Aus der Region Donezk kommen aus ukrainischer Sicht nur selten gute Nachrichten. Eine davon verkündete Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstagabend: „Wir führen eine unserer Gegenoffensiven durch“, sagte er in einem Video, das nach seinen Angaben bei einem Frontbesuch in der Region aufgenommen wurde. 160 Quadratkilometer Gebiet seien in Donezk befreit worden, russische Truppen aus 170 weiteren Quadratkilometern verdrängt, mehr als 100 russische Soldaten gefangen genommen, sagte er.

160 Quadratkilometer – das ist in etwa so viel Fläche, wie Russland seit Beginn des Monats entlang der gesamten fast 1.000 Kilometer langen Frontlinie einnehmen konnte. Selenskyjs Angaben zu dem vermeintlichen ukrainischen Erfolg sind daher überraschend: Tage, an denen die Ukraine kein Gebiet verliert, sind seit fast zwei Jahren eine Seltenheit. Nun soll ein derartiger Erfolg in nur einer Region erzielt worden sein. 

Das Gebiet, auf das sich Selenskyj bezieht, ist die Gegend um die Stadt Pokrowsk sowie östlich der Kleinstadt Dobropillja. Dort war Russland Anfang August binnen weniger Tage ein Vorstoß von mehr als 15 Kilometern gelungen – in diesen Tagen ein beachtliches Vormarschtempo. Mit kleinen Trupps hatten sich russische Soldaten an ukrainischen Stellungen vorbeigeschlichen, bis sie schließlich weit hinter den ukrainischen Linien standen. 

© Lea Dohle

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Zahlreiche Beobachter fürchteten einen Zusammenbruch der Front und eine baldige Einkreisung großer ukrainisch kontrollierter Gebiete, sollte es Russland gelingen, das eroberte Gebiet zu festigen. Letzteres trat nicht ein: Die Ukraine entsandte eilig mehrere Verbände, darunter Einheiten des neuen Asow-Korps, und hegte den russischen Vormarsch vorerst ein.  

Russische BefestigungsanlagenRussische Kontrolle Vortag seit Kriegsbeginn vor KriegsbeginnZurückerobert Vortag seit Kriegsbeginn Zusätzl. erobertQuelle: Institute for the Study of War, AEI Critical Threats Project

Tatsächlich gelang es der Ukraine in den Wochen danach, Russland an Teilen des östlich von Dobropillja entstandenen Frontvorsprungs zurückzudrängen. Nur: Von einer Rückeroberung Hunderter Quadratkilometer, von der Selenskyj spricht, kann Stand heute nur unter großen Zweifeln die Rede sein. Auch militärnahe ukrainische Quellen wie etwa die gut vernetzte Beobachtergruppe DeepState lassen in ihren Karten keine Anzeichen dafür erkennen, dass der von Russland eingenommene Frontvorsprung rückgängig gemacht wurde und das Gebiet wieder unter ukrainischer Kontrolle ist.

Offiziell schweigen sowohl das ukrainische als auch das russische Militär weitgehend zu der Lage bei Dobropillja. Beachtung verdient daher umso mehr, wie die wichtigsten militärnahen Blogger der beiden Kriegsparteien die Lage darstellen. Schließlich sind sie schon seit Jahren als inoffizielle Kommunikationskanäle an das jeweilige Heimatpublikum bedeutend. Auf ukrainischer Seite zeichnet DeepState ein selten zu sehendes Bild: Glaubt man der von den Frontbeobachtern erstellte Karte, sollen russische Truppen mindestens an einer Stelle vollständig umzingelt sein, an einer weiteren etwas weiter südlich einer Einkesselung nahe stehen. 

Nur: Die Karten sind derzeit so ungenau wie selten zuvor, die Zweifel an ihrer Stichhaltigkeit noch berechtigter als üblich. Schon der russische Vorstoß bei Dobropillja im August hatte darauf hingedeutet, wie wenig Verlass auf die in den Karten gezeichneten Linien ist. Schließlich legen sie nahe, dass es überall eine klare Frontlinie gibt, also durchgehende Stellungen, auf denen sich die gegnerischen Armeen gegenüberstehen. 

Die Art des russischen Vorstoßes – das erfolgreiche Umschleichen ukrainischer Stellungen mit kleinen Einheiten – zeigte jedoch: Die Linien sind in Wirklichkeit eher gedacht als real. Satellitenaufnahmen großer Verteidigungsanlagen mögen nahelegen, dass die jeweiligen Fronten stabil sind. Tatsächlich aber sind die Anlagen, vor allem auf ukrainischer Seite, nur stellenweise bemannt. 

Rybar, einer der größten russischen Militärblogs mit Verbindungen zum russischen Militär und damit eine Art Gegenstück zum ukrainischen DeepState, hat sich für eine andere Darstellung der Lage entschieden. Die Zone östlich von Dobropillja wird in dieser Darstellung nicht wie gewohnt in ukrainisch oder russisch kontrolliertes Gebiet sowie eine umkämpfte graue Zone unterteilt; sondern als grob umrissene „Zone der Aktivität russischer Aufklärungseinheiten“ bezeichnet. Eine Darstellung, die der mutmaßlichen Lage in dem Frontabschnitt gerechter wird – und gleichzeitig bequem ist. Schließlich kann kein Gebiet verloren gehen, in dem angeblich lediglich aufgeklärt, nicht aber erobert wird. 

Ukrainische Soldaten Anfang September in der Nähe der Front in der Region Donezk © Stringer/​Reuters

Vor allem für die Militärbloggerszene, die die Wahrnehmung des Krieges durch vielfache Beachtung großer Medien und namhafter Experten auch international prägt, ist das ein Problem. Die Lage habe „einen Punkt erreicht, an dem sogar Soldaten beider Seiten unsicher über den Verlauf der Frontlinie sind“, schreibt etwa ein ukrainischer Militärblogger, der dem anerkannten Analystenteam Frontelligence Insight angehört. In den vergangenen Jahren hätten sich interessierte Beobachter „derart an genaue Karten gewöhnt, dass sie sie als selbstverständlich ansehen.“ Doch zuletzt seien viele der Karten sehr ungenau. Sinnvoller sei es, das Schlachtfeld als „breite graue Zone“ zu betrachten. 

Auch geolokalisierte Videos, die noch zu den sichersten öffentlich einsehbaren Quellen für die Beurteilung der Lage sind, verlieren damit an Aussagekraft. Schließlich zeigen sie meist nur Kleinstgruppen ukrainischer oder russischer Soldaten an einem bestimmten Ort. Eine tatsächliche Kontrolle über das jeweilige Gebiet bedeuten sie aber nicht mehr: Mancherorts stehen russische Soldaten hinter ukrainischen Linien, an anderen Orten ist es umgekehrt. Die Lage sei so brüchig und instabil, sagt der exilrussische Analyst Ruslan Lewijew, dass am ehesten von einer „großen, unverständlichen, nebligen grauen Zone“ zu sprechen sei. Ein Militärblogger, der in den vergangenen Jahren basierend auf Satellitenbildern detaillierte Karten der Schützengräben und Luftangriffe im Frontgebiet erstellt hatte, stellt resigniert fest: „Niemand weiß, was in Dobropillja passiert.“ 

Das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW), das für seine weitgehend spekulationsfreie Kartierung der Lage an der Front bekannt ist, hat schon Mitte August Konsequenzen für seine Vorgehensweise bei der Einschätzung der Situation gezogen. Die Angaben des Instituts zu den derzeit umkämpften Gebieten könnten „nicht zwischen russisch gehaltenen Stellungen und begrenzten Infiltrationsmissionen differenzieren“, teilte das ISW mit.

Zwar ist die Lage bei Weitem nicht an allen Frontabschnitten so schwierig einzuschätzen: Im Nordosten der Region Charkiw etwa ist ein Eindringen russischer Truppen bis ins Zentrum der umkämpften Stadt Kupjansk gut belegt; südwestlich des Frontabschnitts Pokrowsk-Dobropillja lässt sich ebenfalls ein russischer Vormarsch belegen; in der Region Sumy drängen die ukrainischen Truppen Russland mit einiger Sicherheit schrittweise zurück. Doch keiner dieser Abschnitte ist so bedeutend wie jener um Pokrowsk, wo sich fast die Hälfte aller russischen Bodenangriffe ereignet.

Dass es so schwierig ist, die Lage dort verlässlich einzuschätzen, ist mehr als ein Nischenproblem für Militärblogger, die ihr Publikum nicht mehr mit zuverlässigen Karten versorgen können. Es ist auch eine Herausforderung für jegliche Versuche, zu einer unabhängigen Einschätzung zu gelangen: Je mehr die Front sich zu einer schwer definierbaren Kampfzone ohne klare Grenzen der jeweiligen Kontrolle entwickelt, desto stärker wächst das Informationsmonopol der jeweiligen Militärführungen, zu denen die Bloggerszene ein Korrektiv bildet. Das bedeutet auch: desto größer ist der Spielraum für Irrtümer, falsche Annahmen und Manipulation. 

© Andre Alves/​Anadolu/​Getty Images


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seit Beginn der russischen Invasion

Das Zitat: Eine Flugverbotszone scheint wieder denkbar

Kurz nach Kriegsbeginn hatte die Ukraine die Nato dazu aufgefordert, eine Flugverbotszone über ukrainischem Staatsgebiet einzurichten. Damals verfügte das ukrainische Militär nicht über die leistungsfähigen Flugabwehrsysteme, die inzwischen in das Land geliefert worden sind. Das westliche Militärbündnis lehnte ab: Der Abschuss russischer Flugkörper durch westliche Kampfjets wäre eine direkte militärische Konfrontation, die vermieden werden müsse, teilte die Nato mit. 

Nachdem vergangene Woche russische Drohnen in den polnischen Luftraum eingedrungen waren und erstmals von westlichen Streitkräften abgeschossen worden sind, wird eine Flugverbotszone zumindest über westukrainischem Gebiet wieder diskutiert. Polens Außenminister Radosław Sikorski zeigte sich dafür in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung offen: „Der Schutz für unsere Bevölkerung (…) wäre natürlich größer, wenn wir Drohnen und andere Flugobjekte jenseits unseres Staatsgebiets bekämpfen könnten“, sagte er. Und weiter:

Wenn die Ukraine bitten würde, diese bereits über ihrem Gebiet abzuschießen, wäre das für uns von Vorteil. Wenn Sie mich persönlich fragen: Wir sollten darüber nachdenken.

Polens Außenminister Radosław Sikorski

Zugleich stellte Sikorski klar, dass Polen eine solche Entscheidung nicht eigenmächtig treffen werde. Die Nato hat den Schutz des polnischen Luftraums bereits verstärkt, auch mit deutschen Kampfjets. Das könnte auch für Rumänien ein Thema werden: Dort waren am vergangenen Samstag F-16-Kampfjets aufgestiegen, um eine russische Drohne im Luftraum des Landes zu beobachten. Sie schossen sie jedoch nicht ab, sondern ließen sie in die Ukraine zurückfliegen.

Dieses Foto soll eine im polnischen Czosnówka nahe der ukrainischen Grenze abgestürzte russische Drohne zeigen. Ihre Herkunft ist bislang nicht unabhängig bestätigt worden. © Dariusz Stefaniuk/​Reuters

Unterm Radar: Umerziehungscamps in Russland

Russische Umerziehungscamps: Knapp 20.000 ukrainische Kinder und Jugendliche sind nach ukrainischen Angaben aus besetzten Gebieten nach Russland entführt worden. Die Vorwürfe sind die Grundlage für den 2023 erlassenen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Eine Untersuchung der Yale-Universität untermauert diese Vorwürfe nun. Demnach soll die russische Regierung nicht nur 35.000 Kinder und Jugendliche nach Russland gebracht, sondern auch deren ideologische Indoktrinierung in Umerziehungslagern deutlich ausgeweitet haben.

Die Forscher identifizierten 210 Standorte für Umerziehung und militärische Ausbildung. Einige davon liegen demnach in besetzten ukrainischen Gebieten mit Schwerpunkt auf der annektierten Halbinsel Krim, die meisten aber in Russland – teils sogar im fast 6.000 Kilometer von der Grenze entfernten Fernen Osten des Landes. In knapp jedem fünften Standort wird laut Angaben der Forscher eine Militarisierung der Jugendlichen betrieben: Es würden unter anderem Wettbewerbe im Granatenwerfen, Schulungen in Drohnensteuerung und Schusstrainings veranstaltet. In die Organisation der Trainings in mindestens einem der Camps, in der besetzten Region Donezk, sei eine Behörde involviert, die direkt der russischen Präsidentenverwaltung unterstellt ist.

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Rüstung, Waffen und Militärhilfen: Transportpanzer und Raketen

Panzertechnik: Lettland hat Transportpanzer des finnischen Typs Patria an
die Ukraine geliefert. Das Verteidigungsministerium in Riga teilte mit,
die Systeme seien auf Bitte der Ukraine im Februar bestellt worden.
Insgesamt könne die Ukraine erwarten, 42 Patria-Transporter zu erhalten. Wie viele von ihnen nun geliefert worden sind, gab die lettische Regierung nicht bekannt. Im Juli hatte Lettland bereits 15 Fahrzeuge übergeben. 

Patria-Transportpanzer der schwedischen Streitkräfte werden im Januar 2025 im Hafen von Riga entladen. © Ints Kalnins/​Reuters

Purl-Programm: Die USA liefern unter Präsident Donald Trump keine Waffen mehr aus eigenen Militärbeständen, verkaufen sie aber zur Weitergabe an die Ukraine an Nato-Staaten. Das neue Modell ist als Purl-Programm bekannt (Prioritized Ukraine Requirement List). Mehrere Staaten, darunter Deutschland, haben bereits im August hohe dreistellige Millionenbeträge dafür zugesagt. 

Der ukrainische Präsident Selenskyj hat US-Aussagen bestätigt, wonach die ersten so finanzierten Waffenpakete auf dem Weg in die Ukraine sind. Demnach handelt es sich um Abfangraketen für das Flugabwehrsystem Patriot sowie Raketen für Himars-Werfer. Das deckt sich mit früheren Angaben der Geberstaaten zu dem Inhalt der von ihnen finanzierten Waffenlieferungen. 

Über den Tellerrand: Russlands Bomberflotte und Ukraine-Finanzierung

  • Caught in the Spiderweb: Im Juni hatte die Ukraine im Rahmen der Geheimdienstoperation Spinnennetz mindestens ein Zehntel der russischen Bomberflotte zerstört oder beschädigt. Das exilrussische Investigativmedium The Insider analysiert nun die langfristigen Folgen des Angriffs. Der Schaden ist demnach größer als bisher bekannt.
  • A €70 billion idea: Die EU-Kommission arbeitet an einem Mechanismus, der Ukraine das in der EU eingefrorene russische Staatsvermögen zukommen zu lassen, ohne es zu konfiszieren. Die ukrainische Zeitung European Pravda erklärt, wie das funktionieren könnte – und welche Hürden es dafür gibt.

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