Mit einem Bekenntnis zur Fantasie und zur Freiheit des Individuums startet das Schauspiel Stuttgart in die Saison. Ist die Uraufführung von Tomer Gardis „Eine runde Sache“ gelungen?
Der Saisonauftakt im Schauspiel Stuttgart ist ein Etikettenschwindel. Wenn die Uraufführung etwas nicht ist, dann eine runde Sache, abgesehen davon, dass das Drama diesen Titel trägt. Tomer Gardis Werk ist eckig, stuppig, mutig, wild und klug. Es ist für jene eine Freude, die Spaß am Rätseln, an Literatur, an Sprachwitz, Ironie und etwas Trash haben, also an Verunsicherung und Ambivalenz.
Das fängt schon damit an, dass jeder, der versucht, dieses Stück nachzuerzählen, schiefe Blicke ernten dürfte. Worum geht’s? Um einen Autor in der Not, der im deutschen Wald gejagt wird. Um einen philosophierenden Deutschen Schäferhund namens Rex, der eine Plastikvagina auf der Schnauze trägt. Um den Erlkönig im Adidas-Anzug, der seinen toten Elfen nachtrauert und an der Bushaltestelle Lieder singt.
Uraufführung im Stuttgarter Kammertheater
Tomer (Vernesa Berbo) vor der vom Adler (Marco Massafra) bewachten Arche, zu der Schäferhund Rex (Sebastian Röhrle) Tomer geführt hat. Foto: Björn Klein
Und da wäre noch ein Ort namens Obdach als eine Anspielung an die transzendentale Obdachlosigkeit, unter der alle Figuren leiden. Und diese Seniorin in Grau-Beige, die dann doch an die Hexe aus Hänsel und Gretel erinnert. Schließlich geht es auch um eine Arche Noah mit dem mechanisch knödelnden Bundesadler als Wächter. Und nach der Pause? Sind alle weg.
Plötzlich ist man auf Java und trifft auf den begabten jungen Raden Saleh Syarif Bustaman, der in den Niederlanden Kunstunterricht nimmt, überall gekrönte Häupter porträtiert, javanischen Bauern, hoch zu Ross auf sächsischen Pferden mit Löwen (die der Maler nur aus dem Zirkus kennt) kämpfend. Und der doch wieder heimgeschickt wird, wo er genauso zum Fremden wird wie in Europa, wo er als Exot wahrgenommen wurde.
Schmaler Grat zwischen Theorie und Trash
Gemeinsam haben diese beiden Teile erst einmal nichts und dann doch sehr viel. Das Fremdsein im eigenen Land, die Frage, woraus sich Identität speist, welche Mythen und Erzählungen es über ein Land gibt, und vor allem: Wie wir über all das sprechen. Miteinander. Gegeneinander. Und zuguterletzt: Was ist Kunst?
Die klassische Erzählweise hat der 1974 geborene und auf Deutsch und Hebräisch schreibende Autor Tomer Gardi schon mit seinem Roman unterlaufen. Und der um 15 Jahre jüngere deutsch-israelische Regisseur Noam Brusilovsky, der die Bühnenfassung geschrieben und inszeniert hat, entscheidet sich dafür, die Romanteile nicht zwangszuvereinen.
Doch abgesehen von einfachen Sprachspielen, die beim Hören besser verstehbar sind als beim Lesen, wenn Yacht und Jagd je nach Dialektfärbung identisch klingen – was bleibt fürs Theater übrig? Was für einen Roman gut, muss nicht unbedingt auf der Bühne funktionieren. Die Regie bewegt sich aber gekonnt auf einem schmalen Grat zwischen Theorie und Trash.
Die Bühnen- und Kostümbildnerin Maria Magdalena Emmerig steuert zum Thema Kleidung, Popkultur und politische Haltung einiges bei – der Erlkönig trägt Adidas, eine Marke von Schuhproduzenten, die 1933 in die NSDAP eingetreten waren und deren Sportkleidung heute von Popgrößen und (noch) von der deutschen Fußballnationalmannschaft getragen wird. Rex hat ein Fred Perry Shirt an, zeitweise von Skinheads getragen, aber auch von Punks.
Der Autor ist in Stuttgart bei der Uraufführung
Jazzige Musik untermalt Gardis Erzählung in betont gebrochenem Deutsch von dem Theaterabend, wo ihm eine „Salzgürke“ vom Brötchen fällt und ausgerechnet die Intendantin darauf ausrutscht. Dass das ein billiger Slapstick ist, gibt der sein unperfektes Deutsch zelebrierende Autor gern selbst zu: „Ins Theater aber, in eine ernste Haus so wie der hier, darf so eine Szene nicht vorkommen. So eine billige Akt, eine so abgespieltes Slapstick, so unmodern und so niedrig in seiner Niveau, hat auf eine Bühne wie diese kein Platz.“ Gedankenpause und triumphierender Gesichtsausdruck: „Und ich, in meiner Achtlossichkeit, habe so eine Szene gerade hier trotzdem geschaffen.“ Das ist der Triumph des Künstlers über den Theaterknigge.
Das mit dem Ausrutschen sparen sich die Darsteller. Die Intendantin ist nur als riesenhafte Schattenrissfigur auf dem altmodischen Theatervorhang zu sehen – Marietta Meguid leiht ihr die Stimme – von wo aus die auf den kleinen verdatterten Dramatiker Tomer Gardi blickt. Vernesa Berbo, Gast im Schauspielensemble, trägt als Figur Tomer Gardi eine ähnliche Frisur wie der Autor Tomer Gardi, der nach zwei Theaterstunden den Applaus entgegennimmt.
Plädoyer für die Kunst
Die Schauspielerin interpretiert ihre Gardi-Figur oft mit lässigem Fingerschnippen begleitend, und sie hat einen besonders starken Auftritt gegen Ende des ersten Teils, wo die Figur sich weigert, aufs Dasein als „Ewiger Jude“ (das der Erlkönig ihr wörtlich so zugeschrieben hatte) reduziert zu werden. „Der ewige Zeuge bin ich sicherlich nicht. Schluss, ich hatte genug. Ich zeugte schon von zu viel. Das mach ich nicht mehr.“ Nein, Tomer will vor allem als eines wahrgenommen werden: als Künstler, der der Fantasie, der Kunst huldigt.
Sebastian Röhrle wiederum hat sich mit seiner Schäferhunddarstellung nun schon zum Spielzeitstart den Titel Theatertierdarsteller des Jahres gesichert. Zumal er die hohe Kunst beherrscht, nicht nur eine sensible deutsche Hundeseele sympathisch rüberzubringen, sondern aus allen Vokalen ein „Ü“ zu machen und dennoch verständlich zu bleiben.
Gleichwohl haben Autor und Regieteam sich entschieden, im Dialog immer noch einmal diese hündische Rede übersetzen zu lassen, was den Dialog zuweilen etwas ausbremst: „,Rex: Üch würdü üs dür sügün. Übür dü würdüst mür nücht glübün.’ – Tomer: ,Was würdest du mir sagen, Rex? Was werde ich dir nicht glauben.’“ Ein herrlich amüsant aneinander vorbeiredendes Trio bilden dann aber alsbald Gardi, Rex und Erlkönig (Reinhold Mahlberg singt überzeugend im raunend hohen Ton).
Ein Maler aus Java in den Niederlanden
Vernesa Berbo im zweiten Teil des Abends, als Museumsangestellte und Künstlerfigur, sie zeigt auf ein Porträt, gemalt von Raden Saleh Syarif Bustaman. Foto: Björn Klein/Schauspiel Stuttgart
Radikaler Wechsel in der Spieltemperatur und Inszenierungsweise nach der Pause. Die Geschichte des jungen Malers, den es von Java nach Den Haag verschlägt (und wieder zurück) wird als dokumentarische Installation inszeniert, jeder im Ensemble verkörpert einmal diesen Helden, Videoeinspielungen aus den Niederlanden von heute und Bilder, die Raden Saleh Syarif Bustaman gemalt hat, sind nun zu sehen.
„Man sah in seinen Werken eine ferne Wahrheit über Java, die er in seinen Ölgemälden nach Europa brachte“ – was sie mit der Wirklichkeit zu tun haben? Eher wenig. In ruhigem Ton wird die Frage des Kolonialsmus wie auch der Glaubwürdigkeit und Authentizität in der Kunst behandelt. Ganz ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben, zeigt dieser Abend, wie fragwürdig derlei Zuschreibungen doch sind. Und so geht das Publikum am Samstag mit sehr vielen verschiedenen Erzählungen nach Hause, mit Assoziationen, Bildern, Gefühlen, die nachwirken. Gelungener kann ein Spielzeitauftakt kaum ausfallen.
Info
Autor und Regisseur
Tomer Gardi wurde 1974 im Kibbuz Dan in Galiläa geboren, er studierte Literatur und Erziehungswissenschaft. Der Autor schreibt auf Hebräisch und Deutsch. Der Roman „Eine runde Sache“ erhielt im Jahr 2022 den Preis der Leipziger Buchmesse. Der Regisseur Noam Brusilovsky, der die Theateradaption zu „Eine runde Sache“ geschrieben hat, hat früher schon mit Gardi gearbeitet. Er übernahm die Regie für Gardis Hörspiel „Broken German“, der auf Gardis 2016 erschienenem Debütroman „Broken German“ beruht. Die SWR-Produktion erhielt 2017 den Deutschen Hörspielpreis der ARD.
Termine
Tomer Gardis „Eine runde Sache“ ist im Stuttgarter Kammertheater zu sehen am 25.-27. September, 10., 11., 23., 24. Oktober sowie am 8. und 9. November.
Weitere Premieren
Thomas Melles „Die Welt im Rücken“ (Regie: Lucia Bihler) feiert am 27. September Premiere im Schauspielhaus. Peter Weiss’ Stück „Die Ermittlung“ (Regie: Burkhard C. Kosminski) wird außer Haus gespielt. Die Premiere ist am 30. September und findet im Landtag von Baden-Württemberg statt.