Hana ist 15 Jahre alt, als Kimiko in ihr Leben tritt. Eines Morgens, als das Mädchen aufwacht, ist die Frau einfach da, schläft auf dem Futon der Mutter, direkt neben dem ihren. Die Mutter selbst ist, wie so oft, abwesend. Doch Kimiko bleibt – zumindest vorerst –, und zum ersten Mal in ihrem Leben hat Hana den Eindruck, dass sich jemand um sie kümmert, sich für sie interessiert, ja sogar: sie beschützt. Kimiko füllt den Kühlschrank und kocht Essen, macht Ordnung, putzt und wäscht. Und sie redet mit den Halbstarken vor dem Supermarkt, die sich lautstark über Hana lustig machen. Fortan ist auch das abgestellt. Mit Kimiko, so scheint es, findet Hana zum ersten Mal einen Halt in ihrem Leben, in das plötzlich Freude und Leichtigkeit Einzug halten. Vier lange Sommerferienwochen geht das so. Dann, am ersten Schultag, ist Kimiko genauso plötzlich wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht ist.
Die japanische Schriftstellerin Mieko Kawakami erzählt in ihrem aktuellen Roman „Das gelbe Haus“, der nun in deutscher Übersetzung vorliegt (das japanische Original erschien bereits 2023), eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, die sich im Laufe der rund 520 Seiten zum Krimi auswächst. Zugleich gelingt Kawakami ein großer Gesellschaftsroman, der – anders als so viele andere Gesellschaftsromane – komplett aus weiblicher Perspektive geschrieben ist. Sie erzählt von vier Frauen, die in der Morgendämmerung des digitalen Zeitalters in ein fragiles Leben jenseits von traditionellen Rollenmodellen aufbrechen und ihr Glück suchen. Doch was könnte das sein, Glück?
Mieko Kawakami: „Das gelbe Haus“ (Dumont), 528 Seiten, 26 Euro.
Erzählt im Rückblick aus der Pandemiezeit, ist der Hauptteil der Handlung rund um die Jahrtausendwende angesiedelt. Hana, die Ich-Erzählerin, wächst in prekären Umständen auf. Die Eltern sind getrennt, die Mutter arbeitet als Animierdame in einer „Snackbar“ um die Ecke und überlässt das Mädchen weitgehend sich selbst. Geld gibt es mal mehr, oft eher weniger in der alten Keksdose, die als Haushaltskasse dient, Hana muss schauen, wie sie damit über die Runden kommt. „Sobald ich mit der Schule fertig bin, bin ich hier weg, dachte ich. Das Geld dafür erarbeite ich mir.“ Also schuftet Hana zwischen Schule, Badehaus und Bett jede freie Minute in einem „Family Restaurant“ als Kellnerin. Doch die sauer verdienten Yen werden ihr von einem halbseidenen Freund der Mutter – er heißt tatsächlich „Träne“ – kurzerhand gestohlen.
Ist das Leben mit der Wiege, in die man hineingeboren wird, vorbestimmt? Oder kann man sich aus seinem Schicksal befreien? Braucht man Geld, um seine Träume zu verwirklichen? Und wenn ja, wieviel? Ist es nicht am Ende immer zu wenig? Oder sind die Träume zu groß? Das sind Fragen, die Kawakami in „Das gelbe Haus“ aufwirft.
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Nach der bitteren Enttäuschung des Diebstahls trifft Hana, wie es der Zufall will, Kimiko auf der Straße wieder und schließt sich ihr an. Zwei Jahre sind inzwischen vergangenen, Hana ist nun 17. Die beiden ziehen zusammen und eröffnen – Kimikos Plan – ihre eigene kleine Bar, das „Lemon“. Hana steigt also selbst ins Nachtleben ein, lernt, sich zu schminken und Bier zu trinken. Mit Ran und später Momoko kommen zwei weitere Mädchen in Hanas Alter hinzu. Es ist die Zeit des „Lolita-Booms“ in Japan, in der Schulmädchen ihre getragenen Schlüpfer an Fetischisten – zumeist ältere Herren – verkaufen. Ältere Herren, die auch gerne in der Bar verkehren. Doch Hana, Ran und Momoko haben von diesen Dingen kaum etwas gehört und keine Ahnung. Für sie ist das Leben im „Lemon“ ein Spiel, es ist ein Ort der Freundschaft und Gemeinschaft, der Leichtigkeit und des Lachens. Es sind rosige Zeiten, und Kimiko, die Mutter der Kompagnie, hat die Dinge im Griff – scheint es. Doch welche Rolle spielt Yeong-su, der Kimiko immer wieder Geld bringt und, wie Hana herausfindet, das „Lemon“ für illegales Glücksspiel benutzt?
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Die Farbe Gelb im Westen. Nach der strengen Einrichtungslehre des Feng-Shui soll das Geld ins Haus bringen. Wenn man sich entsprechend einrichtet, wendet sich das Schicksal zum Guten. Und weil Hana ein bisschen abergläubig ist, beginnt sie, einen kleinen Altar mit gelben Devotionalien einzurichten, die sie sammelt. Auch im japanischen Namen Kimiko steckt die Farbe Gelb. „Lemon“, die Zitrone, gelb – klar. Für Hana verbindet sich mit all diesen mehr oder weniger großen Zufälligkeiten die Hoffnung auf eine glückliche Fügung. Wie schon als Kellnerin im „Family Restaurant“, beginnt sie Geld zu sparen.
Die Dinge kippen, als die vier Frauen erfahren, dass sie aus ihrer Wohnung ausziehen müssen. Als Kimiko sich nicht um Ersatz kümmert und die Zeit immer knapper wird, ist es Hana, die eine neue Bleibe findet, ein kleines Haus. Doch kurz darauf brennt das „Lemon“ eines nachts nieder, und plötzlich stehen die Vier vor dem Nichts. Hinzu kommt eine Dummheit von Momoko, die sich von einer Drückerkolonne für einen dubiosen Ticketverkauf im großen Stil anheuern lässt und von jetzt auf gleich Tausende Yen Schulden hat. Doch je schlimmer die Lage wird, desto mehr fällt Kimiko als Verantwortungsträgerin aus. Sie wird immer lethargischer, verbringt Stunden vor dem Fernseher und ist außer zum Putzen zu kaum noch etwas zu gebrauchen. Hana muss die Dinge in die Hand nehmen, und sie ist bereit, sich für den Traum vom großen Glück auf immer waghalsigere Unterfangen einzulassen.
Zur Person
Mieko Kawakami, 1976 geboren in Osaka, gilt als Vertreterin einer jungen, rebellischen Autorengeneration. In ihren dezidiert feministischen Werken entzieht sie sich dem Klischee der unterwürfigen japanischen Frau.
Mit „Brüste und Eier“ (2019) erlangte sie internationale Bekanntheit. Der Roman wurde von der „New York Times“ zu einem der bemerkenswertesten Bücher des Jahres gekürt und vom „Time Magazine“ unter die besten zehn Bücher des Jahres 2020 gewählt. Die Ursprungsversion des später überarbeiteten und erweiterten Romans entstand im Blog der Autorin und wurde 2007 mit dem wichtigsten japanischen Literaturpreis, dem Akutagawa-Preis, ausgezeichnet.
Mit der englischen Übersetzung des Nachfolgers „Heaven“ (im Original: 2009) stand Kawakami 2022 auf der Shortlist für den International Booker Prize. 2023 erschien international auch „All die Liebenden der Nacht“ (im Original: 2011). Die Sammlung „Frühlingsängste“ mit Erzählungen ist bislang nur als Hörbuch erschienen.
Kawakami ist seit 2011 mit dem Schriftsteller Abe Kazushige verheiratet. Sie lebt in Tokio.
Mieko Kawakami erzeugt in „Das gelbe Haus“ mit dem Strudel aus Hoffnung und Enttäuschung, aus Glück und Scheitern, einen unglaublichen Sog. Rasant und mit viel Empathie für die Figuren geschrieben, träumt und leidet der Leser mit der so naiven wie starken Hana, und er lernt mit ihr die bitteren Lektionen des Lebens. Ein großer Roman.