Wie wird das Leben im Jahr 2119 aussehen? Anders als heute, so beschreibt es der Schriftsteller Ian McEwan, da zwischendurch vielleicht eine große Überflutung viele Städte und Menschen ausgelöscht haben wird. Und doch könnte es immer noch Literaturwissenschaftler geben, die über Sonette nachdenken, die hundert Jahre zuvor geschrieben wurden. Heute also, in einer Zeit, die Forscher der Zukunft faszinieren wird in ihrer Widersprüchlichkeit, mit Menschen voller „Freiheit und Hemmungslosigkeit“, so unerschrocken wie streitlustig, so brillant wie zugleich idiotisch.
Der britische Schriftsteller Ian McEwan ist ein Meister darin, unsere Zeit und uns Menschen aus ungewohnten Perspektiven zu beleuchten. In seinem neuen Zukunftsroman „Was wir wissen können“, der in diesen Tagen erscheint, gelingt ihm das wieder in besonderer Weise. Es ist kein Blick im Zorn, den sein Wissenschaftler auf unsere Zeit wirft, eher ein Blick verwunderter Neugier, begleitet von mildem Kopfschütteln. Ob tatsächlich in hundert Jahren noch jemand Muße haben wird, den Gedichten von heute nachzuspüren? Hoffentlich ist diese Idee nicht zu schön, um wahr zu werden.
Zunächst einmal wird Ian McEwan jedenfalls in der Gegenwart erklären, was ihn zu seinem Roman inspiriert hat: Am 8. Oktober stellt er ihn in der Muffathalle vor. Und diese Lesung ist nur ein Höhepunkt unter vielen in einem Literaturherbst, der zahlreiche prominente Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit neuen Romanen, Krimis und Sachbüchern nach München bringen wird.
Der britische Bestseller-Autor Ian McEwan stellt seinen neuen Roman „Was wir wissen können“ in der Muffathalle München vor. (Foto: Annalena McAfee)
Zum Beispiel den unermüdlich schreibenden und reisenden US-amerikanischen Bestseller-Autor T.C. Boyle. Von der bemerkenswerten Tatsache abgesehen, dass sein neuer Roman früher auf Deutsch als auf Englisch erscheint: Auch die Hallen für seine Auftritte werden immer größer, und das Setting wirkt immer spektakulärer. Diesmal hatte jemand die schrägschöne Idee, Boyle mit dem Schauspieler Ben Becker zusammenzubringen: Die beiden werden gemeinsam auf „No way home“-Tour durch Deutschland gehen, am 24. November in München Station machen und die Isarphilharmonie vermutlich spielend füllen.
Das sind nur einige Spitzen, die aus den Bücherbergen ragen. Auch die US-amerikanische Schriftstellerin Joy Williams gibt sich die Ehre (Literaturhaus, 5.12.) oder der französisch-ruandische Schriftsteller und Sänger Gaël Faye (24.9.). Und aus dem deutschsprachigen Raum sind sowieso jede Menge prominenter Autoren in München zu erwarten, ob Wladimir Kaminer (Lustspielhaus, 28.9.) oder Leif Randt (Literaturhaus, 27.11.).
Oder Caroline Wahl, die mit ihrem auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste emporgeschnellten Roman „Die Assistentin“ am 8. Oktober im (ausverkauften) Volkstheater zu erleben ist – sowie zwei Tage später beim ebenfalls bereits ausverkauften Bookstok Festival von Hugendubel in den Bavaria Studios. Streamend kann man aber noch dabei sein, wenn am 10. und 11. Oktober auch Benjamin von Stuckrad-Barre, Jussi Adler-Olsen und weitere Literaturstars auf dem Studio-Sofa plaudern.
Auch Preise fokussieren die Aufmerksamkeit im Literaturbetrieb, allen voran derzeit auf Dorothee Elmiger, die mit ihrem Roman „Die Holländerinnen“ auf gleich drei wichtigen Shortlists steht, zum Bayerischen, Deutschen und Schweizer Buchpreis. Am 19. September kann man sich bei ihrer Lesung im Literaturhaus ins Thema einhören. Beim Bayerischen Buchpreis am 28. Oktober wird Elmiger neben Annette Pehnt mit Dagmar Leupold um Preisgeld und Porzellanlöwen konkurrieren. Worum es in Leupolds Roman „Muttermale“ geht, wird zuvor am 2. Oktober im Literaturhaus zur Sprache kommen. Und da wir schon bei Preisen sind: Bereits entschieden ist, dass Katja Lange-Müller den diesjährigen Thomas-Mann-Preis erhält; am 13. November ist die öffentliche Verleihung in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
So schön es ist, dass Schriftstellerinnen heutzutage nicht mehr oft nur mit Förderpreisen abgespeist werden – immer noch ist insgesamt viel weibliche Wut in den Büchern dieses Herbstes zu spüren. Ulrike Draesner hat sich in einem „Postepos“ der mythologischen Figur Penelope gewidmet und schickt sie in „Penelopes Sch()iff“ auf eine befreiende Reise (Lyrik Kabinett, 24.9.). Tara-Louise Wittwer sucht in „Nemesis’ Töchter“ und einer bereits ausverkauften Lesung am 1. Oktober im Fat Cat nach den historischen Wurzeln von „Female Rage“. Wütend sind auch die Frauenfiguren von Eva Reisinger und Mareike Fallwickl, die am 17. Oktober im Literaturhaus in „Das Pen!smuseum“ einführen. Und auch in Trauer mischen sich ja oft unterschiedliche andere Gefühle: Aufschlussreich und womöglich aufwühlend wird sicherlich das Gespräch von Nora Gomringer, Olga Martynova und Augusta Laar zum Thema (Literaturhaus, 24.11.).
Rita Falk schreibt im neuen Eberhofer-Krimi um ein „Apfelstrudel-Alibi“ herum . (Foto: IMAGO/Christoph Hardt)
Immer wieder geht es im Leben darum, innere und äußere Dämonen zu besiegen; Krimi- oder Horrorromane spielen das oft stellvertretend durch. Ein gar schauerliches Ereignis ist es sicherlich, wenn am 26. Oktober im Volkstheater der Schauspieler und Autor Matthias Brandt und der Musiker Jens Thomas ihre Wort-Musik-Collage „Dämon“ nach Guy de Maupassants Erzählung „Le Horla“ präsentieren, einem frühen Meisterwerk der Horrorliteratur.
Wenn Rita Falk einen Krimi herausbringt, ist weniger Horror im Spiel als vielmehr Vorfreude bei den Fans: „Apfelstrudel-Alibi“ heißt der neue Band, Buchpremiere ist am 16. November in der Komödie im Bayerischen Hof (18.11. Zusatztermin). Und der Krimi-Herbst bietet noch einiges mehr, zum Beispiel einen neuen Thriller von Arne Dahl (3.11., Lehmkuhl), auch wenn bei einigen Veranstaltungen die Details noch als „top secret“ gelten.
Überhaupt ist noch manches geheim, was die Herbsttermine angeht; etwa wer den Geschwister-Scholl-Preis am 25. November erhält (26.11. öffentlicher Lehmkuhl-Abend). Das Programm der Münchner Bücherschau, die vom 20. November bis 7. Dezember im Haus der Kunst stattfindet, ist dagegen soeben veröffentlicht worden: Neben einem wie immer großen Kinder- und Jugendprogramm stellt für die Erwachsenen unter anderem Susanne Abel ihren Familienroman „Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104“ vor (21.11.). Caro Matzko spricht mit Hannes Ringlstetter anhand ihres Buches „Alte Wut“ über Väter und vererbte Traumata der Kriegsgeneration (23.11.), und Ewald Arenz (7.12.) wird ebenso erwartet wie der Historiker Christopher Clark, der in „Skandal in Königsberg“ einen Justizfall aus dem 19. Jahrhundert aufgreift (24.11.).
Bestseller-Autor Christopher Clark wird bei der Münchner Bücherschau im Haus der Kunst erwartet. (Foto: Oliver Berg/picture alliance/dpa)
Was das Sachbuch und insbesondere politische Themen angeht, so ist auch andernorts einiges geboten: Am 5. Oktober wird der Politologe Herfried Münkler in den Kammerspielen über die Macht-Konstellationen in einer zunehmend unberechenbaren Welt diskutieren. Natalie Amiri nimmt am 1. Dezember im Literaturhaus den unlösbar scheinenden Nahost-Komplex in den Blick, am 20. Oktober fragen dort Francesca und Gerald Knaus: Welches Europa brauchen wir? Dazu passt ein Gespräch über den Osten Deutschlands, das der Politiker Bodo Ramelow und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk dort am 19. November führen.
Es passt dazu auch eine Lesung von Carolin Emcke, die am 27. Oktober im NS-Dokuzentrum mit ihrem Buch „Respekt ist zumutbar“ ein Zeichen gegen Gewalt und Menschenfeindlichkeit und für Empathie setzen will. Einen Weckruf hat auch Michel Friedman im Sinn, der am 26. Oktober im Literaturhaus mit seinem Buch „Mensch!“ eine Liebeserklärung an die Demokratie abgibt und auch wieder diskutierend in den Kammerspielen zu erleben ist (zum Beispiel mit Physiker Harald Lesch am 19.11.). Und wenn Bestseller-Autor Florian Illies über die Familie Mann in Sanary schreibt (Kammerspiele, 5.11.), ist natürlich auch das politisch: Der französische Ort am Mittelmeer war für die Schriftstellerfamilie wie für viele andere 1933 eine Exilstation auf der Flucht vor den Nationalsozialisten.
Wer sich näher mit Thomas Mann und zum Beispiel seinen Tagebüchern beschäftigt, weiß, dass Politik zwar ein existenziell wichtiges, jedoch nicht das allein beherrschende Thema für ihn war: Der Literaturnobelpreisträger hatte oft genug auch Ärger mit seiner Verdauung und klagte über „ungehörige Darmverhältnisse“. Leider konnte er noch nicht den Bestseller „Darm mit Charme“ von Giulia Enders lesen, der ihm wie inzwischen einem Millionenpublikum sicher gute Tipps gegeben hätte. Enders führt ihre Körpererkundungen nun im Buch „Organisch“ weiter (Literaturhaus, 21.10.).
Ach, es gibt noch so viele schwerverdauliche Themen mehr, die die Menschen bewegen. Etwa die Frage, wie man seine pubertierenden Kinder in den Griff bekommt – da weiß Bestseller-Autor Jan Weiler Rat (Volkstheater, 7.12.). Oder die Frage, wie man überhaupt einigermaßen gut durch dieses seltsame Leben kommt. „Liebe!“ nennt Daniel Schreiber, letztjähriger Kurator des Münchner Literaturfests, in seinem neuen Buch als Antwort (Literaturhaus, 16.12.). Das klingt so naheliegend wie vertrackt. Doch wahrscheinlich ist Liebe in einem umfassenden Sinn der einzige Weg für die Menschheit, gut durchzukommen bis ins Jahr 2119.
Lesungen im Herbst in München, Informationen unter anderem unter literaturhaus-muenchen.de, muenchner-buecherschau.de, muenchner-kammerspiele.de oder muenchner-volkstheater.de