Als Stella plötzlich auf sich allein gestellt wird, ist sie gerade fünfzehn. Der Tag beginnt, wie so viele zuvor, außer dass ihr Vater im Bett liegen bleibt. Zunächst ist Stella irritiert, schließlich steht das gemeinsame Frühstück bevor. Doch aus dem ersten Unbehagen wird rasch ein zäher, fast trotzig anmutender Mechanismus der Verdrängung. Sie will nicht glauben, dass er tot ist. „Bei Vater war man nie sicher, was als Nächstes passieren, was er sagen, wohin er aufbrechen oder welchen Dingen er sich widmen würde. Warum sollte das im Tod anders sein?“ Also blendet sie aus, was nicht in ihr Bild passt, und versucht, an der gewohnten Alltagsroutine festzuhalten. Vielleicht wacht Vater ja doch gleich wieder auf, vielleicht ist das alles nur eines seiner unberechenbaren Spiele.
Doch es bleibt nicht bei diesem flüchtigen Vielleicht. Als der nächste Tag anbricht, wird die Wahrheit unausweichlich und unwiderruflich, der Vater wird schließlich von einem Krankenwagen abgeholt. Der Totenschein wird ausgestellt, und die Nachbarn versprechen, sich um das Mädchen zu kümmern. Vorausgesetzt, sie benötigt ihre Hilfe. Doch Stella braucht selten welche. Sie ist still, eigenwillig und in vielem älter, als es ihre fünfzehn Jahre vermuten lassen. Eine Außenseiterin, irgendwo in der österreichischen Provinz, die lange Zeit in einem abgeschlossenen Kosmos lebte, einem Universum, das einzig aus zwei Menschen bestand: ihr und ihrem Vater.
Wie geht man damit um, wenn jene zentrale Figur, die zugleich Vater, Lehrer, Freund und einziger Lebensanker war, plötzlich fehlt? Wenn von einem Moment zum nächsten das gewohnte Leben zerbricht? Der in Wien lebende österreichisch-tschechische Schriftsteller und Übersetzer Michael Stavarič, der unter anderem mit dem Adelbert-Chamisso-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet wurde, hat bereits zahlreiche Kinderbücher veröffentlicht.
Was ist mit der Mutter?
Auch in diesem Roman ist spürbar, wie virtuos er – nun ein Mann jenseits der fünfzig – sich in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Mädchens hineinversetzen kann. In seinem kunstvoll komponierten Werk „Die Schattenfängerin“ entfaltet Stavarič die Geschichte einer außergewöhnlichen Vater-Tochter-Beziehung – geprägt von Nähe und Distanz, Zärtlichkeit und Geheimnissen. Der Vater ist im Geschehen bereits abwesend und doch im gesamten Text gegenwärtig – durch Stellas Erinnerungen, Gedanken und die Spuren, die er in ihrem Leben hinterlassen hat. Und durch all die Fragen, die unbeantwortet geblieben sind. Warum unterrichtete der Vater Stella zu Hause, fern von Gleichaltrigen, fern von gesellschaftlichen Erwartungen? Warum durfte sie nie ihre Mutter, Grete, besuchen, die seit ihrer Kindheit in einer psychiatrischen Einrichtung lebte? Warum nahm er sie nie mit auf seine Reisen, die stets einem bestimmten Naturphänomen galten: der Sonnenfinsternis? Fünfzehnmal ließ er sie bei den Nachbarn zurück, um in ferne Länder aufzubrechen, oft nach Afrika. „Die Sonne verehrte und begehrte er in einer Weise, wie ein Mann normalerweise zu seiner Frau steht, die Tochter hatte da wohl schlechtere Karten.“ Jedes Mal ließ der Vater Stella mit Fragen zurück – unbeantwortet, aber tief eingeprägt.
Garten wird zu Dschungel
In einem Interview meinte Michael Stavarič, es ginge ihm in dem Buch auch um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Als Autor von Sachbüchern für Kinder wie „Faszination Krake“, das Kindern die Besonderheiten dieser außergewöhnlichen und hochintelligenten Meeresbewohner nahebringt, gelingt es ihm ebenso, die Wunder des Himmels wie Sonnenfinsternisse und andere astronomische Phänomene greifbar zu machen. Auch die üppige Wildheit eines Gartens, der scheinbar ungebändigt vor sich hin wuchert, werden bei ihm zu poetischen Bildern. Während Stella allein im Haus wohnen bleibt, überlässt sie das Terrain sich selbst, und bald gleicht ihr Garten einem Dschungel, zum Ärger der Nachbarn. „Ich dachte an den dichten Dschungel Afrikas und wie die Natur jederzeit und überall auf der Welt in der Lage dazu ist, die Beweise jeder menschlichen Existenz zu vernichten.“
Es sind die leisen Töne, die in diesem Buch nachhallen – nicht das laute Drama oder aufreibende Konflikte, sondern das Unausgesprochene, das Verdrängte, das allmählich in die Wirklichkeit durchsickert. Die Ich-Erzählerin ist sehr reflektiert, ihre Sprache ist oft poetisch, zurückgenommen und zugleich eindringlich. Als höre man das Schweigen zwischen den Zeilen und sehe die Leerstellen zwischen den Erinnerungen.
Getuschelt wird viel im Dorf
Die bei diesem Autor stets wiederkehrende Sympathie für das Surreale und Absurde begegnet einem auch bei der „Schattenfängerin“. So verfügt Stella über außergewöhnliche Fähigkeiten: Sie vermag ihren Nachbarn, die sie wegen ihres verwilderten Gartens anzeigen wollen, die Schatten gewaltiger Felsbrocken anzuheften, sodass diese sich von da an nur noch mühsam und wie beschwert durchs Leben schleppen, und dem Pfarrer, dem sie noch etwas heimzuzahlen hat, hängt sie den Schatten eines Friedhofkreuzes an, wodurch er wirkt, als trüge er selbst ein Kreuz. Im Dorf bleibt Stella ein Sonderfall. Sie lebt weiter im Haus auf dem Hügel, fährt allein zum Einkaufen, hilft bald dem Totengräber aus. Ihre Umgebung begegnet ihr mit einer Mischung aus Mitleid und Respekt, manchmal mit Misstrauen. Getuschelt wird viel – doch Stella kümmert das wenig. Sie hat andere Fragen, andere Maßstäbe. Die Welt, die ihr Vater ihr hinterlassen hat, ist voller Licht und Schatten.
Ursprung des Lebens
Um dem längsten Schatten, den der Vater hinterlassen hat, näherzukommen, reist Stella einige Jahre später nach Afrika und will dem Naturphänomen beiwohnen, von dem ihr Vater so fasziniert war. Sie fliegt in den Kongo und erlebt ihre erste Sonnenfinsternis. Als eine unerwartete Offenbarung plötzlich das tiefste Geheimnis in Stellas Leben ans Licht bringt, markiert das eine überraschende Wendung. Plötzlich wird das bisherige Leben in den Schatten gestellt, und es tauchen mehr Fragen auf, als beantwortet wurden. Ist das der absolute Nullpunkt, der Ursprung eines neuen Lebens?
Die Sonnenfinsternis, auf die Stella so lange hingefiebert hat, wird nicht nur zum astronomischen Ereignis, sondern auch zum Symbol für die Schatten ihrer eigenen Biografie, die bisher im Verborgenen lagen. Was zunächst als Reise zu einem Naturphänomen begann, wird für Stella zu einer tiefgreifenden Selbstfindung. Vielleicht wird sie nicht dieselbe Art von Schattenfängerin wie ihr Vater, aber vielleicht wird sie lernen, mit den eigenen Schatten zu leben. Und das ist womöglich das größte Erbe, das er ihr hinterlassen hat.
Michael Stavarič
Die Schattenfängerin
Roman. 288 S., geb., € 25,95 (Luchterhand)