Stand: 19.09.2025 06:00 Uhr
Édouard Louis zählt zu den wichtigen Stimmen der jungen, französischen Literatur. Sein neuer Roman „Der Absturz“ ist eine posthume Auseinandersetzung mit seinem verstorbenen Bruder.
Bei Édouard Louis gibt es keine Umschweife, kein sanftes Hineingleiten in die Tragik der Geschichte; da beginnt der Roman gleich mit einem Knall – und dann folgt eine kaum auszuhaltende, geradezu ohrenbetäubende Stille:
Als ich vom Tod meines Bruders erfuhr, empfand ich nichts; weder Traurigkeit, noch Verzweiflung, noch Erleichterung, noch Freude.
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Auf der Suche nach dem Bruder – eine schwierige Annäherung
Das Verstörende ist nicht etwa die Nachricht vom Tod des Bruders, sondern die ausbleibende Reaktion des Ich-Erzählers. Kein Gefühl ist da übrig für das Familienmitglied. Was kann, was muss da vorgefallen sein? 38 Jahre war der verstorbene Bruder alt, als er in seiner Wohnung zusammengebrochen ist. Herzstillstand und die Organe machten nicht mehr mit. Er war schwerer Alkoholiker. Der Ich-Erzähler fährt zur gemeinsamen Mutter, um ihr bei der „Bürokratie des Sterbens“ beizustehen. Über den Bruder sprechen sie nicht, nur über Mahlzeiten und Organisatorisches:
Ich fand alles, was ich sagte, idiotisch. Ich hasste die Sprache, hasste meine Zunge, hasste meinen Mund, hasste meine Stimme.
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Der Ich-Erzähler Édouard entblättert nach und nach das Leben des Bruders, versucht diesen rätselhaften, so ganz anderen Menschen zu verstehen, ihn nach zehn Jahren Funkstille nachträglich kennenzulernen. Er spricht mit der Familie über ihn, mit den Ex-Freundinnen. Die Geschwister wuchsen in armen Verhältnissen in einem französischen Dorf auf, bei ruppigen Eltern, die sie klein hielten und demütigten. Während der Ich-Erzähler sich aus dieser engen Welt befreite, aufs Gymnasium ging und in Paris studierte, wurde sein Bruder drogen- und alkoholabhängig, gewalttätig und kriminell. Er schwänzte die Schule und später die Ausbildung.
Der französische Schriftsteller befragt 2019 von Katja Weise.
Analytische Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte
Wie in seinen vorigen Romanen schreibt Édouard Louis auch in „Der Absturz“ sehr autobiografisch. Seine Begründung: Menschen und Themen der Arbeiterklasse hat er in der Literatur oft vermisst: „Wenn ich schreibe, will ich so wahr wie möglich über die Welt schreiben. Ich habe immer den Eindruck, dass die Wirklichkeit selten vorkommt, sie oft gar kein Thema ist. Ich muss Geschichten erzählen, die mich der Welt, wie ich sie als Kind erlebt habe, wieder nahe bringen. Ich muss diese Menschen sichtbar machen.“
Die Sprache des Romans ist anspruchsvoll und kantig: gedankliche Einschübe, Relativsätze, indirekte Rede, Schlüsselpassagen, die sich wie im Remix wiederholen. Beim Lesen dieses eigentlich tieftraurigen Textes erleben wir eine sehr rationale, analytische Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte, flankiert von Wissen der Psychoanalyse und Soziologie. Dieser distanziert-kühle Sound ist gewöhnungsbedürftig, ein vermeintlicher Widerspruch. Aber gerade weil das Buch so geschrieben ist, zielen die vereinzelten gefühlvollen Momente dann besonders in die Magengrube. Das sitzt. Etwa wenn der Erzähler seine Mutter ansieht:
In mir drin dachte ich: „Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass dein Sohn tot ist.
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Literatur zwischen Fiktion und Realität
Die Familie im Buch ist alles andere als begeistert, immer wieder zum literarischen Stoff zu werden. Bei der ersten Veröffentlichung wollte der Bruder den Autor sogar aus Wut umbringen. So war es auch in Wirklichkeit bei Louis. So viel Selbstreferenz und -entblößung ist erstaunlich. Offen bleibt, wie viel Fiktion ist, wie viel echtes Leben des Autors. Und gerade das wirft die Frage wieder an uns zurück: Ist es überhaupt wichtig, das zu unterscheiden? Ist unsere Lust, mehr über das Intimste des Schriftstellers zu erfahren, nicht vermessen?
Aufrüttelnde Fragen des Lebens
Warum beginnt ein Mensch zu hassen? Wie entfremden sich Brüder? Bis zu welchem Zeitpunkt lässt sich ein sozialer Absturz noch abwenden? Kann es sein, dass in einer Familie alle im Recht und gleichzeitig im Unrecht sind? Es sind große, mächtige Fragen, die der neue Roman von Louis in aller Härte stellt. Ohne Kitsch, ohne Pose. Das liest sich wie ein düsterer Bericht, fast dokumentarisch. Dennoch oder gerade deswegen ist das Buch extrem aufrüttelnd.
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