Frankfurt am Main – Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 1.600 Kinder mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte (LKGS) geboren. Entscheidend für ihre Entwicklung sind spezialisierte Spaltzentren, in denen Chirurgie und Kieferorthopädie Hand in Hand arbeiten.
Zum Team gehören auch die Pädiatrie, die HNO-Heilkunde – viele Kinder benötigen Paukenröhrchen – sowie die Logopädie, die die Sprachentwicklung begleitet. Die komplexe Versorgung gilt als Beispiel für moderne interdisziplinäre Medizin, die betroffenen Kindern heute sehr gute Chancen auf ein weitgehend normales Aufwachsen eröffnet.
Anfang September haben sich in Frankfurt am Main mehr als 400 internationale Spezialistinnen und Spezialisten beim 17. Weltkongress der International Cleft Lip and Palate Foundation (ICPF) getroffen, um sich über neueste Therapiekonzepte, chirurgische Innovationen und globale Hilfsprojekte auszutauschen.
Robert Sader /privat
5 Fragen an Robert Sader, Kongresspräsident und Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie an der Universitätsmedizin Frankfurt.
Welche Ursachen und Risikofaktoren sind heute bei der Entstehung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten bekannt?
In den allermeisten Fällen tritt die Spaltbildung neu auf, eine klare Ursache lässt sich selten benennen. Eltern brauchen sich deshalb keine Vorwürfe zu machen – klassische Risikofaktoren wie Nikotin, Alkohol oder Stress spielen nach aktuellem Wissensstand keine Rolle, auch wenn im Internet dazu fälschlicherweise anderes zu lesen ist. Nur in wenigen Familien ist eine genetische Vererbung nachweisbar.
Vermutlich liegt eine gestörte Proteinfunktion zugrunde, die im 2. Schwangerschaftsmonat das Zusammenwachsen des Oberkiefers verhindert. Da Lippen-Kiefer-Gaumenspalten nicht im Tierreich vorkommen, gestaltet sich die Ursachenforschung allerdings schwierig.
Ein intensiv diskutiertes Thema beim Kongress war die Prävention. Es gibt Hinweise, dass eine hochdosierte Folsäuregabe das Risiko einer Spaltbildung senken könnte – ähnlich wie sie bereits zur Vorbeugung einer Spina bifida empfohlen wird. Allerdings könnte die bislang übliche Dosis von 0,4 mg pro Tag zu gering sein. Studien deuten darauf hin, dass für einen vorbeugenden Effekt deutlich höhere Mengen von 10 mg/Tag notwendig wären.
Wie sieht der zeitliche Behandlungsablauf für ein Kind mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte aus und welche Fachrichtungen sind typischerweise beteiligt?
Die Behandlung sollte immer in spezialisierten Zentren erfolgen und ist interdisziplinär organisiert – ähnlich wie in der Onkologie. Deutschland gehört hier zur Spitzengruppe, auch wenn verbindliche Vorgaben bislang fehlen. In Ländern wie England oder Skandinavien sind Qualitätsstandards schon länger etabliert.
Im Zentrum stehen Kieferorthopädie sowie Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, weshalb Spaltzentren meist von einem dieser Fächer geleitet werden. Direkt nach der Geburt beginnt die Kieferorthopädie mit einer Gaumenplatte, heute mithilfe von Intraoralscans gefertigt, einer digitalen, berührungslosen Abformung des Mundraums. Die Gaumenplatte erleichtert das Trinken, normalisiert die Zungenlage und kann den Zwischenkiefer vor der Operation in eine bessere Position bringen.
Kieferorthopädische Masterclass zum Intraoralscannen bei Babys beim 17. Weltkongress der International Cleft Lip and Palate Foundation (ICPF) mit Übungen an einem Phantommodell /Robert Sader
Ab dem 4. Lebensmonat erfolgt der chirurgische Spaltverschluss: in Deutschland meist in 2 Eingriffen mit 6 und 12 Monaten, in vielen europäischen Zentren zunehmend einzeitig mit rund 5 Monaten – ohne Nachteile für das Wachstum, wie die AWMF-Leitlinie betont.
Vor der Einschulung können kleinere ästhetische Korrekturen erfolgen. Danach übernimmt die Kieferorthopädie bis zum Wachstumsabschluss, bevor gegebenenfalls abschließende Eingriffe folgen.
Zu dem Thema Ästhetik wurde auf dem Kongress in 2 spannenden Vorträgen gezeigt, wie man dann die sichtbare Lippennarbe auch noch absolut kaschieren kann. Bei Männern kann zum Beispiel mit einer Haartransplantation in Form eines Schnurrbarts die Narbe verdeckt werden. Frauen lassen die Narbe eher mit einem Permanent-Make-Up nahezu verschwinden.
Welche prägenden Fortschritte gibt es in der chirurgischen Therapie und Versorgung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten in den vergangenen Jahren?
Lange Zeit lagen die Fortschritte vor allem in verfeinerten chirurgischen und kieferorthopädischen Techniken. Ein wichtiger Schritt war die Anerkennung des einzeitigen Spaltverschlusses als gleichwertige Methode, die heute in immer mehr Zentren zum Standard wird.
Neu hinzu kommt der Einsatz von Hochtechnologie: So werden Gaumenspalten in einem Zentrum in Antwerpen bereits mit Unterstützung des DaVinci-Roboters durchgeführt. Vorteil ist die hochpräzise Präparation der Gaumensegelmuskulatur, die für ein ungestörtes Sprechen verantwortlich ist.
Noch verhindert die Größe der Instrumente eine vollständige Operation mit Robotik, doch Miniaturisierungen sind absehbar. Langfristig wird sogar die Möglichkeit eines intrauterinen Verschlusses diskutiert, was Narbenbildung vermeiden könnte.
Auch beim Knochenaufbau gibt es Fortschritte: Erste Ergebnisse zeigen, dass man bei der sogenannten Kieferspaltosteoplastik, bei der die knöcherne Kieferspalte im Wechselgebissalter verschlossen wird, indem statt des üblichen Knochentransplantates aus dem Beckenkamm jetzt auch moderne Knochenersatzmaterialien vermischt mit autologem Blutkonzentrat des Patienten eingesetzt werden. So kann die Zweitoperation der Knochenentnahme am Beckenkamm mit ihrem sogenannten Hebedefekt (dort Schmerzen, Schwellung, Narbenbildung, Infektionsmöglichkeit) ersetzt werden.
Wie können betroffene Familien langfristig unterstützt werden – auch im Hinblick auf Sprache, soziale Integration und psychische Gesundheit des Kindes?
Die beste Unterstützung ist eine professionelle und kompetente Behandlung an einem echten interdisziplinären Spaltzentrum. Wenn die Therapie leitliniengerecht erfolgt, können die meisten Kinder mit normaler Sprache eingeschult werden und haben später weder soziale noch psychische Einschränkungen. Meist bleibt lediglich eine feine Narbe an der Lippe zurück, die sich bei Bedarf wie beschrieben auch kosmetisch kaschieren lässt.
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Zur Seite des 17. Weltkongresses der International Cleft Lip and Palate Foundation (ICPF)
S3-Leitlinie Therapie der Lippen-Kiefer-Gaumen Fehlbildungen
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Trotz dieser guten Aussichten empfinden manche Familien die Diagnose als belastend. Hier leistet die Wolfgang Rosenthal Gesellschaft seit Jahrzehnten wertvolle Unterstützung. Als Selbsthilfeorganisation begleitet sie Betroffene mit Erfahrung und Beratung – und war selbstverständlich auch auf dem Kongress vertreten.
Was waren nun Ihre persönlichen Highlights des Kongresses? Was hat Sie besonders beeindruckt?
Besonders beeindruckt hat mich die große internationale Beteiligung – aus 53 Ländern waren Spezialistinnen und Spezialisten nach Frankfurt gekommen. Neben dem fachlichen Austausch war die Atmosphäre außergewöhnlich familiär und von echter Kollegialität geprägt.
Besonders der Vorkongress mit 8 Masterclasses war ein Highlight: 132 Teilnehmende nutzten die Gelegenheit, von internationalen Top-Expertinnen und -Experten aus der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, Kieferorthopädie und Logopädie zu lernen.
Hervorheben möchte ich außerdem den humanitären Teil der Tagung, der bei wissenschaftlichen Kongressen sonst kaum Raum einnimmt. Zahlreiche Hilfsprojekte für Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten in ärmeren Ländern wurden vorgestellt – einschließlich ihrer Konzepte, Erfolge und auch der Herausforderungen. Gerade hier zeigt sich, dass der Bedarf an solcher Unterstützung nach wie vor immens ist.