Weg mit der täglichen Obergrenze der Arbeitszeit, findet die CDU. Experten sagen, dass es dazu schon genug Möglichkeiten gibt – man solle auf die Menschen achten. Und die meisten würden gar nicht mehr arbeiten wollen.
„Wie sollen wir denn so den Familienalltag stemmen?“, fragt Marie Bausch und schüttelt den Kopf. Die Mutter aus Wuppertal arbeitet bei einer Bank als Analystin. Ihr Mann arbeitet in einer Autowerkstatt. „Wenn wir jetzt plötzlich am Tag zehn oder zwölf Stunden arbeiten würden, dann bricht unser Betreuungsplan zusammen. Die Kinder, die Gesundheit, die Freizeit – all das würde leiden“, sagt Bausch.
Sie haben zwei kleine Kinder und sprechen sich klar gegen den Vorschlag der Bundesregierung aus. Die Union setzt sich für eine Aufhebung der täglichen Höchstarbeitszeit ein, um stattdessen eine wöchentliche Begrenzung von 48 Stunden einzuführen, wie es die EU-Richtlinien vorsehen.
Flexible Arbeitszeiten schon jetzt möglich
Diese Reform soll flexiblere Arbeitszeiten ermöglichen, die laut Union sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerseite zugutekommen. Das glaubt Bausch nicht wirklich und ist damit nicht allein. Knapp drei Viertel der Beschäftigten befürchten laut einer Umfrage negative Folgen für Erholung und Gesundheit, für die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familienleben sowie die Organisation ihres Alltags. Das zeigt jetzt eine Online-Befragung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Die Befragungsergebnisse zeigen auch, dass sehr lange und flexible Arbeitszeiten in Deutschland längst verbreitet seien. „Die vorliegenden Ergebnisse zeigen: Eine Abschaffung der gesetzlichen täglichen Arbeitszeitgrenze ist weder erforderlich noch sinnvoll“, sagt die Studienautorin Yvonne Lott.
„Wir wissen auch aus anderen Studien, dass fragmentierte Arbeitstage und Arbeit am Abend für viele Beschäftigte bestenfalls eine Not- und keine Wunschlösung sind. Häufig sind sie verbunden mit hohem Stress und Zeitdruck“, sagt die WSI-Arbeitszeitexpertin. „Die von der Bundesregierung angekündigte Deregulierung dürfte hingegen das fragile Verhältnis von Flexibilität und notwendigen Begrenzungen aus dem Gleichgewicht bringen, weil es gleichzeitig sehr lange und fragmentierte Arbeitstage begünstigt.“
Negative Folgen für Alltag und Gesundheit
Frauen rechnen laut WSI noch deutlich häufiger mit negativen Wirkungen als Männer, was daran liegen könnte, dass sie deutlich mehr unbezahlte Sorgearbeit zusätzlich zum Erwerbsjob leisten. Zwölf Prozent der vom WSI befragten Menschen arbeiten wenigstens an einzelnen Tagen in der Woche länger als zehn Stunden. Und knapp 38 Prozent der Beschäftigten nehmen zumindest ab und zu abends nach 19 Uhr ihre Erwerbsarbeit nochmal auf, nachdem sie sie tagsüber aus privaten Gründen unterbrochen haben, etwa, wenn die Kinder aus der Schule kommen.
Nach Einschätzung von rund 73 Prozent der Befragten verschlechtert sich die Fähigkeit, nach Feierabend abzuschalten und sich zu erholen. 75 Prozent rechnen mit Problemen, familiäre oder private Verpflichtungen zu erfüllen.
Zusätzlich wächst auch das Unfallrisiko ab der achten Arbeitsstunde exponentiell an, so das WSI, sodass Arbeitszeiten über zehn Stunden täglich als hoch riskant eingestuft werden. „Eine Aufhebung der täglichen Arbeitszeitgrenze würde zu einer höheren Belastung der Beschäftigten führen“, sagt Lott. „Eine Aufhebung der täglichen Arbeitszeitgrenze könnte zudem Geschlechterungleichheiten verschärfen.“
Kein Zwang zum Zwölfstundentag
Die Bundesregierung und Arbeitgeberverbände wollen mehr Möglichkeiten für sehr lange Arbeitstage schaffen, indem die Höchstarbeitszeit für den Erwerbsjob nicht mehr pro Tag, sondern pro Woche geregelt wird, wenn innerhalb von sechs Monaten ein Ausgleich erfolgt. „Die neuen Regeln wahren die hohen Standards im Arbeitsschutz: Beschäftigte dürfen nicht gegen ihren Willen zu längerer Arbeitszeit gezwungen werden“, heißt es von der CDU.
„Damit könnte die Deregulierung der Höchstarbeitszeit ausgerechnet den Zuwachs bei der Erwerbstätigkeit von Frauen bremsen, der in den vergangenen Jahren wesentlich zu Rekordwerten bei Erwerbstätigkeit und Arbeitsvolumen in Deutschland beigetragen hat“, sagt Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI.
„Gleichzeitig könnte das Probleme bei Gesundheit und Demografie verschärfen, höhere Krankenstände begünstigen und die Entscheidung für Kinder schwerer machen.“ Eine Deregulierung erscheine damit auch wirtschaftlich kontraproduktiv, so Kohlrausch.
Gefahr für Work-Life-Balance
Arbeitsrechtlerin Amélie Sutterer-Kipping von der Universität Frankfurt am Main sagt, dass die derzeitigen Regelungen bereits genügend Flexibilität bieten. „Die Ersetzung des Acht-Stunden-Tages durch eine einzuhaltende wöchentliche Höchstarbeitszeit ist mit der Zielsetzung des Arbeitszeitgesetzes unvereinbar“, sagt Sutterer-Kipping. „Eine Ausdehnung der Arbeitszeiten birgt gesundheitliche Risiken sowie würde sie die Work-Life-Balance gefährden.“
Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse würden belegen, dass Arbeitszeiten von mehr als zehn Stunden täglich mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen einhergehen. „Hierzu gehören psychosomatische Beschwerden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Beschwerden, Schlafstörungen“, sagt Arbeitsrechtlerin Sutterer-Kipping. „Lange Arbeitszeiten gehen überdies häufig mit weiteren belastenden Arbeitsbedingungen einher, wie etwa einer hohen Arbeitsintensität, verkürzten Ruhezeiten oder ständiger Erreichbarkeit und Kontaktierung auch außerhalb der Arbeitszeit.“
Die Arbeitsrechtlerin wünscht sich in der Debatte ein Umdenken und mehr Fokus auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. „Eine wesentliche Ursache für die Arbeitsverdichtung ist die fehlende oder schlechte Personalplanung und unzureichende Personalbemessung. Statt einer Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes wäre hier eine Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung erforderlich“, betont Sutterer-Kipping.
Auch die Analystin und Mutter Marie Bausch aus Wuppertal hofft, dass sich die Bundesregierung mehr mit dem verdichteten Alltag von Familien beschäftigt. „Wer uns Familien wirklich unterstützen will, sollte die Kinderbetreuung stärken und nicht die tägliche Höchstarbeitszeit anfassen.“