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„Stadtbeschreibungen in Zeiten des Bombardements sind obsolet.“ Sommer 2025 in Sumy. © FLORENT VERGNES/afp
Eine kleine Ukraine-Bibliothek (71): Karl Schlögels „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“.
Sollte es im Herbst 2025 noch möglich sein, sich an die Fakten zu halten, hier noch mal geschwind die Erinnerung an eine Prognose aus dem Jahr 2015. Sie stammt von Karl Schlögel, sie steht in seinem Buch „Entscheidung in Kiew“. Sie lautet: „Destabilisierung, wie sie von Russland betrieben wird, richtet sich gegen ,die Macht‘, gegen ,die Souveränität‘ eines Staates. Destabilisierung eines Staates, einer Gesellschaft heißt in letzter Konsequenz: Man will die Menschen fertig machen.“
Diese Zermürbungsstrategie verfolgt Putin seit über zehn Jahren in der Ukraine. Dazu gehört, dass der Westen, Berlin, Brüssel, Paris, London, Washington, dem Kremlherrscher die „Eskalationsdominanz“ bis heute überlassen hat. Das ist ein Begriff des Osteuropahistorikers, der eines Tages auch deutsche Talkshows erreichte, denn: „Eskalationsdominanz ist nicht etwas, was gegen eine abstrakte Größe – einen Staat, eine Armee, eine Regierung – durchgesetzt wird, sondern zielt ad hominem. Jemandem werden die Regeln diktiert, jemandem wird der Wille aufgezwungen, jemandem wird ein Ultimatum gestellt. Und man muss sich dazu verhalten.“
Wenn Karl Schlögel in vier Wochen in Frankfurts Paulskirche mit dem „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ geehrt wird, dann nicht allein wegen seines Ukrainebuchs, eine Sammlung von Städteporträts, die zum Teil schon während der Zeitenwende um 1989 entstanden. Die Auszeichnung gilt einem Autor, dessen Anliegen die „geschichtlichen Topografien“ sind, konkreter: die „Begehung von Orten und die Erschließung von Räumen“. Zur analytischen Brillanz gehört, dass Schlögel bestechende Sentenzen geprägt hat, so schon im Titel seines Buches: „Im Raume lesen wir die Zeit“.
Auch bei seinen „ukrainischen Lektionen“ ist der Ansatz ein archäologischer. Lesend nimmt man teil an der Freilegung der historischen Schichtungen der Städte, auf dass deren Vergangenheit zum Sprechen gebracht wird, ob diejenige Kiews oder Charkiws, Odessas und Jaltas, diejenige von Czernowitz und Lemberg, nicht zuletzt von Donezk, und damit die Erinnerung an einen der „Urbizide im 20. Jahrhundert“.
Lektionen, das heißt auch: Keine Seite über das „koloniale Projekt Putins“ ohne die Rückführung auf die zaristische Unterdrückung der Ukraine; die bolschewistische; die stalinistische; die sowjetische – die putinsche als postsowjetischer Revanchismus. Kein Kapitel im Buch allerdings auch ohne den Verweis auf die „Doppelerfahrung der Okkupation“, somit den Appell „an Verantwortung und Schuld, zu der die Deutschen wirklich allen Anlass haben“.
Die Reihe
Eine Ukraine-Bibliothek, nicht chronologisch angelegt, nicht systematisch zusammengestellt, gedacht als Angebot zur Orientierung.
Zuletzt ins Regal gestellt: Katja Petrowskajas
„als wäre es vorbei“, die von Oswald Burghardt
herausgegebene Anthologie „Dichtung der Verdammten“, Serhij Zhadans „Keiner wird um etwas bitten“, die Lyrik-Anthologie „Ein Hauch
von Grauen und verborgene Hoffnung“, Radomyr
Mokryks „Die ukrainischen ,Sechziger‘“ sowie Szczepan Twardochs Roman
„Die Nulllinie“.
Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. Hanser Verlag, München, erstmals 2015, erweiterte und aktualisierte Ausgabe 2022. 382 S., 26 Euro.
Als Nr. 72 wird Andriy Lyubkas „Die Rückseite des Krieges“ vorgestellt.
Dennoch verweigert der Russlandkenner den vorauseilenden Gehorsam gegenüber einer Wehrlosigkeitspflicht gegenüber Putin. Zu den für Schlögel „beschämendsten Dummheiten“ eines „heruntergekommenen Pazifismus“ gehört die Parole, Deutschland dürfe sich an einer militärischen Unterstützung der Ukraine schon aus historischen Gründen nicht beteiligen. Seltsam, denn de facto unternimmt Deutschland keinen zweiten Überfall auf die Ukraine, sondern beteiligt sich wegen beschwörender Bitten Kiews an der Unterstützung zur Selbstverteidigung des Landes. Anders als es eine deutsche Demagogie will, könnte man die historisch begründete Verantwortung als nachgeholte Wiedergutmachung verstehen.
An keiner Stelle beansprucht Schlögel ein Hellseher zu sein, im Gegenteil, Ernst Blochs Wort vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“ zitierend, ergeht er sich nicht in Prophetie oder unkenden Mutmaßungen, keiner Kreml-Astrologie, wie von „verständigungsinnigen Putin-Interpreten“ weiterhin betrieben, einem „mentalen Block“ aus Rührseligkeit, Realitätsverweigerung und „Russenkitsch“.
Intellektuelles Versagen
Eine für Europa lebensbedrohliche Trinität. Umso notwendiger für die Existenz einer kritischen Infrastruktur in Deutschland, ihre Debattenkultur, ist die Ehrung Schlögels durch den Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Antizyklisch zur hektischen Politbetriebsamkeit traf die Jury eine weise Entscheidung, eine weitsichtige, denn wer verwies mit seinem historischen Langzeitgedächtnis nachdrücklicher auf die sog. Vorgeschichte zu diesem Krieg als Schlögel, und entwickelte aus dem Fundus der Fakten seine Schlussfolgerungen. Eine bittere Erkenntnis des Städteforschers lautete schon 2015: „Stadtbeschreibungen in Zeiten des Bombardements sind obsolet. Jetzt ist der Kriegsreporter am Zug oder noch besser der Kriegsfotograf.“ Nicht als Reporterin, aber doch als Augenzeugin anhand von Kriegsfotografien bewegt sich seit Kriegsbeginn Katja Petrowskaja durch die Ukraine. Petrowskaja, 1970 geboren in Kiew, seit 1999 in Berlin lebend, Autorin des überwältigenden Romans „Vielleicht Esther“ (Kleine Ukraine-Bibliothek Nr.3, 6.August 2022), veröffentlichte zuletzt eine weitere Sammlung ihrer Kommentare zu Fotos aus dem Krieg gegen ihr Land. Ihr Buch „als wäre es vorbei“ versammelt 44 „Momentaufnahmen“, die „eine Beweiskette über Russlands Vernichtungsabsichten rund um die Uhr“ (Kleine Ukraine-Bibliothek Nr. 65, 5. April 2025) zusammentragen.
Petrowskaja wird die Laudatio auf Karl Schlögel in Frankfurts Paulskirche halten, mitten in einer urbanen Umgebung, in der in nächster Zeit keine weitere Veranstaltung zur Unterstützung der ausgepowerten Ukraine anberaumt ist – halt in der Tradition grassierender Gleichgültigkeit gegenüber einem „völkermörderischen Krieg“, zudem der Teilnahmslosigkeit gegenüber einem Befreiungskrieg wie schon seit Monaten rund um die Paulskirche. Dem deutschen „Russlandkomplex“ (Gerd Koenen) geht auch in FfM vieles komplett durcheinander.
Mit alldem wollen sich Schlögels „Lektionen“ nicht abfinden, an erster Stelle nicht mit einem intellektuellen Versagen, erst recht nicht mit dem „Verrat der Intellektuellen“. Schlögel hat den Begriff von dem Franzosen Julien Benda übernommen, der (Jubiläum! Jubiläum!) 1927, nicht von ungefähr in einer Ära der Polarisierung, die ideologische Sozialisierung auch einer radikalen Linken thematisierte, die sich auf eine zynische Gesinnung bei faktenwidriger Realitätsverweigerung verständigt hatte.
Schon einmal wurde hier auf Schlögels „beklemmende Klarsicht und beschämende Weitsicht“ verwiesen (Kleine Ukraine-Bibliothek Nr. 25, 18. Februar 2023). Der Antidogmatismus Schlögels ist an einen Fanatismus adressiert, der seinen politischen und historischen plus moralischen Bankrott frenetisch übertönt. Für Schlögel ist das Debakel erklärbar durch eine „geradezu metaphysische Kränkung, dass sich die Geschichte nicht so entwickelt hat., wie man es sich vorgestellt hatte.“
Die Ukraine hat den „Lebensplan“ einer doktrinären Linken durcheinandergebracht, ein Juste Milieu aus politischen Überlegenheitsgefühlen und sektiererischer Selbstzufriedenheit. „Doch noch einmal: Die Geschichtszeit meldete sich mit einem großen Knall zurück“ – mit welchen Konsequenzen? „Aus diesem Kampf, der einem aufgezwungen wird, auszutreten ist natürlich möglich: durch Gleichgültigkeit, Indifferenz, Zynismus, Defaitismus – alles Größen und Haltungen, die in der laufenden Auseinandersetzung um die Ukraine ins Gewicht fallen – in der Vergangenheit waren sie zuweilen entscheidend: kriegsfördernd, kriegsauslösend, jedenfalls nicht kriegsverhindernd.“
So könnte denn der Gedanke Schlögels aus dem Jahr 2015, „Wir bekommen es mit dem Ernstfall zu tun“, als Motto über einem Turnus an Veranstaltungen in FfM stehen – womöglich, weil andere Kulturbetriebe in der Literaturmetropole auf eigentlich was noch warten, unter dem Dach des Börsenvereins, im „Haus des Buches“, keine zwei Fußminuten von der Paulskirche entfernt.