anhelina zu sehen. Das Mädchen musste mit seiner Familie aus dem Heimatdorf in der Nähe von Kupjansk (einer Stadt an der Frontlinie) fliehen und hat seither Panikattacken. Anhelina lebt nun bei ihrer Großmutter Larisa in Borshchivka, 95 Kilometer weit weg von Kupiansk. Ihre Mutter wohnt und arbeitet in Charkiw, etwa eine Stunde entfernt.
Anhelina in ihrem Zimmer. Florian Bachmeier
Suvra Kanti Das hielt den politischen Umbruch in Bangladesch fest: Menschen in Dhaka demolieren am 5. August 2024 eine Statue des ehemaligen Präsidenten Sheikh Mujibur Rahman, dem Vater von Premierministerin Sheikh Hasina. In einer Ansprache an die Nation verkündete zuvor Generalstabschef Waker-Uz-Zaman, dass Premierministerin Sheikh Hasina nach wochenlangen Unruhen zurückgetreten sei und eine Übergangsregierung gebildet werde, um das Land zu führen. Eine Studentenprotestaktion im Juli 2024 gegen ein restriktives staatliches Quotensystem für Arbeitsplätze eskalierte zu einem Massenaufstand gegen die Regierung.
„The Canvas of Power“, „die Leinwand der Macht“, heißt dieses Bild. Suvra Kanti Das für „The Daily Prothom Alo“
Sport steht im Mittelpunkt der Fotoserie von André Coelho. Botafogo-Fans feiern am 30. November 2024 den Sieg ihrer Mannschaft in Rio de Janeiro, Brasilien. Mit Botafogo und Atlético Mineiro trafen zwei der ältesten und traditionsreichsten Fußballvereine Brasiliens zum Endspiel des Libertadores-Pokals der Confederación Sudamericana de Fútbol (Conmebol) aufeinander.
Fans des Fußballclubs Botafogo. André Coelho/EFE
Dieses Foto von Mosab Abushama trägt den Titel „Life Won’t Stop“. Im Sudan ist es Tradition, eine Hochzeit mit feierlichen Schüssen anzukündigen. Die Waffe symbolisiert sowohl die Freude an der Ehe als auch die Realität des Krieges.
Ein Bräutigam posiert für ein Porträt bei seiner Hochzeit. Mosab Abushama
Der Titel des Bildes von Aubin Mukoni lautet „The Lake Has Fallen Silent“. Am Kivusee, einem majestätischen See an der Grenze zwischen Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo, sind viele Geschichten miteinander verwoben. Unter der ruhigen Schönheit des Gewässers und der Fischergemeinden, die es umgeben, liegen Turbulenzen und Unsicherheiten. Der Klimawandel bringt häufigere Stürme, eine Erwärmung des Wassers und schwindende Fischbestände mit sich. Die Verschmutzung durch Plastikmüll und die Entdeckung von Methangasvorkommen in den Sedimenten des Sees bedrohen die Zukunft dieses empfindlichen Ökosystems.
Dieses Projekt ist laut Jury ein vielschichtiges Dokument des komplexen Geflechts aus Abhängigkeit, Ausbeutung und Respekt, das die Menschen mit ihrer natürlichen Umwelt verbindet. Aubin Mukoni
Der klingende Titel der Aufnahme von Temiloluwa Johnson aus Lagos, Nigeria: „Mother Moves, House Approves“. Die Teilnehmer von „Heavenly Bodies“, einer unterirdischen Drag-Ballroom-Veranstaltung während der Lagos Pride, feiern die Gewinnerin der Auszeichnung „Mutter des Jahres“. Diese Veranstaltung hat eine Geschichte: Mitglieder der LGBTQI+-Gemeinschaft in Nigeria sind mit Gewalt und Verfolgung konfrontiert. Die an einem geheimen Ort abgehaltene Ausstellung „Heavenly Bodies: Notes on Fola Francis“ war die dritte Ausgabe der Pride-Feier im Ballsaal von Lagos, einem der größten Drag-Ballsäle in Nigeria. Trotz aller Risiken war die Veranstaltung ein elektrisierendes Erlebnis und bot einen lebendigen Raum für die Feier der Liebe und der freien Selbstdarstellung.
„Mother Moves, House Approves“. Temiloluwa Johnson
Einer Affenplage widmete sich die Fotoserie von Chalinee Thirasupa: Makaken, die als Glücksbringer gelten, sind Teil der Identität von Monkey City – Lopburi, nördlich von Bangkok, Thailand. Touristen strömten herbei, um sie zu sehen und mit Früchten zu füttern. Bis 2020 hatte die Affenpopulation 3121 Tiere erreicht, aber während der Pandemie blieben die Touristen aus. Die marodierenden Affen wurden aggressiver, stahlen Lebensmittel und kämpften. Die Bewohner versuchten erfolglos, sie mit Steinschleudern abzuschrecken, und ab April 2024 griffen die Behörden mit einem Sterilisationsprogramm ein, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen.
„No More Monkey Mania in Thai Town“: Ein Makake auf einem Motorrad. Chalinee Thirasupa/Reuters
Das Thema der Fotoserie von Santiago Mesa ist düster: Die Emberá Dobida sind ein nomadisches indigenes Volk Kolumbiens, das seit jeher in einem Gebiet um den Fluss Bojayá lebt. Viele Emberá sind nach Bogotá ausgewandert, um den Konflikten zwischen den paramilitärischen Kräften Kolumbiens zu entkommen und nach Sicherheit und neuen Möglichkeiten zu suchen. In der Hauptstadt sind sie Diskriminierung und Marginalisierung ausgesetzt und leben unter unsicheren Bedingungen. Die Selbstmordrate in der Emberá-Gemeinschaft ist laut Angaben der Kirche von Bellavista in Bojayá stark gestiegen.
Drei Schwestern von Yadira Birry, 16, die Suizid beging, stehen an ihrem Grab. Santiago Mesa
Der Fotojournalist Jabin Botsford war beim Attentatsversuch auf Donald Trump zugegen. Dieses und die darauffolgende Berichterstattung gelten als Wendepunkt im Präsidentschaftswahlkampf, der die politische Zukunft der Vereinigten Staaten prägen würde. Kurz nach den Schüssen rief der republikanische Präsidentschaftskandidat für 2024 trotzig „Kämpft, kämpft, kämpft!“, als er von der Bühne geführt wurde. Bemerkenswert ist, dass dieses wenige Sekunden später aufgenommene Bild von Jabin Botsford einen seltenen Moment der Verletzlichkeit in einem Wahlkampf zeigt, der sich auf Vitalität und Stärke konzentrierte.
Attentatsversuch auf Donald Trump. Jabin Botsford für die „Washington Post“
Tatsiana Chypsanava porträtierte in ihrer Fotoserie das Volk der Ngāi Tūhoe aus der Region Te Urewera in Neuseeland. Dieses hat seine Unabhängigkeit stets bewahrt. Die Tūhoe haben nie ihre Verbindung zu ihrer Sprache und kulturellen Identität verloren, und in einem bahnbrechenden Abkommen aus dem Jahr 2014 ebnete die neuseeländische Regierung den Weg dafür, dass die Tūhoe ihr angestammtes Land gemäß ihren kulturellen Werten verwalten können. Die jüngsten Änderungen durch die rechtsgerichtete Regierung Neuseelands werden als Rückschritt gegenüber diesen hart erkämpften fortschrittlichen Maßnahmen zugunsten der indigenen Bevölkerung angesehen.
Mihiata Teepa (16) und ihre Teamkolleginnen der Tūhoe Māori Rugby League U16 führen während des Trainings vor einem Spiel einen Haka auf. Tatsiana Chypsanava | Pulitzer Center, „New Zealand Geographic“
Mas Agung Wilis Yudha Baskoro zeigte mit seinen Bildern die Folgen des Nickelabbaus in Indonesien. Dieser hat in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen, und Weda Bay macht mittlerweile 17 Prozent der weltweiten Produktion des Metalls aus, das für Batterien von Elektrofahrzeugen und die Speicherung erneuerbarer Energien unverzichtbar ist. Untersuchungen zeigen, dass die durch den Bergbau verursachte Entwaldung zu längeren und häufigeren Überschwemmungen führt. Auch die Luftverschmutzung durch Nickelverhüttung und Kohleverstromung hat stark zugenommen. Ein örtliches Gesundheitszentrum verzeichnete zwischen 2020 und 2023 einen 25-fachen Anstieg von Atemwegserkrankungen.
Ein Bergarbeiter sitzt am 12. August 2024 auf der Ladefläche eines Lastwagens vor dem Werksgelände von PT Iwip in Weda, Zentral-Halmahera, Nord-Maluku, Indonesien. Mas Agung Wilis Yudha Baskoro | for China Global South Project
Tagada-Ausstellung von Florian Rainer
Zusätzlich zu der Ausstellung der World Press Photos zeigt die Galerie Westlicht Bilder des österreichischen Fotografen Florian Rainer. Tagada ist nicht nur eines der legendärsten Fahrgeschäfte im Wiener Prater, besonders für Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsensein ist es ein Fixpunkt und Zufluchtsort. Im Coronasommer 2020 hielt Rainer das Leben der Jugendlichen rund um das Fahrgeschäft fest. (her)
Aus der Serie „Tagada“, 2020. Florian Rainer
World Press Photo
Rund 60.000 Aufnahmen von fast 4000 Fotografen aus aller Welt hatten am Wettbewerb teilgenommen, wie die Jury in Amsterdam mitteilte. Hauptthemen waren Konflikte, Migration und Klimawandel. Die Jury zeichnete insgesamt 42 Fotografen in verschiedenen Kategorien aus. Die Siegerfotos sind in Ausstellungen in mehr als 60 Städten zu sehen.
Die World Press Photos und Tagada sind vom 12. September bis 9. November bei Westlicht – Schauplatz für Fotografie in Wien zu sehen.