«Deutschland und Nazis, da denkt jeder sofort an Chemnitz»: Europas Kulturhauptstadt hadert mit ihrem Ruf

In den Augen vieler Deutscher ist sie die ostigste aller ostdeutschen Grossstädte. Neonazis, AfD-Wahlsiege und das Gefühl der Benachteiligung: Es scheint alles so typisch zu sein. Doch was bewegt die Menschen in der «Stadt des Verlassenwerdens»?

Von 1953 bis 1990 hiess Chemnitz Karl-Marx-Stadt. Die 40 Tonnen schwere Marx-Büste, ein Werk des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel, wurde 1971 aufgestellt. Die Chemnitzer nennen sie – mit dem sächsischen Wort für Schädel – den «Nischel». Im Bild die Szenerie kurz vor der Eröffnung des Kulturhauptstadt-Jahrs am 18. Januar. Von 1953 bis 1990 hiess Chemnitz Karl-Marx-Stadt. Die 40 Tonnen schwere Marx-Büste, ein Werk des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel, wurde 1971 aufgestellt. Die Chemnitzer nennen sie – mit dem sächsischen Wort für Schädel – den «Nischel». Im Bild die Szenerie kurz vor der Eröffnung des Kulturhauptstadt-Jahrs am 18. Januar.

Bild: Chris Lässig/Imago

Mit 250’000 Einwohnern ist Chemnitz grösser als Bern oder Basel, doch wer mit der Bahn kommt, glaubt, in ein Dorf zu fahren: Die Strecke aus Leipzig hat nur eine Spur. Verirrt sich ein Reh auf die Gleise, ist der Verkehr in beide Richtungen lahmgelegt.

Wer erzählt, seine Anreise sei planmässig verlaufen, wird von den Chemnitzern bestaunt wie ein seltenes Tier: «Wirklich? Kaum zu glauben», heisst es dann. Das Adjektiv «abgehängt», das einige Westdeutsche ihren Landsleuten im Osten gerne anhängen, erscheint selten treffender als in der Grossstadt im Süden Sachsens.

Dass hier bei der letzten Bundestagswahl 32 Prozent für die AfD gestimmt haben, passt dann ebenso ins Bild wie die jüngere Geschichte der Stadt: Nachdem im Sommer 2018 ein Deutscher kubanischer Abstammung von zwei Asylbewerbern erstochen worden war, gingen Tausende auf die Strasse: Rentnerinnen, wütende Bürger, aber auch Neonazis und Hooligans. «Hetzjagden auf Ausländer» wollte die damalige Kanzlerin Angela Merkel auf einem Videomitschnitt gesehen haben.

Wer sein Studium abgeschlossen hat, geht in der Regel

Sieben Jahre später ist Chemnitz Kulturhauptstadt Europas. Das tönt glanzvoller, als es ist, denn der Titel, der von der EU verliehen wird, geht selten an die kulturellen Metropolen eines Landes. Eher soll er helfen, Problemzonen wiederzubeleben. «C the unseen» lautet das Motto der Kulturhauptstadt Chemnitz, «sehe das Übersehene».

Zeran Osman und Dominik Intelmann. Zeran Osman und Dominik Intelmann.

Bild: H. F. Müller

Die Einheimischen neigen nicht unbedingt zur Euphorie: Dass Chemnitz nun Kulturhauptstadt sei, werde die Lage aber sicher nicht schlimmer machen, sagt Zeran Osman. Die 34-Jährige arbeitet für ein Dokumentationszentrum, das Ende Mai eröffnen soll und sich mit den Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) beschäftigt.

Der NSU ermordete in den Nullerjahren neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin; ihre Taten planten die rechtsextremen Terroristen im Heckertgebiet, einem Chemnitzer Plattenbauquartier.

Nun sitzen Osman und ihr Kollege Dominik Intelmann, 44, in einem kargen Besprechungsraum und denken laut darüber nach, warum Chemnitz ist, wie es ist. Osman ist in Kurdistan geboren, wuchs aber in Halle auf. Nach Chemnitz kam sie zum Studium. Intelmann ist gebürtiger Chemnitzer, lebt heute aber teilweise in Leipzig.

Die meisten ihrer Kommilitonen seien nach dem Abschluss weggezogen, sagt Osman. «Chemnitz ist die Stadt des Verlassenwerdens.» Manchmal fühle sie sich wohl, manchmal weniger. «Es gibt hier grosse, günstige Wohnungen, und ich mag die Ruhe in der Nacht.» Aber die Jugend fehle, trotz Universität. Von «Heimscheisser-Studis», die ihre Dreckwäsche am Wochenende zu ihren Eltern brächten, spricht Osman.

Bedroht fühle sie sich nur selten, doch wenn sie sehe, dass rechtsradikale T-Shirts im öffentlichen Raum toleriert würden, werde sie wütend. Er fahre lieber Velo, als die Tram zu nehmen, wirft Intelmann ein. «In Leipzig gibt es Milieus, die eingreifen, wenn etwas passiert.» Chemnitz sei dagegen eine private Stadt, in der die Leute unter sich blieben.

Trotz starker Kriegszerstörungen lässt sich vielerorts noch erahnen, dass Chemnitz vor dem Zweiten Weltkrieg zu den reichsten Städten Deutschlands zählte. Im Bild der Theaterplatz mit dem Opernhaus; links das König-Albert-Museum. Trotz starker Kriegszerstörungen lässt sich vielerorts noch erahnen, dass Chemnitz vor dem Zweiten Weltkrieg zu den reichsten Städten Deutschlands zählte. Im Bild der Theaterplatz mit dem Opernhaus; links das König-Albert-Museum.

Bild: Gabriele Hanke / Imago

Ob der Aufstieg der AfD für das Dokumentationszentrum eine Bedrohung sei? In Sachsen regiert eine Minderheitsregierung aus CDU und SPD, geduldet von Sahra Wagenknechts Gefolgsleuten. Die Finanzierung des Zentrums sei damit erst einmal gesichert, sagt Osman. «Aber wenn die AfD irgendwann einmal regieren sollte, dann wohl zuerst hier.»

Ein Politiker will wieder Lokführer werden

«In Chemnitz wird gearbeitet, in Leipzig gehandelt, in Dresden geprasst» lautet ein alter Spruch, den fast jeder hier irgendwann einmal zitiert. Das Gefühl, Nummer drei zu sein, hatte man schon im 19. Jahrhundert. Doch Chemnitz ist keine hässliche Stadt. Im Zweiten Weltkrieg wurde zwar vieles zerstört und später im Plattenbaustil der DDR wiederaufgebaut, doch einiges blieb auch erhalten, etwa das repräsentative Opernhaus.

Ihren früheren Reichtum sieht man der Stadt an, ihre heutigen Probleme allerdings auch: Von den zahlreichen Gründerzeitvillen, die sich die Chemnitzer Bürger errichten liessen, stehen viele leer. Manche Strassen wirken wie ausgestorben. Das eigentliche Zentrum um das Rathaus herum ist zwar belebt, für eine Stadt dieser Grösse aber sehr klein.

Detlef Müller. Detlef Müller.

Bild: H. F. Müller

Im Februar wählten die Chemnitzer Alexander Gauland in den Bundestag, den Ehrenvorsitzenden der AfD. Sein Vorgänger als örtlicher Abgeordneter war der Sozialdemokrat Detlef Müller. Im Rathaus, einem imposanten Jugendstilbau, sitzt Müller nun in den Fraktionsräumen seiner Partei.

In der deutschen Politik dürfte der 60-Jährige ein Unikum sein: Dass ein Parlamentarier in seinen angestammten Beruf zurückkehrt, kommt zwar immer wieder vor, doch bedeutet dies meist eine gut bezahlte Tätigkeit, etwa als Anwalt. Müller aber will, nach fünfzehn Jahren im Bundestag, wieder Lokführer werden. Erhebe der Betriebsarzt keine Einwände, werde er im September wieder auf der Erzgebirgsbahn anfangen.

Trotz seines unprätentiösen Auftretens scheint seine Niederlage an Müller zu nagen. Gauland sei im Wahlkampf vielleicht zweimal hier gewesen, sagt der SPD-Politiker. «Dass die Leute trotzdem AfD wählten, hat mich getroffen.» Laufe er, Müller, durch die Innenstadt, werde er freundlich gegrüsst, «aber der Kevin aus dem Heckertgebiet wählt halt AfD».

Subventionen für Künstler sieht die AfD nicht gern

Der schlechte Ruf, den ihre Stadt seit 2018 hat, ärgert die Chemnitzer. «Wo Sie jetzt sitzen, sass damals eine Reporterin der ‹New York Times›», erzählt Müller. «Die fragte mich, ob ich jetzt von hier wegziehen müsse.» Dabei seien viele Neonazis damals von ausserhalb angereist. Er glaube, er habe der Journalistin begreiflich machen können, dass es sich in Chemnitz leben lasse. Gelesen habe er ihren Artikel aber nicht.

Ronny Licht. Ronny Licht.

Bild: H. F. Müller

Ein Stockwerk tiefer als Müller sitzt Ronny Licht, ein Stadtrat der AfD. Der 48-Jährige ist kulturpolitischer Sprecher seiner Partei. Manches, was 2018 geschehen sei, sei wohl «zu heftig» gewesen, räumt er ein. Dass einige nun so täten, als müsse Chemnitz «entnazifiziert» werden, empöre ihn aber. «Deutschland und Nazis, da denkt jeder sofort an Chemnitz.» Sogar aus Kanada sei kürzlich ein Fernsehteam angereist.

Fundamentalopposition zum Kulturhauptstadt-Projekt mag Licht nicht betreiben: «Ich hatte nie ein Problem damit», sagt er. Allerdings spricht er von einem «kleinteiligen Projekt für eine intellektuelle Blase» – und tönt dann in seiner Kritik fast wie ein Linker: Wer acht Stunden am Tag arbeite und Kinder habe, müsse «abgeholt» werden. Dies geschehe aber nicht.

Dass der Stadt auch in der Kulturpolitik gröbere Konflikte bevorstehen könnten, deutet der AfD-Mann allenfalls an. Es brauche Kürzungen, sagt er. Subventionen für Künstler seien ein Luxus. Von den Milliarden, die die nächste deutsche Regierung den Kommunen versprochen habe, würden vielleicht 2,5 Millionen Euro pro Jahr in Chemnitz ankommen. «Das verbraten wir, wenn wir eine einzige Strassenkreuzung bauen.»

Nirgendwo in Deutschland stossen die politischen Gegensätze stärker aufeinander als in den Grossstädten des Ostens. Hier ein Plakat der Linkspartei vor der letzten Bundestagswahl, das mutmasslich von Sympathisanten der AfD übermalt wurde. Nirgendwo in Deutschland stossen die politischen Gegensätze stärker aufeinander als in den Grossstädten des Ostens. Hier ein Plakat der Linkspartei vor der letzten Bundestagswahl, das mutmasslich von Sympathisanten der AfD übermalt wurde.

Bild: Imago

Ein Künstler spottet über die Heimattümelei

Ein Künstler, der kaum Subventionen annimmt, ist Osmar Osten. In Woll-Gilet und Tweed-Jackett wirkt der bärtige Mann wie ein Überbleibsel jenes bürgerlichen Chemnitz, das es vor dem Krieg einmal gegeben haben mag. «Die Kulturhauptstadt holte mich ein, ohne dass ich es erwartete», sagt der 65-Jährige: Für das Stadtzentrum habe er eine Skulptur erschaffen dürfen. «Normalerweise hätte ich das gar nicht finanzieren können.»

Osmar Osten. Osmar Osten.

Bild: H. F. Müller

Ostens Atelier befindet sich in einer früheren Fabrik; Farbgeruch liegt in der Luft, Licht strömt durch grosse Fenster herein. Dass er normalerweise die kleine Form bevorzuge, mache ihn unabhängig. «Notizheft, Papier und Stift, das reicht mir.» So bleibe ihm erspart, sich um öffentliche Gelder zu bewerben.

Um einen Antrag auf Förderung zu stellen, so meint Osten, müsste er «lügen ohne Ende»: Vor dreissig Jahren sei jeder regionale Bezug verpönt gewesen, nun müsse alles heimattümelnd sein. «Da verlegt ein Maler seine Bäume dann auch mal aus dem Erzgebirge ins Vogtland, um Geld vom dortigen Landratsamt zu bekommen», spottet Osten.

Ob der neue Heimatstil mit dem allgemeinen Rechtsruck zu tun habe, darüber will der Künstler kein Urteil abgeben. Klare Ansagen sind Ostens Sache ohnehin nicht. In seinem Werk regieren Humor und Ironie: «Wir sind das Volk (aber nicht gerne)», steht auf einer seiner Zeichnungen, auf einer anderen: «Wir sehen uns vorm Tagesgericht.»

Humor und Ironie regieren: Zeichnungen von Osmar Osten. Humor und Ironie regieren: Zeichnungen von Osmar Osten.

Bild: H. F. Müller

Ostens Verhältnis zu seiner Heimat ist ein pragmatisches: Der Mietzins für sein Atelier sei niedrig, und über die Autobahn sei man schnell weg. Besucht werde man in Chemnitz allerdings nicht: «In Mailand sagen mir die Galeristen, ‹ich komme bei Ihnen vorbei› – aber sie kommen dann nie.» Früher habe er immer nach Wien gewollt, «aber wenn ein Sachse dort den Mund aufmacht, ist er schnell im Spottbereich».

So etwas wie ein politisches Bekenntnis erhält man von Osten allenfalls über Umwege: Dass sein Kleidungsstil jenem Gaulands ähnlich sei, sei ihm unangenehm. Gebe er sich auf einer seiner Ausstellungen zu erkennen, wunderten sich die Leute über sein Alter und seine «Reichsbürgerjacke». Einmal sei er auf der Strasse angespuckt worden, vermutlich wegen seiner Kleidung. «Am liebsten wäre mir eine Tarnkappe», sagt er.

Die Rückreise bringt eine Überraschung

Ohne einen Besuch bei Uwe Dziuballa kommt kaum eine Reportage über Chemnitz aus. Warum, wird rasch klar: Der Mann ist zwar Chemnitzer, aber er ist auch, was die Stadt nicht ist: selbstbewusst. 2018 wurde sein koscheres Restaurant «Schalom» von Neonazis mit Steinen beworfen, seither ist er ein gefragter Gesprächspartner.

Dabei ist das Verhältnis, das der 60-Jährige zu den Medien unterhält, zwiespältig: Er ist dort sehr präsent, schilt aber keinen Berufsstand heftiger als die Journalisten: Sie kämen mit einer Erwartungshaltung, und wenn man die nicht erfülle, werde man in eine Schublade gesteckt. Tatsächlich scheinen deutsche Journalisten nicht so recht zu wissen, wo sie Dziuballa einsortieren sollen: «Ein Linker war er nie», notierte die «Frankfurter Rundschau» 2023, als sei das bereits bemerkenswert.

Uwe Dziuballa. Uwe Dziuballa.

Bild: H. F. Müller

Dass er nicht nur rechten, sondern auch migrantischen Judenhass beim Namen nennt, scheint ihn manchen schon verdächtig zu machen. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel trage er auf der Strasse statt einer Kippa einen Hut, erzählt er.

Nun, da Chemnitz Kulturhauptstadt sei, seien viele Besucher beeindruckt, «weil vorher nur Dreck über die Stadt ausgeschüttet wurde». Das allgemeine Gejammer geht dem studierten Ingenieur auf die Nerven. «Einige meckern, die Leute würden nicht mitgenommen. Wenn mich ein Busfahrer stehen lässt, muss ich halt laufen.»

Dass auch die Rückreise des Reporters bequem verlaufen wird, erwartet kaum einer seiner Gesprächspartner. So viel Glück habe kein Mensch. Tatsächlich setzt sich der Zug dann zehn Minuten früher als erwartet in Bewegung. Die Passagiere blicken ungläubig. Dann löst einer von ihnen auf: Man sitze im Vorgängerzug, der fünfzig Minuten zu spät sei.