Dass Jan Marsaleks Weg von Aschheim, Einsteinring 35, Landkreis München, nach Moskau führen würde, denkt niemand, der mal vor dem vierstöckigen Zweckbau mit dem Charme einer Kreisverwaltungsbehörde gestanden hat. Mehr Gewerbegebiets-Tristesse geht kaum, als am Ex-Firmensitz von Wirecard. Umso schillernder wirkt einmal mehr, was gemeinsame Recherchen von Spiegel, ZDF, Standard, PBS-Frontline und der Plattform The Insider ergeben haben.
Denen zufolge soll Marsalek, früher Chief Operating Officer des insolvent gegangenen Finanzdienstleisters, nicht nur unter falscher Identität in Moskau leben, sondern für den russischen Inlandsgeheimdienst FSB tätig sein. Dass Marsalek ein Faible für das Spionagewesen hat, ist nicht neu. Die aufwendigen Recherchen auf Basis von Mobilfunkdaten und Bewegungsprotokollen erhärten nun diesen Verdacht. Das Handy des Ex-Managers soll zwischen Januar und November 2024 etwa 304-mal in der Nähe der Moskauer FSB-Zentrale erfasst worden sein.
Prozess gegen Markus Braun könnte dieses Jahr zu Ende gehen
Damit nicht genug. Der Mann, dessen ehemaliger Chef Markus Braun sich seit Dezember 2022 vor dem Landgericht München I in einem schon über 200 Verhandlungstage andauernden Mammutverfahren wegen Betrugs und Untreue verantworten muss, soll zudem an Einsätzen im Ukraine-Krieg hinter den Frontlinien beteiligt gewesen sein. Wie der Rechercheverbund um den Spiegel außerdem herausgefunden haben will, soll Europas meistgesuchter, mutmaßlicher Betrüger, wohl mit mehreren Scheinidentitäten ausgestattet sein. Einen echten russischen Pass soll der Enttarnte den Angaben zufolge inzwischen auch haben: Demnach sei Marsalek vorgeblich am 22.02.1978 im sowjetischen Riga geboren, sein neuer Deckname laute Alexander Michaelowitsch Nelidow.
Gegen den 45-Jährigen Marsalek, tatsächlich in Österreich geboren und in der Nähe von Wien aufgewachsen, ermittelt die Staatsanwaltschaft München I wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, Untreue, gewerbsmäßiger Marktmanipulation, unrichtiger Darstellung und Geldwäsche im Zusammenhang mit Wirecard. Er wird zudem auf der Red-Notice-Liste von Interpol geführt – also mit internationalem Haftbefehl gesucht. Und wenn es außerdem um Spionage geht, ist auch die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe als zuständige Behörde mit von der Partie.
Ins Rollen gekommen war der ganze, diverse Verfahren nach sich ziehende Skandal, als im Juni 2020 bekannt wurde, dass Wirecard 1,9 Milliarden Euro fehlten, die in der Bilanz ausgewiesen waren. Wenig später musste das Unternehmen Insolvenz anmelden und Deutschland hatte einen der größten Wirtschaftsskandale der letzten Jahrzehnte. Vor dem Crash war Wirecard vom kleinen Zahlungsdienstleister für das Porno- und Glücksspielgeschäft bis zum Dax-Konzern mit namhaften internationalen Großkunden aufgestiegen.
Insolvenzverfahren noch lange nicht vorbei
Das Verfahren gegen Marsaleks Ex-Boss Braun könnte noch in diesem Jahr enden, auch wenn die Beweisführung noch nicht abgeschlossen ist und die Plädoyers weiterhin nicht terminiert sind. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Braun mit Ex-Vertriebsvorstand Marsalek und weiteren Komplizen die Wirecard-Bilanzen über Jahre mit Hilfe nicht vorhandener Umsätze und Gewinne fälschte und so die kreditgebenden Banken betrog. Braun dagegen argumentiert, dass Marsalek und dessen Bande zwei Milliarden Euro veruntreut hätten und den Konzern nur benutzten, um unter der Hand Geschäfte auf eigene Rechnung zu betreiben.
Insolvenzverwalter Michael Jaffé, der im Sommer als Zeuge geladen war, hatte zuvor diese Verteidigungslinie des früheren Vorstandschefs Markus Braun zerpflückt. Die in der Wirecard-Bilanz verbuchten 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten in Südostasien habe es nicht gegeben, sagte der Rechtsanwalt. Er ist seit fünf Jahren mit der Suche nach den vermissten Milliarden beschäftigt. „Dass da irgendetwas rausgedreht worden wäre, ist ausgeschlossen“, sagte Jaffé. Bis wann das Insolvenzverfahren mit seinen zehntausenden Forderungen, die insgesamt im Milliarden-Euro-Bereich liegen, zu Ende geht ist nicht absehbar.
Marsalek lebt derweil sein Leben. Dazu gehört wohl auch eine neue Partnerin. Auch sie soll den weiteren Angaben zufolge für den russischen Geheimdienst arbeiten. Wenn es eine neue Beziehung gibt, ändert sich nicht selten auch die Frisur bei den Frisch-Liierten. Auf den Fotos, die Spiegel & Co veröffentlicht haben, ist ein Mann zu sehen, der den vormals sehr breiten Scheitel offenbar mittels Haartransplantationen zu schmälern versucht hat. Laut Spiegel hat Gesichtserkennungssoftware Marsalek identifiziert.
Ob mit Platte oder ohne – es bleibt die Frage: Wie wollen die deutschen Behörden seiner in Russland habhaft werden? (mit dpa)
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Stefan Küpper
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