In seinem neuen Buch „Mein Leben in 13 Büchern“ stellt Gregor Gysi literarische und philosophische Werke vor, die ihn sein ganzes Leben lang begleiteten. Dazu gehört „Das Kommunistische Manifest“ von Karl Marx und Friedrich Engels. Für Gysi ein oft missverstandenes Buch, das in der DDR falsch zitiert und nach der deutschen Einheit als verpönt betrachtet wurde. Die Berliner Zeitung veröffentlicht exklusiv einen Vorabdruck aus Gysis neuem Buch, das am 17. September im Aufbau-Verlag erscheint.

Das Manifest der Kommunistischen Partei ist in vier Kapitel gegliedert und umfasste im Original nur 23 Seiten. Es ist ein Stück Weltliteratur. Es gibt Sätze, die haben sich eingegraben, ob man ihrem Geist nun zustimmt oder nicht. „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ und „Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“

Nach Herstellung der deutschen Einheit waren Marx und Engels verpönte Namen. Ein differenziertes Bild ihres Werkes zu zeichnen, schien nach 1989/90 völlig aussichtslos. Die Systemauseinandersetzung galt als erledigt, man ging oberflächlich davon aus, dass die DDR gewissermaßen das Werk von Marx und Engels war – das nun ruiniert war. Inzwischen liegen die Nerven des Kapitalismus an entscheidenden Stellen blank, und vermeintlich ganz alte, in Vergessenheit geratene Fragen werden neu gestellt.

Stephan Hermlin korrigierte in der DDR ein falsches Zitat

Karl Marx und Friedrich Engels waren Freiheitstheoretiker. Sie müssen noch immer von ihrem Missbrauch im Staatssozialismus befreit werden.

Es gibt in dem Zusammenhang eine aufschlussreiche DDR-Erfahrung mit dem Kommunistischen Manifest. In der Sekundärliteratur wurde damals gern daraus „zitiert“: Die freie Entwicklung aller sei die Voraussetzung der freien Entwicklung des Einzelnen. Diese These passte genau in die Logik der Propaganda: Da weltweit noch nicht alle frei seien, müsse eben auch der Einzelne hier noch warten. Der Schriftsteller Stephan Hermlin las noch einmal das Original, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Marx und Engels hatten genau das Gegenteil geschrieben. In ihrem Manifest hieß es, die Freiheit des Einzelnen sei die Voraussetzung für die Entwicklung der Freiheit aller.

Hermlin schrieb in seinem Buch Abendlicht, bei Marx und Engels sei etwas benannt worden, das in der DDR „unausgesprochen“ bleiben sollte, es war absurd, „weil in meinem Kopf eine Erkenntnis, eine Prophetie auf dem Kopf stand“. Die „Korrektur“ durch den Schriftsteller hat damals viele schockiert. Man fühlte sich betrogen, aber die Sache warf ein bezeichnendes Licht auf einen selbst: Man hatte Marx und Engels nur oberflächlich gelesen – oder eben gar nicht.

Das Kommunistische Manifest hat unzählige Kommentare und Betrachtungen ausgelöst. Marx und Engels decken scharf und kantig auf, dass es die materiellen Dinge und Verhältnisse sind, die letztlich über unser Denken und Fühlen entscheiden; sie untersuchen die Logik der Produktionsprozesse, erfassen beeindruckend, weshalb bestimmte Dinge passieren und andere eben nicht. Schließlich prognostizieren sie eine kommunistische Gesellschaft. Und in all dem sind sie begnadete Schreiber, sie glühen in poetischen Bildern und treffsicheren Metaphern.

Marx und Engels heben hervor, was der Kapitalismus kann

Erst Marx’ und Engels’ radikale Analyse des Systems hat den Kapitalisten die Augen dafür geöffnet, welchen Gesetzmäßigkeiten sie folgen. Die Autoren haben gewissermaßen das Betriebsgeheimnis der Geschichte freigegeben. Eine überzeugende Lektion: Man muss Geschichte gegen den Strich bürsten – so zerzausen wir ihr zwar das Fell, finden aber die Flöhe.

Was mich an dem Werk von Beginn an erstaunte, ist die Einheit von Kampfansage und Würdigung. Marx und Engels heben hervor, was die Bourgeoisie leistete und was der Kapitalismus kann. Es waren die Kapitalisten, die die leibeigenen Bauern befreien wollten, damit freie Arbeitskräfte entstehen. Die Arbeiter sollten selbst entscheiden können, mit welchem Fabrikanten sie einen Arbeitsvertrag schließen. Es war auch die Bourgeoisie, die für Presse-, Meinungs-, Kunstfreiheit und parlamentarische Strukturen eintrat. Gleichzeitig brandmarkten Marx und Engels die entsetzlichen Ausbeutungsverhältnisse und arbeiteten heraus, was dieses System existenziell bedrohen kann – nämlich die organisierte Arbeiterklasse.

Was die gesellschaftliche Prognose betrifft: Die Berufung auf Marx und Engels nutzt inzwischen wenig, wenn man von Kommunismus spricht – dieses Wort löst Missverständnisse und Missachtung aus: Man kann eben in der Politik sowie darüber hinaus einen Begriff nicht getrennt von dessen öffentlichen Wirkungen verwenden. Ich komme aus einem Elternhaus, in dem kommunistische Überzeugungen keinen Gegensatz zu weltoffenen Denkweisen bildeten. Seit den Wendezeiten 1989/90 habe ich mich als demokratischen Sozialisten bezeichnet, und so empfinde ich mich auch heute noch. Kurz gesagt heißt das: Nie wieder Diktatur, und sei es fürs edelste Ziel; nie wieder Avantgarde, die alles zu wissen meint, vor allem alles besser zu wissen meint; nie wieder Missionierung, die den Menschen vorschreibt, was für sie das Beste sei.

Der mitunter noch immer besserwisserische Ton der Linken hat durchaus etwas mit dem Ursprung jener Bewegung zu tun, die Marx und Engels in ihrem Manifest aufrufen: der Idee von der Abschaffung unwürdiger Verhältnisse von Ausbeutung und Armut. Mit der frühen Erkenntnis, dass dies ein weltbestimmender und weltsprengender Machtkampf werden würde, kam allerdings auch die Befeuerung durch die Ideologie – deren Folgen wir kennen.

Aber natürlich durften sich Linke berechtigt edelmütig fühlen, und so ein Empfinden hat nun einmal Auswirkungen auf den Ton, mit dem man sich Gehör zu verschaffen sucht. Wer sich für den Adel einsetzte, setzte sich für Mächtige ein. Wer sich dann für die Kapitalisten einsetzte, setzte sich ebenfalls für Mächtige ein. Wer aber für die niederen Stände kämpfte, der hatte doch unzweifelhaft die wertvollere Mission! Und so kam zum Kampf für die Gerechtigkeit auch der Kampf mit der Selbstgerechtigkeit. Aber keine Parteinahme für Schwächere, keine Parteinahme für das Fortschrittliche, Bessere, Demokratischere schützt vor einer komplexen, verwirrenden Welt, deren Widersprüchlichkeit meist stärker ist als unsere Fähigkeit, sie zu erkennen.

Auch Thomas Mann lehnte den Kader- und Parteikommunismus ab

Dennoch: Kommunismus bleibt eine Utopie, die einen Wert hat. Man lese zur Ergänzung Thomas Mann, seinen Vortrag Schicksal und Aufgabe, 1944 auf Deutsch erschienen. Den Kader- und Parteikommunismus lehnte auch er entschieden ab, der Kommunismus sei „ein scharf umschriebenes, politisch-ökonomisches Programm, gegründet auf die Diktatur einer Klasse, des Proletariats, geboren aus dem historischen Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts, und in dieser Form stark zeitgebunden“. Aber: „Er ist als Vision zugleich viel älter und enthält auch wieder Elemente, die erst einer Zukunftswelt angehören.“

Kommunismus ist ein gedanklicher Überschuss. Er entzündet sich am Elend von gesellschaftlichen Systemen. Ih­nen muss man etwas entgegensetzen: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, sagte schon, und wieder mal, Goethe. Der so wenig ein Kommunist war wie alle Gattungsträumer vor ihm und viele nach ihm. Kommunismus – ein Traumspiel ohne Grenzen. Ein geistiger Wärmestrom gegen die kalte Raserei der Gier- und Geldgesellschaften.

Wenn ich das Manifest lese, gestehe ich, nach wie vor mitgerissen zu werden von einem Schwung, der doch zu unserem Vermögen gehört, uns zu steigern. Erlauben wir doch dem Wort, höher zu zielen, als es unser pragmatischer Sinn vermag. Eine Utopie wird nicht dadurch entwertet, dass wir nicht vor ihr bestehen. Wir fassen die Sterne zwar nicht, nach denen wir greifen, aber ihr Licht strahlt doch.

Warum kann unsere Gesellschaft nicht stolz auf so ein Genie wie Karl Marx sein? Stolz schließt eine kritische Auseinandersetzung doch keinesfalls aus – im Gegenteil: Erst Größe rechtfertigt Disput. Warum sind wir so engstirnig, dogmatisch, voreingenommen? Unverständlich ist mir, dass es keine einzige deutsche Universität mehr gibt, die seinen Namen trägt. Als ich 2018 zu Marx’ 200. Geburtstag in Trier im voll besetzten Auditorium Maximum eine Vorlesung hielt, gestand ich zwar meine sehr eingeschränkte Zuständigkeit ein, erklärte aber die Universität seiner Geburtsstadt trotzdem zur Karl-Marx-Universität. Und dann erfreute ich mich einer Sache, die sonst überhaupt nicht zum Ritus von Studierenden gehört: Standing Ovations. Der zuhörende Präsident der Universität sackte auf seinem Stuhl merklich zusammen.

Gregor Gysi: „Ich stellte fest, dass ich Engels lieber las als Marx“

Wann bekam ich das erste Mal mit Marx und Engels zu tun? Zwei Mädchen in meiner Oberschulklasse gestalteten während der Hysterie gegen lange Haare bei Männern (die ja auch eine propagandistische Tirade gegen das „Yeah, yeah, yeah“ der Beatles war) eine Wandzeitung. Sie trug die Überschrift „Lange Haare, kurzer Sinn?“ und zeigte zwei große Bilder von Engels und Marx und deren beträchtlicher Haar- und Bartpracht. Darunter stand ein kurzer Text, der ausmalte, wie diese beiden bedeutenden Köpfe wohl unter den gegenwärtigen DDR-Bedingungen behandelt würden.

In der FDJ-Leitung war ich der Verantwortliche für politisch-ideologische Fragen. Vom Direktor der Schule bekam ich den Auftrag, umgehend für das Verschwinden der Wandzeitung zu sorgen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und erklärte, das trage doch nur zu noch größerem Wirbel bei, der die Wirkung der Wandzeitung verstärke und gewiss dafür sorge, dass sie sich herumspreche. Wenn sie aber – es war ein Montag – bis Freitag hängen bliebe, sei sie zwar noch eine gewisse Zeit Blickfang, aber dann nehme die Aufmerksamkeit von ganz allein ab. Er überlegte hin und her, her und hin – und stimmte zu.

Während meines Jurastudiums war ich dann verpflichtet, viele Werke von Marx, Engels und Lenin zu lesen. Dabei stellte ich fest, dass ich Engels lieber las als Marx. Für mich strahlte er nicht nur Intelligenz, sondern vor allem auch Wärme aus. Er hatte einen durchaus pädagogischen Stil, der aber auf seltsame wie seltene Weise etwas Einnehmendes besaß. Marx hat von seinem Kapital behauptet, es sei allgemein verständlich geschrieben. Ich gestehe, andere Vorstellungen von Verständlichkeit zu haben. Aber um komplizierte Sachverhalte zu verstehen, darf Arbeit eben nicht gescheut werden.

Was mir imponiert, sind die vielen Vorworte von Karl Marx und Friedrich Engels und nach dem Tod von Marx nur noch von Engels. Mit jeder neuen Auflage vom Manifest arbeiteten sie weiter am Text, räumten Fehler ein, die sie aber nicht korrigierten, um so die Authentizität des Werkes zu bewahren. Diese Methode der Selbstkritik war in sozialistischen Ländern völlig unüblich, es sei denn, man hatte der Führung widersprochen. Die Führung sah jedwede Fehler nur bei anderen, nie bei sich selbst.

Das Manifest der Kommunistischen Partei ist kein Heiligtum, es ist keine unmittelbare politische Handlungsanleitung. Es ist Verdichtung – und Dichtung. Der Schriftsteller Heinz Czechowski veröffentlichte 1967 in der DDR ein Gedicht, an das ich denke, wenn ich zu dem kleinen Büchlein von Marx und Engels greife, das nach wie vor so viel Kraft und Energie ausstrahlt und das es immer wieder wert ist, vor Ideologen und Katechisten in Schutz genommen zu werden. Auch der Satz „Die Welt ist veränderbar“/Kann/Zur Religion werden./Aber:/Die Welt/Ist veränderbar.

Buchpremiere: „Mein Leben in 13 Büchern“ feiert am 19. September Buchpremiere im Deutschen Theater. Moderation: Hans-Dieter Schütt.