Die ukrainische Armee braucht dringend mehr Soldaten. Ein Programm für 18- bis 24-Jährige lockt mit Prämien an die Front. Die Freiwilligen wissen: Sie riskieren ihr Leben.

Yuriy wird fuchsig. „Dein Gewehr ist doch keine Puppe. Halte es gerade und lauf“, sagt der 42-Jährige. In seiner Sonnenbrille spiegelt sich das Gesicht eines 19-Jährigen mit Pausbacken und einem ehrfurchtsvollen Blick in Richtung seines Drill-Sergeants. Dann stürmt der Teenager los. Mit seinem Marschgepäck auf dem Rücken. Der Schweiß perlt auf der Stirn. Er fließt reichlich unter Helm und Schutzweste an diesem heißen Tag, nach dem kräftezehrenden Anstieg auf einen Hügelrücken. Hier, irgendwo nicht weit entfernt von der Front im Donbas.

„Stopp“, flucht Yuriy. „Deine Schulter und dein Gewehr, das muss eine Linie sein“, sagt der erfahrene Frontsoldat. Dann macht er es vor. Drückt das Schnellfeuergewehr an seine Schulter, zielt damit gegen einen imaginären Feind. Läuft wie ein Raubtier durch Büsche und hohes Gras, schnell, behände und lautlos. Eine Einheit mit seiner Waffe. „So muss es sein, Junge“, sagt der 42-Jährige.

Ukraine: Ab 18 Jahren kann man sich für den Kriegsdienst melden

„Sie müssen noch viel an sich arbeiten. Ihr Überleben an der Front hängt davon ab“, sagt Yuriy. Er bringt zusammen mit anderen Ausbildern einer Gruppe von 20 Jungsoldaten das Kriegshandwerk bei. Es ist der dritte Kurs. Insgesamt dauert die Ausbildung je drei Monate. Ab 25 Jahren sind Männer in der Ukraine wehrpflichtig. In diese Gruppe sind alle unter dieser Altersschwelle. Sie sind Teil eines Programms des Verteidigungsministeriums, das junge Männer bis 24 Jahre dazu bringen soll, sich freiwillig für den Kriegsdienst zu verpflichten.

Der erfahrene Soldat Yuriy gehört zum Ausbilder-Team. Foto: Till Mayer

Das ist ab 18 Jahren möglich. Für die Teilnahme am Programm gibt es stattliche Prämien oder auch die Möglichkeit, nach der Dienstzeit kostenlos zu studieren. Wer sich für ein Jahr verpflichtet, erhält umgerechnet über 20 000 Euro. Bewähren sich die Jungsoldaten in Gefechtssituationen an der Front, gibt es weitere Zuschläge. Je länger die Verpflichtung, desto mehr Vergünstigungen. Weiter gibt es günstige Kredite für einen Wohnungskauf. Oder nach einem Jahr das Recht, ins Ausland zu reisen. Generell gilt: Wer zwischen 18 und 60 Jahre alt ist, darf das Land nur mit Genehmigung verlassen. Doch Soldaten, die dienen, erhalten für ihren Fronturlaub immer wieder eine Reiseerlaubnis ins Ausland.

Die Schule abgebrochen und in die Ukraine zurückgekehrt

Die Kampagne ist aus der Not geboren. Hunderttausende haben sich vor allem zu Beginn der russischen Vollinvasion freiwillig zur Armee gemeldet. Jetzt, über dreieinhalb Jahre später, fehlen Soldaten in den Schützengräben. Der Freiwilligen-Ansturm ist längst abgeebbt. Die Mobilisierung verläuft zu schleppend. Teilweise werden Männer im wehrpflichtigen Alter nicht unbedingt freiwillig direkt von der Straße rekrutiert. Entsprechende Einheiten stehen an den Checkpoints oder Metro-Ausgängen. Aus zuverlässigen Quellen ist zu erfahren, dass sich der Ansturm der jungen Männer für das Projekt in Grenzen hält.

Bei Sascha ist das anders. Er sagt, er hätte sich auch ohne Prämie zur Armee gemeldet. Zu Beginn der Invasion war er mit seiner Schwester und Mutter vor den Kämpfen in seiner Heimat nach Deutschland geflohen. „Berlin ist in Ordnung, aber ich konnte nicht einfach dort bleiben. Die Russen töten unsere Leute, zerstören unsere Städte und Dörfer. Ich will mein Land verteidigen“, sagt der 18-Jährige. Ein halbes Jahr hätte Sascha noch gebraucht, um seine Schule abzuschließen. Er entschied sich, nicht zu warten. Kaum volljährig geworden, kehrte er in die Ukraine zurück.

Sascha meldet sich freiwillig für die ukrainische Armee – sein Umfeld ist entsetzt

Sascha hat ein freundliches Gesicht, warme Augen, und er überlegt, bevor er voreilig Sätze bildet. Kurze Verschnaufpause vor dem nächsten Drill: Sascha blinzelt in die Sonne. Auf seinen Oberschenkeln liegt eine Kalaschnikow ohne Magazin. Der 18-Jährige winkelt die Arme an, stützt sich auf die Ellenbogen und macht es sich im Gras bequem. Es riecht nach Wald. Nach der Erde, die nackt und freigeschaufelt zu einem Bunker führt. In einigen Wochen wird sich in einem solchen Bunker vermutlich der Großteil seines Tages abspielen. Auf den Teenager wartet die Front.

„Ein Verwandter von mir kämpft in der ersten Linie. Er hat mir online erzählt, wie grausam der Krieg ist. Von den tödlichen Drohnen, dem Artilleriebeschuss, den vielen Gefallenen. Trotzdem will ich dienen“, sagt der junge Mann. Aber seine Mutter ist entsetzt. Halten kann sie ihn nicht. „Meine deutschen Freunde konnte es nicht fassen, als ich ihnen meinen Entschluss mitteilte. Sie verstehen meine Beweggründe vielleicht nicht, aber sie unterstützen mich“, erklärt er.

Dann erzählt er, wie er im „Im Westen nicht Neues“ als Hörbuch auf seinem Smartphone gestreamt hat. „Es hat mich tief bewegt“, meint er. „Einmal mussten wir von einem Lastwagen Waffen abladen, die von getöteten Soldaten stammten. Das hat mich an den Roman erinnert, da ging es um die Uniformen von Gefallenen“, sagt er nachdenklich. „Mir ist bewusst, welcher Gefahr wir uns aussetzen, wenn wir Soldaten werden“, fügt er hinzu. Von den Vorgängerkursen werden schon die ersten Verluste gemeldet.

Erinnerungen an „Im Westen nichts Neues“

Als die jungen Rekruten zusammensitzen, erinnert es in so Manchem an den Roman von Remarque. Es sind die unterschiedlichsten Charaktere. Da sind die drei besten Freunde, die ständig zusammen sind. Sie sind in einem Wohnblock aufgewachsen, zwei von ihnen leben als Waisen bei den Großeltern. Oder Bogdan. Der 22-Jährige hat sein Studium im Journalismus abgeschlossen. „Sicherlich ist die Prämie ein Grund, warum ich jetzt hier bin. Aber es ist nicht der einzige Grund“, sagt er leise. „Das Härteste ist nicht der Drill. Es ist schwer für mich zu verstehen: Ich bin jetzt in erster Linie kein Individuum mehr, ich bin Soldat.“

Neben ihm sitzt ein Kamerad, der seinen Bruder verloren hat. „Deswegen bin ich hier“, sagt er mit fester Stimme. Drei Meter gegenüber lehnt Vitali an einem Baumstamm. Er kommt aus einem Randbezirk von Kyjiw. „Dort habe ich schon das Kämpfen gelernt. Es ist ein hartes Pflaster“, sein Lachen gibt eine Reihe künstlicher Vorderzähne preis. Er ist der Methusalem der Gruppe, gerade 25 geworden. Vitali hat schon als Fleischer, Bauarbeiter und bei einem Paketdienst gearbeitet. „Ich bin noch mit 24 in das Programm aufgenommen worden. Ganz ehrlich, ich wollte mich nicht verstecken und vor der Polizei davon laufen, wenn ich 25 bin. Da nehme ich lieber die Prämie mit und gehe freiwillig an die Front“, sagt er.

Vitali ist mit 25 Jahren der Älteste der Gruppe. Foto: Till Mayer „Die Ukraine wird für lange Zeit eine starke Armee brauchen“

Schließlich kommt noch Daniel in die Runde. Er ist groß und schlaksig. Unter dem Kurzhaarschnitt leuchtet ein Paar blaue Augen. Sein Spitzname hier ist „Patriot“. „Für mich ist es meine Pflicht, zu dienen“, sagt er. Wie Sascha strebt er eine Karriere als Soldat an. „Die Ukraine wird für lange, lange Zeit eine starke Armee brauchen. Das ist so, wenn man Russland als Nachbarn hat“, ist er sich sicher.

Dann donnert plötzlich ein Düsenjäger über das kleine Tal. Auf der gegenüberliegenden Anhöhe sind Jungsoldaten zu sehen, die im hohen Gras in Deckung gehen oder hinter Hecken verschwinden. Erschrockene Gesichter im Tal unter den Bäumen. Es ist nicht das erste Mal, dass Truppenübungsplätze Ziele von russischen Angriffen sind. Das Flugzeug dreht ab. „Es ist eines von uns, die Russen fliegen immer im Doppelpack“, ruft ein Unteroffizier. Doch ganz kurz war schon der Krieg da. Er wird es in einigen Wochen sicher sein.