Friede den Hütten und den Palästen – sofern sie gemeinsame Sache machen. Das Staatstheater Wiesbaden in seiner neobarocken Pracht stammt aus völlig anderen Verhältnissen. Heute darf und muss man sich vieles in der Kunst neu und anders erschließen. Das ist oft schwer, aber man entdeckt viele Nebenwege, Räume, Möglichkeiten, Geschichten und Menschen, die es lohnen. In Wiesbaden auch einen bequemen Kaisereingang, die „Kaiserfahrt“ für die Kutsche von Wilhelm II., die für Barrierefreiheit sorgte, lang bevor das Wort erdacht worden war.

Für zehn Festivaltage will die Wiesbaden Biennale den Blick auf solche Orte und Menschen lenken und sie neu zum Sprechen bringen. Das ist eine wertschätzende und zugewandte Haltung, die schon die ersten Premieren und Gastbeiträge buchstäblich in die Stadt getragen haben. Unpolitisch ist das nicht. Aber wo die vorige Biennale mit einer Abrissbirne im Staatstheater-Foyer und aktivistischen Diskursen hantierte, die eher abweisend wirkten, ist unübersehbar, dass es den beiden künstlerischen Leiterinnen Rebecca Ajnwojner und Carolin Hochleichter um eine andere Haltung geht.

Die Kolonnaden vor dem Theatereingang leuchten mit Hunderten bunter Tüllstreifen. Sogar ein paar goldene Kapitelle, wie in den Tempeln ihrer Heimat, hat die thailändische Künstlerin Sasapin Siriwanji ihnen aufgesetzt. In einer bunten Prozession haben sie und ihre Gruppe mit den Besuchern die Eröffnung der Biennale gefeiert. Nun kann für „Colored Resurrect“ jeder mit buntem Stoff das, was ihm im Stadtgebiet heilig ist, umwinden und markieren. Und jeden Abend um 17 Uhr kann man sich zur Zeremonie in den Theaterkolonnaden einfinden. Zum „Nicht-Zen­trum“ der Biennale mit Kaffee und Tischchen ist es von dort aus ein Katzensprung. Und dass die sonst eher uneinladende Treppe, die Grüppchen für ihre Räusche nutzen, nun zum „Platz machen!“ einlädt, ist ein schöner Nebeneffekt.

Ein Theater, das neue Räume erschließt

Heute liegt der Ausgang der einstigen „Kaiserfahrt“, die ein weiteres Mal am 15. September von Touretteshero bespielt wird, dort, wo normalerweise die Müllcontainer abgeholt werden, an einem Parkplatz am Warmen Damm. Genau da, zwischen Brache, Parkplatz und einstigem Honoratioreneingang des Theaters, gibt es nun dieses „Nicht-Zentrum“. Mit Getränken, die aus einem kleinen Raum heraus verkauft werden, den man sonst nie wahrnähme.

Zur Eröffnung: Sekt und bunte Tücher in den KolonnadenZur Eröffnung: Sekt und bunte Tücher in den KolonnadenElisa Grehl

„Platz machen!“, heißt das Motto, das Ajnwojner und Hochleichter mit ihrem Team für das gesamte Festival gewählt haben. Am Eröffnungstag der von Bund, Land, Stadt und weiteren Geldgebern prominent geförderten Biennale war noch Luft nach oben angesichts der Zuschauerzahlen, aber mehr noch geht es darum, die Kunst in die Stadt zu bringen. Ein Quadratkilometer Wiesbaden rings um das Theater soll zum Erkundungsfeld werden, des Sichtbaren, vor allem aber auch des Unsichtbaren.

Silvia Gioberti und Shahrzad Rahmani von Guerilla Architects haben nicht nur eine „Festivalarchitektur“ geschaffen, sondern mit ihr gleich auch eine ganze Reihe von Räumen neu erschlossen, die zum Teil lange versperrt gewesen sind. Eine Landkarte auf der Rückseite des Programmflyers markiert die Spielorte von Performances, Ausstellung, Filmabenden und Austausch sowie „verspielte Orte“, an denen Kunst und Leben sich auf Parkdecks, am Kochbrunnen und anderswo verschränken. Hinzu kommen 42 „unsichtbare Orte“, verborgene Spuren der Weltgeschichte in Wiesbaden, die eine koloniale Geschichte ist.

Audiowalk auf kolonialen Spuren

Wie die Tür links neben dem Treppenaufgang zu den Kolonnaden an der Wilhelmstraße, wo nun der Audiowalk „Birdsong from Elsewhere“ seinen Ausgang nimmt. Mit App auf dem eigenen Smartphone oder einem MP3-Player kann das Publikum dem Märchen lauschen, das Barby Asante und Memory Biwa entlang dessen erschaffen haben, was ihnen die Stadt selbst vor Augen und Ohren geführt hat. Sie haben die togolesischen Jungen Quassi und Folivi erfunden, die um 1900 in Wiesbaden leben. Der eine als schwarzer Ziehsohn eines reichen Kolonialwarenhändlers, von den Eltern nach einer Völkerschau den Deutschen übergeben, um ihm eine bestmögliche Ausbildung zu bieten. Der andere, Folivi, ist als Sklave nach Wiesbaden entführt worden. Doch sein Geist kann entfliehen, Folivi hat die Gabe, sich in einen Vogel zu verwandeln und sich unter die afrikanischen Papageien zu mischen, die – heute – den Warmen Damm besiedeln.

Es ist eine Art magischer Realismus, ein verbindender Strom von Gestern und Heute, Afrika und Wiesbaden, den die Geschichte während des Stadtspaziergangs heraufbeschwört. Und eine Einladung, buchstäblich hinter die Fassaden des Alltags zu sehen, die auch schon ältere Kinder mitmachen können.

Dass „Platz machen“ notwendigerweise bedeutet, die eigene Position zu verändern, um etwas, jemand anderem Raum zu geben, hat nicht nur die Geschäftsführerin des Kulturfonds Frankfurt Rhein-Main, Susanne Völker, in der Eröffnungszeremonie hervorgehoben. In einer dialogischen Rede teilten sich Mirrianne Mahn und Sasha Marianna Salzmann eine Betrachtung über das Raumnehmen. Während Mahn vor dem bunt gemischten Festivalpublikum ein weiteres Mal die Müdigkeit und Wut der Person beschwor, die sich in Räumen wie dem Staatstheater nicht gemeint fühlt und deshalb nicht leise sein wolle, gelang es Salzmann, das Theater, die Kunst als jenen Raum zu definieren, der alle beherbergen könne und müsse. In einer Zeit, die Räume zu schließen versucht, ein Appell an Demokratie und Humanismus, die hellwach verteidigt werden müssen.

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Mit einer Frau, die versucht, einen Raum für sich selbst zu beanspruchen, hat die Schauspielsparte des Staatstheaters eine deutschsprachige Erstaufführung zur Biennale und zum Saison-Spielplan beigesteuert, die gewissermaßen das Motto des Festivals aufnimmt. „Monique bricht aus“ nach dem Text von Édouard Louis beginnt schließlich da, wo die Vorgeschichte „Die Freiheit einer Frau“, endet: auf dem Theater.

Die Regisseurin Sara Ostertag hat es geschafft, das lose und sehr auf die eigene Person des Autors gebaute Mutter-Buch Louis’ in jeder Hinsicht ins Allgemeine zu heben, ohne die Figuren zu verraten. Wenn zu Beginn drei Frauen, drei Moniques, in den züchtigen weißen Kleidern des 19. und 20. Jahrhunderts im rein weißen Kubus einer Küche stürzen, straucheln, als würden sie von fremden Händen geschlagen, und sich nach und nach alles rot von Theaterblut färbt, ist das nicht nur ein Spiel mit der Übertreibung. Die historischen Kostüme, die schnell fallen, die Blutflecke, die bleiben, signalisieren: Das war schon immer so, und es wird Zeit, dass es nicht mehr selbstverständlich ist, Frauen, sei es subtil oder brutal handgreiflich, als Menschen zweiter Klasse zu behandeln.

Die Übernahme von Falk Richters Inszenierung der „Freiheit einer Frau“ mit Eva Mattes als Monique bleibt im Spielplan des Staatstheaters, nun also geht es weiter. Ostertag setzt auf starke Bilder, auf Musik, die zumal Jonas Grundner-Culemann als Sohn lässig vorträgt. Wie Richter erlaubt auch Ostertag eine leise Ironie, einen Witz in der Härte der Bilder, die sie auch dank einer gemeinsam mit Myriam Lifka entwickelten Choreographie erreicht. Außerdem hat sie mit Klara Wördemann, Sybille Weiser und Evelyn Faber, die Monique gemeinsam und in unterschiedlichen Lebensaltern verkörpern, ausgesprochen schlagfertige Darstellerinnen. In Ostertags Bearbeitung nimmt sich Monique also deutlich mehr Raum als in der Vorlage und weitet damit auch den Blick. Auch darauf, dass selbst ein Glamour-Abend in Abendkleid und Glitter es bis heute meist den Frauen überlässt, hinterher den Dreck wegzuräumen.

Biennale Wiesbaden, bis 21. September. „Monique bricht aus“, nächste Vorstellungen im Kleinen Haus des Staatstheaters am 28. September und 10. Oktober.