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Gelsenkirchen zeigt: Die AfD ist kein Ostthema mehr. Die SPD hat in ihrer Ex-Hochburg die Erwartungen heruntergeschraubt – und sucht nach einer anderen Sprache.
Gelsenkirchen/Düsseldorf – Ironie der Architekturgeschichte: Das Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen, auf das am Wahlsonntag ganz Deutschland blickt, stand in 1920ern mal für Moderne. Ein Rathaus als Symbol für Aufbruch. Davon ist in Gelsenkirchen nicht mehr viel übrig: Die Stadt hat seit vielen Jahren massive Probleme: höchste Armutsquote Deutschlands, erhebliche Arbeitslosenquote – und Gelsenkirchen schrumpft: von den einst 400.000 Einwohnern sind inzwischen gerade mal 270.000 übrig. Und die AfD hat massiv Aufwind.
Gebannt schaut man bei der SPD auf die Bildschirme: Ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der AfD zeichnete sich in Gelsenkirchen ab. © Peter Sieben
Die NRW-Wahl gilt als Stimmungstest für die schwarz-rote Koalition von Friedrich Merz. Und Gelsenkirchen steht stellvertretend für ein neues Phänomen: Die AfD ist längst kein Ostthema mehr. Am Abend der Kommunal-Wahl in NRW warten Mitglieder von CDU, SPD und AfD gespannt auf die Ergebnisse im Hans-Sachs-Haus. Als die erste Hochrechnung um 18 Uhr kommt: Schockstarre im Ratssaal, wo sich die SPD versammelt hatte. Die AfD hat in NRW insgesamt deutlich zugelegt – um elf Prozent, die anderen Parteien müssen deutliche Verluste hinnehmen – vor allem die Grünen und die SPD.
NRW-Wahl: Erst Schockstarre, dann Erleichterung bei der SPD, als Ergebnis bekannt wird
Auch in Gelsenkirchen zeichnete bei der Oberbürgerrmeisterwahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der SPD-Kandidatin Andrea Henze und AfD-Kandidat Norbert Emmerich ab. „Wir bleiben voller Hoffnung dabei“, rief Gelsenkirchens SPD-Vorsitzende Nicole Schmidt in den Saal, als ihre Partei und die AfD noch nahezu gleichauf waren. Der Applaus: verhalten.
Dann spürbare Erleichterung, ein deutlich hörbares Aufatmen bei vielen, als gegen 20 Uhr klar war: Andrea Henze, die SPD-Kandidatin, liegt in Gelsenkirchen am Ende vor AfD-Mann Norbert Emmerich. Laut aktuellem Ergebnis: 37 zu 29 Prozent. Heiß: In zwei Wochen treten die beiden in einer Stichwahl erneut gegeneinander an. Standing Ovations, als Henze in den Saal kommt. Erleichterung und Freude angesichts eines solchen Ergebnisses – vor zehn Jahren wäre das noch undenkbar gewesen.
SPD schraubte Erwartungen vor NRW-Wahl herunter: „Stichwahl war mein Ziel“
In der Tat hatte die SPD im Land zuletzt die Erwartungen deutlich heruntergeschraubt. „In die Stichwahl zu kommen war mein Ziel, das habe ich erreicht“, so Henze am Rande des Wahlabends gegenüber der Frankfurter Rundschau von Ippen.Media. Sie betonte: „Wir brauchen hier mehr Unterstützung vom Bund. Das habe ich auch sehr deutlich gegenüber Lars Klingbeil und Bärbel Bas gesagt.“ Und doch gehe sie davon aus, dass sie „die Stichwahl hoffentlich gewinnen“ werde.
Der Westen der Republik war lange SPD-Hochburg, das gilt für die meisten Städte im Ruhrgebiet. Aber in fast allen Kommunen der Region konnte die AfD deutlich punkten. Für manche Stadtteile in Gelsenkirchen oder Duisburg zeichnete sich schon gegen 19 Uhr am Abend der NRW-Wahl ab, dass teils über 40 Prozent der Wähler dort ihre Stimme der AfD gegeben hatten.
Erleichterung bei der SPD in Gelsenkirchen: OB-Kandidatin Andrea Henze (links) und Gelsenkirchens SPD-Vorsitzende Nicole Schmidt. © Peter Sieben
Bei der Suche nach Gründen kommen Beobachter meist zum selben Schluss: Es läuft nicht gut in den Städten des Ruhrgebiets, viele Kommunen sind verschuldet und das Sicherheitsgefühl vieler Bürgerinnen und Bürger sinkt seit Jahren. Viele Innenstädte haben mit Leerstand zu kämpfen, die Drogenszene nimmt ganze Plätze für sich in Anspruch. Und Banden vornehmlich aus dem südosteuropäischen Raum pferchen Landsleute unter menschenunwürdigen Bedingungen in leerstehende Abrisshäuser, kassieren deren Sozialleistungen.
SPD-Wähler wandern zur AfD ab: „SPD hat sich zu sehr mit Wokeness aufgehalten“
Die SPD indes scheint die einstige Stammwählerschaft nicht mehr zu erreichen – und zuletzt war eine Wählerbewegung von der SPD weg und zur AfD hin zu beobachten. Sigmar Gabriel, Ex-SPD-Chef und Ex-Vizekanzler, sagte wenige Tage vor der NRW-Wahl im Gespräch mit dieser Redaktion: „Die SPD ist zu durchakademisiert. Sie hat sich in den letzten Jahren immer wieder zu sehr mit Debatten über Wokeness aufgehalten.“ Die Sprache der einstigen Kernklientel habe die Partei nicht mehr drauf.
Jochen Ott, SPD-Fraktionsvorsitzender im NRW-Landtag sagte gegenüber der Frankfurter Rundschau von Ippen.Media: „Alle, die für eine weltoffene Gesellschaft einstehen, können mit diesem Ergebnis nicht zufrieden sein.“ Man müsse die AfD „jetzt noch viel härter inhaltlich stellen“. Derweil hat die AfD schon bei vorhergegangenen Wahlkämpfen viel Wert auf die sozialen Medien gelegt. Bei Tiktok etwa hat sie seit Jahren viel höhere Reichweiten als alle anderen Parteien. „Wir haben noch keine Antwort darauf gefunden, wie wir gegen die unglaublichen Reichweiten der AfD bei Tiktok und Co., die ja auch noch von Tech-Milliardären aus den USA protegiert wird, erfolgreich ankämpfen können“, konstatiert Ott.
NRW-Wahl: Zufriedenheit bei der AfD in Gelsenkirchen
Bei der AfD gab man sich entspannt und zufrieden. Der Wahlkampf sei prima gelaufen, sagte Kandidat Norbert Emmerich gegenüber dieser Redaktion. Reichere Stadtteile wie Buer habe man eher linksliegen lassen. „Da haben wir keine Wählerschaft. Das ist ja der letzte Stadtteil, der noch keine Probleme hat“, so Emmerich.
Bis zum frühen Abend blieb es allerdings erstaunlich leer in den Räumen der AfD, erst nach und nach trudelten Mitglieder zur Wahlparty ein. Grund: Viele Mitglieder hatten sich an Wahllokalen postiert. Man wolle beobachten, ob es bei der Auszählung der Wahlzettel auch mit rechten Dingen zugehe, heißt es von AfD-Leuten. (Quellen: Recherchen vor Ort)