Moskau taz | Alla Pugatschowa bezeichnet sich selbst kokett als „eine Frau, die singt“. Bei ihren legendären Auftritten jubelte der Schlagerikone einst die ganze Sowjetunion zu. Früh stieg die inzwischen 76-jährige russische Ausnahmeerscheinung zur unangefochtenen Königin der Bühne auf.
1988 nahm sie mit dem Sänger Udo Lindenberg eine Schallplatte auf mit dem Titel „Lieder statt Briefe“. Gemeinsam gingen beide auf Tournee – in der Sowjetunion, der Bundesrepublik und der Schweiz. Pugatschowas Popularität hält bis heute an. Allerdings sind es im Moment weniger der Klang ihrer sonoren Stimme, der Russlands Gemüter emotional berührt oder die Texte der von ihr interpretierten Lieder.
Es sind ihre gesprochenen Worte, die das russischsprachige Internet seit dem 10. September aufmischen. An diesem Tag gab die Diva erstmals seit Jahren des Stillhaltens ein Interview. Innerhalb von nur neun Tagen wurde das über dreieinhalb Stunden lange Youtube-Video fast 21 Millionen Mal geklickt – obwohl YouTube in Russland seit einem Jahr nur noch über VPN funktioniert.
Jetzt reden alle über Pugatschowa, nur das russische Staatsfernsehen schweigt. Der Grund liegt auf der Hand: Spätestens seit Februar 2022 wurde ihre Beliebtheit für den Kreml zum Problem, denn die Primadonna hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie rein gar nichts für Russlands kriegerische Aktivitäten in der Ukraine übrig hat.
Ein Irrtum
Das Weite suchen wollte sie trotzdem nicht. Im Frühjahr 2022 schien ihr Bleiben in Russland noch möglich. Wer hätte ihr auch Steine in den Weg legen sollen – ihr, die die Aura einer Unantastbaren umgibt? Ein Irrtum, wie sich herausstellte.
Im September 2022 verließ Pugatschowa Russland mit einem One-Way-Ticket in Richtung Israel. Dem war ein Treffen mit Sergej Kirienko vorausgegangen, dem stellvertretenden Leiter der russischen Präsidialverwaltung. Kirienko versuchte, Pugatschowa zu beschwichtigen. Es gäbe keinen Anlass zur Sorge um ihre Familie, sie könne ruhig ihre Meinung offen kundtun.
Zwei Tage später wurde ihr fünfter Ehemann Maxim Galkin, Stand-up-Comedian, Fernsehstar und erklärter Kriegsgegner, als sogenannter ausländischer Agent diffamiert. Aufgrund seiner jüdischen Abstammung lag es nahe, israelische Pässe zu beantragen. Derzeit hält sich die Familie in Lettland auf, wo die bekannte russische Journalistin Jekaterina Gordejewa das viel diskutierte Interview mit Pugatschowa führte.
Im Gespräch finden sich keine politischen Enthüllungen, keine zugespitzten Anschuldigungen gegen die russische Führung. „Alle wissen, dass ich gegen den Krieg bin“, merkt die Sängerin lakonisch an.
An der kurzen Leine
Vielen russischen Oppositionellen geht das jedoch nicht weit genug. Pugatschowa plaudert ausführlich über Privates, über ihre Karriere unter einer gängelnden Aufsicht der allmächtigen kommunistischen Partei, die sie mit Anweisungen und Verboten an der kurzen Leine hielt.
Aber ihre freizügige Erzählung enthält auch jene aufschlussreiche Episode mit Kirienko. Oder die Beschreibung einer Szene, in der Michail Gorbatschow die Sängerin um Rat bat, weil er, der mächtigste Mann der untergehenden UdSSR, keine Ahnung hatte, wie er das Volk für sich gewinnen könne.
Von Wladimir Putin als jungem Nachfolger Boris Jelzins habe sie viel gehalten, weil er damals die richtigen Worte gefunden habe – auch über die Ukraine. Denn einen Krieg mit dem Nachbarland habe Putin ausgeschlossen. Mit Dmitrij Medwedjew, den Putin von 2008 bis 2012 zwecks Einhaltung der Verfassung im Kreml plazierte, habe sie nach eigenen Worten einst sogar so etwas wie Freundschaft verbunden. Inzwischen erkenne sie beide nicht wieder, das sei ein Schock.
Pugatschowa spricht nicht als Politikerin, die sie nie war, sie spricht zu ihren Fans. Intuitiv weiß sie, welchen Ton sie anschlagen muss, um bei ihnen Gehör zu finden. Sie zeigt Mitgefühl für sie, gibt fatale Fehleinschätzungen zu. Mit der simplen Formel „Patriotismus ist der Heimat zu sagen, dass sie Unrecht hat“ lädt sie die Bevölkerung dazu ein, es ihr gleichzutun.
Ein neues Idol
Ihr angestammtes Publikum dankt es ihr, Teenies haben ein neues Idol entdeckt. Massenweise finden sich Kommentare wie dieser: „Einen solchen positiven Stimmungswandel bei völlig unterschiedlichen Menschen habe ich nur 1991 auf den Barrikaden des Weißen Hauses gesehen. Sie hat uns in einer scheinbar hoffnungslosen Zeit Hoffnung gegeben!“
Nein, eine „Volksfeindin und Verräterin“ sei Pugatschowa, echauffierte sich Tschetscheniens mit äußerster Brutalität herrschendes Oberhaupt Ramsan Kadyrow. Den sowjetischen General Dschochar Dudajew, Anfang der 1990er Präsident der niemals anerkannten separatistischen Republik Itschkerija und Hassobjekt Nummer eins der moskautreuen tschetschenischen Führung, bezeichnete Pugatschowa als „anständigen Menschen“.
Dafür bekam sie auch aus den Reihen sogenannter Kriegsblogger*innen Schelte. Der TV-Anwalt und Afghanistan-Veteran Alexander Treschtschow fühlte sich durch diese Aussage sogar in seiner Ehre gekränkt und reichte Klage bei Gericht ein. Umgerechnet 150 Millionen Euro Schmerzensgeld fordert er.
Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums und nie um einen peinlichen Kommentar verlegen, tat das Interview als „Basar der Heuchelei“ ab. „Ich weiß, was als Nächstes passieren wird, aber ich darf es nicht sagen“, gibt Pugatschowa an ihre Fans weiter. „Merkt euch das Jahr 2027.“