Die öffentlich ausgetragene Debatte über den Volksentscheid zur vorgezogenen Klimaneutralität lässt die rot-grüne Regierung in Hamburg erbeben. Zwischen Gutachten, Parteibasis und Pressemitteilungen droht das Bündnis zu zerbröseln.

Als Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) am Mittwoch am Hamburger Flughafen ein Flugzeug bestieg, um mit einer Delegation aus Politik und Wirtschaft zu einer Reise nach Kanada und in die USA aufzubrechen, verließ er eine Stadt in Unruhe. Zwar hatte sich der erste Herbststurm des Jahres gelegt, aber in der von ihm geführten Rot-Grünen-Koalition war die gern öffentlich zur Schau getragene Harmonie mit einem Schlag quasi weggepustet worden. Dabei war es doch gerade dieses enge Zusammenwirken, dieses beinahe romantische Hand-in-Hand-Gehen mit gemeinsamen und sorgsam abgestimmten Pressemitteilungen und in Doppelbesetzung vorgetragenen Senatsentscheidungen, die nach der Bürgerschaftswahl im März dieses Jahres als Hauptgrund für die Fortsetzung der Zusammenarbeit benannt wurden. Tempi passati!

Der zerstörerische Keil wird von einem Volksentscheid zwischen die Partner getrieben. Am 12. Oktober können die Hamburgerinnen und Hamburger darüber entscheiden, ob die Regierung das Ziel der Klimaneutralität der Stadt von spätestens 2045, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart worden war, auf 2040 vorziehen muss. Das Votum ist für den Senat verbindlich, so sieht es die Gesetzeslage vor. Und wer auf die zuletzt durchgeführten Volksentscheide, etwa zum Rückkauf der Energienetze, blickt, weiß: Zumeist entscheidet sich das Volk anders, als die Regierung es will. Aus dieser Erfahrung heraus versuchten SPD und Grüne in der Vergangenheit mit ihren geschicktesten Verhandlungsführern, vor einer öffentlichen Abstimmung einen Kompromiss mit den jeweiligen Initiativen auszuhandeln. War dies aussichtslos, wurde gegen die Vorlagen geklagt.

Im Fall des Bündnisses, das sich eine frühzeitigere Klimaneutralität wünscht, war eine Vorab-Einigung jedoch nicht gelungen. Dafür waren die Forderungen zu konkret, dazu waren auch die Macher – getragen von Umweltverbänden, Kulturschaffenden und Prominenten wie Segler Boris Herrmann oder Klimaaktivistin Luisa Neubauer – in ihrer Haltung zu eindeutig.

Und von diesem Moment an war klar, dass das mit warmen Worten umhüllte Regierungsgerüst im Inneren eigentlich nur mit Kabelbindern zusammengehalten wird. Sichtbar wurde das, als am Dienstag die von der Grünen Senatorin Katharina Fegebank geführte Umweltbehörde ein Gutachten dazu veröffentlichte, was denn ein Vorziehen der Klimaneutralität konkret bedeuten würde – etwa für die Bauwirtschaft, den Verkehr oder den Ausbau der Energieträger. Dazu später mehr. Das Papier war kaum in der Öffentlichkeit gelandet, als die Fraktion der Grünen den bisherigen Common verließ und beinahe triumphierend in einer Pressemitteilung konstatierte, dass Klimaneutralität „selbstverständlich sozialverträglich möglich“ sei. Und einen Tag später legte der Landesverband mit einer klaren Empfehlung nach: „Mit dem Zukunftsentscheid haben es die Hamburgerinnen und Hamburger in der Hand!“, positionierte sich der Co-Landesvorsitzende Leon Alam. Sollte der Zukunftsentscheid erfolgreich sein, „wird er unsere Stadt zum Positiven verändern, davon bin ich überzeugt“, teilte Alam mit – und entfernte sich damit noch weiter von der SPD.

Die SPD reagiert mit einem schnellen Konter

Diese nämlich hatte zwischenzeitlich mit einer eigenen Pressemitteilung gekontert, ausformuliert von Fraktionschef Dirk Kienscherf. „Das Zieljahr 2040 würde viele Hamburger hart treffen“, hieß es bei ihm. Klimaneutralität bis 2040 würde massive Einschnitte für die Hamburger, für Industrie und Wirtschaft bedeuten. In vielen Bereichen wäre dies, so Kienscherf, ohnehin nur durch weitreichende Entscheidungen und Entwicklungen auf EU- und Bundesebene realisierbar. Deswegen sei die SPD weiterhin gegen die Ziele des Klimaentscheids. Und es liest sich wie eine Breitseite gegen den Koalitionspartner, wenn der SPD-Fraktionschef mit den Worten schließt: „Wer jetzt noch davon redet, dass ein gesetzliches Vorziehen der Klimaneutralität auf 2040 ohne erhebliche Folgen für die Menschen und die Wirtschaft in Hamburg möglich ist, ignoriert die Realität.“

Aber wie sieht sie denn aus, diese Realität in der Vorausschau, wie sie die Gutachter des Hamburg Instituts und des Öko-Instituts – beide nicht unbedingt für ihre übergroße Wirtschaftsnähe bekannt – ermittelt haben? Bis 2040 müssten alle Gas- und Ölkessel in Wohn- und Nichtwohngebäuden ersetzt und das Gasnetz stillgelegt werden. Parallel wären ein rasanter Ausbau des Fernwärmenetzes und eine bisher nicht geregelte CO₂-Verpressung für Restemissionen erforderlich. Diese hatte Umweltsenatorin Fegebank unlängst ohnehin gefordert, der Applaus aus den eigenen Reihen fiel dafür sehr spärlich aus.

Im Verkehr schlagen die Gutachter Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit für das gesamte Stadtgebiet vor, verbunden mit einer deutlichen Reduktion des Pkw-Verkehrs durch Umverteilung von Straßenraum zugunsten von Bus, Bahn und Fahrrad. Zusätzlich kämen Umweltzonen im Hafen in Betracht. In der Industrie wäre ein vollständiger Ersatz von Erdgas sowie raffinerietypischen Brennstoffen durch Wasserstoff oder E-Fuels nötig – Technologien und Mengen, die in dieser Größenordnung derzeit nicht verfügbar sind. Auch die vollständige Elektrifizierung von Mobilität und Prozessen müsste 2040 abgeschlossen sein.

Würde die EU mitmachen? Woher kommt der Ökostrom?

Neben der technischen Machbarkeit betont die Studie die Abhängigkeit Hamburgs von Bundes- und EU-Rahmenbedingungen, wie sie auch Kienscherf anmerkte. Ein beschleunigter Ausbau von Wind- und Solarenergie ist zentral, doch die Verfügbarkeit bezahlbaren Grünstroms kann die Stadt nur begrenzt beeinflussen. Ebenso würde eine drastische Beschleunigung der energetischen Sanierungen im Gebäudebestand verlangt – mit entsprechenden Investitionen und Handwerkerkapazitäten. Die Gutachter warnen vor spürbaren Mehrbelastungen für private Haushalte, Unternehmen und den Landeshaushalt und sehen das Risiko sozialer Härten. Vor diesem Hintergrund erklärt die Umweltbehörde den bestehenden Klimaplan mit Zieljahr 2045 als weiterhin „wissenschaftlich fundiert und hoch ambitioniert“.

Und damit wird auch deutlich, in welche Zwickmühle Katharina Fegebank als Behördenchefin geraten ist. Ohnehin wirken einige der Grünen Senatoren von der Fraktion und der sonstigen Parteibasis geradezu abgekoppelt; hier die pragmatische Linie, die sich durchaus gekonnt seit vielen Jahren am Koalitionsvertrag und an den Realitäten des Behördenlebens und der Außenwelt entlangschlängelt und die zu den engen Beziehungen insbesondere zu Tschentscher geführt haben; dort die oft frisch aus der Bezirkspolitik in die Bürgerschaft gespülten Vertreter grüner DNA-Basiswerte, die von allzu großem Pragmatismus wenig halten. Wie uneins man sich zudem grundsätzlich innerparteilich ist, zeigte sich, als die Grüne Fraktionsführung gerade mal so eben in ihre Ämter gewählt wurde. 

Aber auch in der SPD-Fraktion gibt es verschiedene Lager, Unterstützer des Zukunftsentscheids gibt es hier durchaus. Wer mit einem Scheinwerfer auf die Koalitionäre richtet, erkennt schnell, wie dünnhäutig die Protagonisten geworden sind. Wenn nach dem 12. Oktober, je nach Ausgang des Volksentscheids, die einen jubeln und die anderen übel nehmen, dürfte das die Situation noch deutlich verschärfen.

Die Grünen folgen mit ihrer neuen Haltung – vor dem Gutachten war der Zukunftsentscheid zumindest in der öffentlichen Kommunikation nicht unterstützt worden – nun auch der veränderten Grundausrichtung der Bundespartei, die sich nach ihrer missglückten Ampelzeit neu ausrichtet und das kämpferische Öko-Profil wieder stärker betonen will. Das macht es für jene nicht einfacher, die in den Ländern in Regierungsverantwortung stehen und – wie jetzt in Hamburg – von ihrer eigenen Basis bedrängt werden. Es dürfte spannend sein zu sehen, wie sich etwa Fegebank am Montag bei einer Podiumsdiskussion mit einer Vertreterin von Fridays for Future in der Patriotischen Gesellschaft zum Klimaentscheid positionieren wird.

Und Bürgermeister Tschentscher? Er kommt erst Ende der neuen Woche wieder von seiner Delegationsreise nach Hamburg zurück, seine Richtlinienkompetenz wird er in dieser Frage ohnehin kaum ausrollen können. Oppositionsführer Dennis Thering (CDU) sieht dennoch eine Bringschuld bei ihm: „Schweigen ist keine Führung – es ist ein Ausweichen. Die Hamburgerinnen und Hamburger haben ein Recht darauf zu erfahren, wofür ihr Senat steht. Der Bürgermeister muss diesen Streit beenden.“ Die CDU selbst sei klar gegen einen Zukunftsentscheid, der Hamburg überfordere und falsche Versprechungen mache.

In jedem Fall muss Tschentscher so sehr auf seine Koalition aufpassen wie noch nie zuvor, denn die Fliehkräfte haben eine neue Stärke erreicht. Verliert er den Zukunftsentscheid, muss er contre cœur eine Politik umsetzen, die ihm vom kleinen Koalitionspartner mit auf die Agenda gesetzt wurde und die in vielen Bereichen gegen die bisherige Positionierung der wirtschaftsnahen Hamburger Sozialdemokraten steht. Warum er das dann auch noch mit den teilweise ins Brutus-Lager gewechselten Grünen an seiner Seite machen will, müsste von ihm mit Blick auf die noch lange Legislaturperiode neu begründet werden.