Schon die ersten beiden Seiten von Sandra Weihs’ Bemühungspflicht treffen wie ein Schlag in die Magengrube. Der Text gräbt sich von dort aus immer tiefer in die Eingeweide hinein, lässt jedes Wort rumoren und löst schließlich Übelkeit aus. Übel ist auch das Geflecht aus Pflichten, Pfadabhängigkeit und menschlicher Not, das Sandra Weihs so sensorisch beschreibt, dass es körperlich spürbar wird. Da ist etwa der Moment, in dem Manfred Gruber der Orangensaft der Supermarktsaftpresse über die Finger rinnt, den er sich dann doch nicht leisten kann und beschämt zurücklassen muss.

Wenig später die Butter, die in seiner Jackentasche schmilzt, weil er ja eigentlich nur schnell das Allernötigste kaufen wollte, nun aber eine Odyssee durch seine mittelgroße österreichische Heimatstadt über Bank und Behörde auf sich nehmen muss, um das Rätsel um sein leeres Konto zu lösen. Und obendrauf der Regen, der kalt durch das beginnende Loch in seinen Schuh dringt. Demütigung, die beim Gang zum AMS (Arbeitsmarktservice) bei jedem Schritt an ihm klebt. Dort angekommen „ist die Schlange lang. Ein bisschen kommt es dir vor, als rollten ein paar Orangen über eine Schneise direkt an ein in Kunststoff gefasstes Messer.“

Es zeugt nicht nur vom literarischen Können, das die österreichische Autorin mit ihrem dritten Roman unter Beweis stellt. Sie schöpft gleichermaßen mit vollen Händen aus ihrem Erfahrungsschatz als praktisch tätige Sozialarbeiterin. Ein großes Glück für die Literatur. Eine Autorin, die ihre Figuren nicht nur aus einer Recherche, flüchtigen Begegnungen oder der eigenen Vorstellungskraft formt, sondern Jahre der Begleitung sogenannter Härtefälle des Sozialsystems in ihnen verdichtet.

Hauptfigur verkörpert Bodensatz der Gesellschaft

Ihre Figuren sind real und greifbar, mit scharfen Kanten, rauen Stellen. Keine wächst einem so recht ans Herz, aber allen wünscht man ihren Frieden. Und da ist ebenjener Manfred Gruber, der von der allwissenden Erzählerin mit „du“ angesprochen wird, das schafft eine große Nähe zu dieser alternden und gescheiterten Existenz: Zu diesem geschiedenen Grantler, entfremdeten Vater, erfolglosen Arbeiter und unbeliebten Nachbarn.

Er verkörpert den Bodensatz der Gesellschaft, um den sich in Österreich wie auch in Deutschland die aktuelle Debatte um Kürzungen dreht. Gruber erfüllt seine Bemühungspflicht gelegentlich mit fingierten Bewerbungen, absolviert ein erzwungenes Probearbeiten mit an Sabotage grenzender Lustlosigkeit – ein Posterboy für eine Politik der sozialen Härte? Nicht ganz.

Nach einem Unfall ist er für die Frührente zu gesund und für die Lohnarbeit zu geschwächt. Aber Armut macht findig: Er kocht, wie seine Mutter es ihm gezeigt hat, gärtnert zur Selbstversorgung und baut der Tochter des Nachbarn einen „Luxushasenstall“ mit handwerklicher Hingabe – auch wenn er dafür kein Geld, sondern Bier und Restholz bekommt. Seine schlecht gelaunte Einsamkeit treibt ihn dabei an und steht ihm dann doch im Weg: Das dankbare Lächeln des Kindes kann er letztlich nicht mehr sehen. Das Gespräch mit dessen freundlich-ignorantem Vater ist ihm unerträglich geworden.

Gruber wird begleitet von seiner längst verstorbenen Mutter, die wie ein nagendes schlechtes Gewissen und abschätziges Urteil stets bei ihm ist. Auch seine Exfrau und Sohn reihen sich als abwesende Richter in seine inneren Monologe ein. Sein Sohn taucht dann aber doch einmal auf, besucht ihn mit seiner Verlobten, einer Psychotherapeutin, und reißt damit nicht nur Grubers Wunden, sondern einen ganzen Generationenkonflikt auf. Das Streben nach Awareness und Bedürfnisorientierung treffen auf Verhärtung und Sprachlosigkeit. Grubers Gegenspielerin, aber fast im selben Boot sitzend, ist Melanie Ranftl.

Als Mitarbeiterin des Sozialamts nimmt sie Anträge entgegen und verkündet Bescheide. Nach dem körperlichen Angriff eines Antragstellers ist sie nervlich am Ende. Als alleinerziehende Mutter einer noch kleinen Tochter kann sie aufgrund mangelnder Betreuung nur halbtags arbeiten. Dadurch ist sie auf Wohngeld angewiesen, was Selbstzweifel in ihr auslöst, auch, weil selbst sie als Behördenangestellte das Bürokratendeutsch auf dem Antragsformular nicht recht versteht. Sie fühlt Zorn gegenüber ihren „Klienten“, da diese nur unwesentlich weniger Geld bekommen als sie selbst, obwohl sie doch bis zur Erschöpfung arbeitet.

Der Roman nimmt eine dramatische Wendung

Erst spät offenbart das Buch, dass in der Erzählerin sicherlich auch Sandra Weihs zu Teilen selbst steckt. Die solidarische Sozialarbeiterin wird vom Amt beauftragt, besonders schwierigen Fällen auf die Sprünge zu helfen. Gruber sieht in ihr aber keine Hilfe, sondern Bevormundung und Gängelung.

Es ist diese Begegnung und ein unbedachter Witz, der dem Roman eine dramatische Wendung verleiht. Kein Zweifel: Das Menschenbild, auf dem die österreichische Sozialhilfe, das deutsche Bürgergeld und letztlich die Bemühungspflicht aufbauen, kann als Angriff auf die menschliche Würde gesehen werden. Verstümmelte Seelen führen manchmal zu verstümmelnder Gewalt.

In Enno Stahls Roman Diese Seelen aus dem Jahr 2008 richtet ein Arbeitsuchender seine Wut brutal gegen eine Sachbearbeiterin. Bei Weihs übersetzt sich die Gewalt des Systems in Gewalt gegen sich selbst. Es ist kein blutiger Befreiungsschlag gegen ein bürokratisches System, sondern der Versuch, der andauernden Fremdbestimmung mit Selbstverstümmelung ein Ende zu setzen. Gruber wird handlungsfähig, indem er sich ganz und gar arbeitsunfähig macht. Wie ein Soldat, der sich mit dem selbst gesetzten „Heimatschuss“ verstümmelt.

Erst die schwere Verletzung macht Gruber wieder zum Menschen, befreit ihn von der andauernden Demütigung, an gesellschaftlichen Standards gemessen zu werden, die für ihn schon lange unerreichbar sind. Weihs’ politischer Roman schließt mit guten Wünschen an Gruber. In ihnen liegt aber kein viktimisierendes Mitleid, sondern Kampfgeist für eine sozialere Gesellschaft: „Ich verlasse die Wohnung und schließe mich dem Maiaufmarsch an.“

Bemühungspflicht Sandra Weihs Frankfurter Verlagsanstalt 2025, 256 S., 24 €

wollte, nun aber eine Odyssee durch seine mittelgroße österreichische Heimatstadt über Bank und Behörde auf sich nehmen muss, um das Rätsel um sein leeres Konto zu lösen. Und obendrauf der Regen, der kalt durch das beginnende Loch in seinen Schuh dringt. Demütigung, die beim Gang zum AMS (Arbeitsmarktservice) bei jedem Schritt an ihm klebt. Dort angekommen „ist die Schlange lang. Ein bisschen kommt es dir vor, als rollten ein paar Orangen über eine Schneise direkt an ein in Kunststoff gefasstes Messer.“Es zeugt nicht nur vom literarischen Können, das die österreichische Autorin mit ihrem dritten Roman unter Beweis stellt. Sie schöpft gleichermaßen mit vollen Händen aus ihrem Erfahrungsschatz als praktisch tätige Sozialarbeiterin. Ein großes Glück für die Literatur. Eine Autorin, die ihre Figuren nicht nur aus einer Recherche, flüchtigen Begegnungen oder der eigenen Vorstellungskraft formt, sondern Jahre der Begleitung sogenannter Härtefälle des Sozialsystems in ihnen verdichtet.Hauptfigur verkörpert Bodensatz der GesellschaftIhre Figuren sind real und greifbar, mit scharfen Kanten, rauen Stellen. Keine wächst einem so recht ans Herz, aber allen wünscht man ihren Frieden. Und da ist ebenjener Manfred Gruber, der von der allwissenden Erzählerin mit „du“ angesprochen wird, das schafft eine große Nähe zu dieser alternden und gescheiterten Existenz: Zu diesem geschiedenen Grantler, entfremdeten Vater, erfolglosen Arbeiter und unbeliebten Nachbarn.Er verkörpert den Bodensatz der Gesellschaft, um den sich in Österreich wie auch in Deutschland die aktuelle Debatte um Kürzungen dreht. Gruber erfüllt seine Bemühungspflicht gelegentlich mit fingierten Bewerbungen, absolviert ein erzwungenes Probearbeiten mit an Sabotage grenzender Lustlosigkeit – ein Posterboy für eine Politik der sozialen Härte? Nicht ganz.Nach einem Unfall ist er für die Frührente zu gesund und für die Lohnarbeit zu geschwächt. Aber Armut macht findig: Er kocht, wie seine Mutter es ihm gezeigt hat, gärtnert zur Selbstversorgung und baut der Tochter des Nachbarn einen „Luxushasenstall“ mit handwerklicher Hingabe – auch wenn er dafür kein Geld, sondern Bier und Restholz bekommt. Seine schlecht gelaunte Einsamkeit treibt ihn dabei an und steht ihm dann doch im Weg: Das dankbare Lächeln des Kindes kann er letztlich nicht mehr sehen. Das Gespräch mit dessen freundlich-ignorantem Vater ist ihm unerträglich geworden.Gruber wird begleitet von seiner längst verstorbenen Mutter, die wie ein nagendes schlechtes Gewissen und abschätziges Urteil stets bei ihm ist. Auch seine Exfrau und Sohn reihen sich als abwesende Richter in seine inneren Monologe ein. Sein Sohn taucht dann aber doch einmal auf, besucht ihn mit seiner Verlobten, einer Psychotherapeutin, und reißt damit nicht nur Grubers Wunden, sondern einen ganzen Generationenkonflikt auf. Das Streben nach Awareness und Bedürfnisorientierung treffen auf Verhärtung und Sprachlosigkeit. Grubers Gegenspielerin, aber fast im selben Boot sitzend, ist Melanie Ranftl.Als Mitarbeiterin des Sozialamts nimmt sie Anträge entgegen und verkündet Bescheide. Nach dem körperlichen Angriff eines Antragstellers ist sie nervlich am Ende. Als alleinerziehende Mutter einer noch kleinen Tochter kann sie aufgrund mangelnder Betreuung nur halbtags arbeiten. Dadurch ist sie auf Wohngeld angewiesen, was Selbstzweifel in ihr auslöst, auch, weil selbst sie als Behördenangestellte das Bürokratendeutsch auf dem Antragsformular nicht recht versteht. Sie fühlt Zorn gegenüber ihren „Klienten“, da diese nur unwesentlich weniger Geld bekommen als sie selbst, obwohl sie doch bis zur Erschöpfung arbeitet.Der Roman nimmt eine dramatische WendungErst spät offenbart das Buch, dass in der Erzählerin sicherlich auch Sandra Weihs zu Teilen selbst steckt. Die solidarische Sozialarbeiterin wird vom Amt beauftragt, besonders schwierigen Fällen auf die Sprünge zu helfen. Gruber sieht in ihr aber keine Hilfe, sondern Bevormundung und Gängelung.Es ist diese Begegnung und ein unbedachter Witz, der dem Roman eine dramatische Wendung verleiht. Kein Zweifel: Das Menschenbild, auf dem die österreichische Sozialhilfe, das deutsche Bürgergeld und letztlich die Bemühungspflicht aufbauen, kann als Angriff auf die menschliche Würde gesehen werden. Verstümmelte Seelen führen manchmal zu verstümmelnder Gewalt.In Enno Stahls Roman Diese Seelen aus dem Jahr 2008 richtet ein Arbeitsuchender seine Wut brutal gegen eine Sachbearbeiterin. Bei Weihs übersetzt sich die Gewalt des Systems in Gewalt gegen sich selbst. Es ist kein blutiger Befreiungsschlag gegen ein bürokratisches System, sondern der Versuch, der andauernden Fremdbestimmung mit Selbstverstümmelung ein Ende zu setzen. Gruber wird handlungsfähig, indem er sich ganz und gar arbeitsunfähig macht. Wie ein Soldat, der sich mit dem selbst gesetzten „Heimatschuss“ verstümmelt.Erst die schwere Verletzung macht Gruber wieder zum Menschen, befreit ihn von der andauernden Demütigung, an gesellschaftlichen Standards gemessen zu werden, die für ihn schon lange unerreichbar sind. Weihs’ politischer Roman schließt mit guten Wünschen an Gruber. In ihnen liegt aber kein viktimisierendes Mitleid, sondern Kampfgeist für eine sozialere Gesellschaft: „Ich verlasse die Wohnung und schließe mich dem Maiaufmarsch an.“