Mario Draghi legt nach –

«Aussergewöhnliche Zeiten erfordern aussergewöhnliches Handeln»

Publiziert heute um 17:07 UhrMario Draghi und Ursula von der Leyen bei der Konferenz in Brüssel am 16. September 2025.

Der Mahner vom Dienst: Mario Draghi, ehemaliger EZB-Präsident, und Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, am Dienstag in Brüssel.

Foto: Omar Havana (Getty Images)

In Kürze:

  • Mario Draghi warnt vor dem drohenden Verlust der europäischen Souveränität.
  • Die EU zeigte sich in den Zollverhandlungen mit den USA schwach.
  • Nach einem Jahr wurde lediglich ein Bruchteil der Draghi-Empfehlungen umgesetzt.

In der Stunde, in der Mario Draghi und Ursula von der Leyen in Brüssel sprachen, fiel der Name Donald Trump kein einziges Mal. Gleichwohl war der amerikanische Präsident der Elefant im Raum, um den alle Gedanken kreisten.

Vor einem Jahr hatte Mario Draghi, der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) und italienische Premierminister, einen Bericht zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit Europas vorgestellt, der es in sich hatte: Auf 73 Seiten warnte Draghi vor dem drohenden Niedergang und machte 383 konkrete Empfehlungen, wie dieser aufzuhalten sei.

Der Widerhall war enorm, der Applaus gross. Ursula von der Leyen, seit 2019 Präsidentin der EU-Kommission, hatte den Bericht beim Italiener bestellt und versprach danach, dessen Schlussfolgerungen als Arbeitsauftrag anzunehmen.

Jetzt steht Europas Souveränität auf dem Spiel

Ein Jahr danach zogen Draghi und von der Leyen am Dienstag eine erste Bilanz. «Alle Herausforderungen sind nur noch akuter geworden», urteilte der 78-Jährige. Mittlerweile stehe nämlich nicht mehr nur der künftige Wohlstand Europas auf dem Spiel – sondern seine Souveränität.

Schon im August hatte Draghi auf von der Leyens «Zolldeal» mit Trump reagiert, der von vielen als entwürdigend empfunden worden war: Bisher habe die EU immer gemeint, ihre ökonomische Macht verleihe ihr automatisch geo- und handelspolitischen Einfluss. Dies habe sich nun als Illusion entpuppt.

In Brüssel hakte Draghi nach: Innerhalb weniger Monate sei die Welt eine andere geworden. Eine, in der Grossmächte ihre Interessen rücksichtslos durchsetzten. Europa sei auf diesen Machtkampf schlecht vorbereitet. Weil es für seine Verteidigung von den USA abhänge, habe die EU diesen im Ringen um Zölle nicht härter entgegentreten können. Und weil sie Chinas seltene Erden benötige, könne sie sich weder stärker gegen dessen Dumpingpraktiken wehren noch gegen die Unterstützung Russlands in dessen Krieg gegen die Ukraine.

Um seine Unabhängigkeit zu wahren, müsse Europa dringend nicht nur wettbewerbsfähiger werden, sondern auch fähig, sich selbst zu verteidigen und mit kritischen Materialien zu versorgen.

Von der Leyen – zu wenig und zu spät?

Draghi gestand von der Leyen, die letzte Woche in ihrer «Rede zur Lage der Union» zum «Kampf um die Unabhängigkeit» aufgerufen hatte, zu, sie habe die Dimension der Probleme erkannt. Offenkundig habe sie auch die Ambition, die Politik der EU neu auszurichten. Nur bislang ohne durchschlagenden Erfolg. Eine Studie bilanzierte gerade, nach einem Jahr seien nur 11 Prozent von Draghis Empfehlungen umgesetzt; teilweise umgesetzt weitere 22 Prozent.

Von der Leyen strich in ihrer Rede heraus, dass die EU so viel in Verteidigung und innovative Technologien investiere wie noch nie, der Abbau von Bürokratie sei eingeleitet, Handelsverträge mit Ländern in Lateinamerika und Asien sollen neue Märkte und Zugang zu Rohstoffen abseits der USA und Chinas öffnen.

Zugleich mahnte sie selbst, dass der EU-Binnenmarkt immer noch voller Hindernisse sei; laut Internationalem Währungsfonds kommen die Barrieren einem Zoll von bis zu 45 Prozent auf Güter und einem von bis zu 110 Prozent auf Dienstleistungen gleich. Auch im Strommarkt gebe es noch viel zu viele Engpässe. Was von der Leyen nicht sagte, aber meinte: Bei diesen Themen wehren sich vor allem die Mitgliedstaaten mit Händen und Füssen gegen Vereinheitlichungen.

Die EU müsse lernen, künftig stärker als «Bundesstaat» denn als «Staatenbund» zu handeln, folgerte Draghi. Dazu gehörten gemeinsame Schulden, um die nötigen Investitionen zu finanzieren. Laut EZB ist der jährliche Investitionsbedarf seit dem letzten Jahr von 800 auf 1200 Milliarden Euro gestiegen. Für EU-Länder wie Deutschland sind gemeinsame Schulden aber immer noch ein Tabu.

Draghi schloss seine Rede mit einem dramatischen Appell: «Europas Bürger verlangen von ihren Anführern, dass diese die Grösse der Herausforderung begreifen. Nur vereintes, dringliches Handeln wird beweisen, dass sie bereit sind, aussergewöhnlichen Zeiten mit aussergewöhnlichem Handeln zu begegnen.»

Die EU, Trump und China

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