Der Wind weht nach Kräften, doch die sich auftürmenden Regenwolken verharren am Himmel wie schlecht gelaunte Riesen, dafür rauscht es hübsch, das sind die Blätter der frisch gepflanzten Bäume auf der Wiese im gerade entstehenden Bad Cannstatter Quartier namens Neckarpark. Rosafarbene Ballons vor dem frisch eröffneten Bäckereigeschäft wackeln lustig vor sich hin. Mütter mit Kindern machen Station und die jungen Leute, die ihre Hunde spazierenführen.
Die Brezel-Preise zur Eröffnung des Ladens erinnern an Hab-sie-selig-D-Mark-Zeiten. Ansonsten ist da, wo früher ein Schrottplatz und Güterbahnhof waren, neue Wohn- und Arbeitswelt. Flachdachbauten und ein innovatives Parkhaus, welches das Quartier mit Energie versorgen wird, stehen schon länger.
Stuttgarter Vorzeigequartier für 2000 Menschen
Es riecht nach Baustelle, gegenüber des Bäckers wird demnächst ein Mehrfamilienwohnhaus fertig. Unübersehbar mit seinen hängenden Gärten ist der Gebäudekomplex vis à vis. An der Treppe am Marga-von-Etzdorf-Platz warten der Architekt Eckart Mauch von Glück + Partner und Marco Tschöp, der Projektleiter und Vertreter der Stadt Stuttgart als Bauherrin für einen Rundgang außerhalb der Schulzeit.
Entstanden ist in dreijähriger Bauphase ein Multifunktionswunderwerk – ein Kinder- und Familienzentrum, eine Grundschule, eine Sporthalle und der zweitgrößte Volkshochschulbau der Stadt. Das Baufeld war fünfeckig, das spitze Dreieck am Rand wurde freigelassen.
Dort steht jetzt ein Skulptur aus dem Depot der Stadt von Georg Karl Pfahler aus von 1977, die ein bisschen aussieht wie ein aufgeschlagenes. Der Gebäudeumriss ist mehreckig mit einem großen geschützten Innenhof, der sich nur zur Seite des Bertha-Thalheimer-Weges hin öffnet. „Wie ein Schiffsbug“, sagt der Architekt rage das Gebäude inr die Sielung hinein.
Ein Holzhybrid-Bau mit viel Begrünung
Fast schon heimeliger Holzduft umfängt einen, wenn man das Gebäude mit dem niedlich klingenden Namen „Bine“ – Abkürzungsneuschöpfung aus „Bildungshaus Neckarpark“ – vom Marga-von-Etzdorf-Platz aus betritt. Des nachhaltigen Baustoffes wegen und weil der Untergrund im Mineralquellenschutzgebiet ist und nicht zu viele Lasten tragen soll, wurde in Holzhybridbauweise geplant, sehr viel Baubuche verwendet, Eichenholz und Tanne.
Die Mensa und das Kifaz (Kinder- und Familienzentrum) haben ihren Eingang auf der Seite und die 448 Kinder, die in der Grundschule lernen können: sie ist so neu, dass sie noch nicht einmal einen Namen trägt, wie Marco Tschöp berichtet. 2000 Menschen sollen im nachhaltig geplanten Quartier einmal leben, aktuell verteilen sich die ersten Schülerinnen und Schüler der inklusiven Schule in zwei Klassen.
Fröhliches Grün in der Stuttgarter Schule Viel Holz und Grün – Blick in ein Klassenraum der Schule im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt. Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko
Neben Beton ist vor allem Holz das bestimmende Material im Gebäude, als Sitzbänkchen auf den Treppenstufen im großzügigen Atrium, an den Wänden, selbst bei der Deckenverkleidung in den Kindertagesstätten- und den Klassenzimmern.
Maximal offen soll alles sein – eigentlich. Die Versicherungsexperten der Unfallkasse allerdings sind unerbittlich, was die Sicherheit betrifft. Auch Unfall- und Brandschutzauflagen fordern manches, das die Gestalter so nicht geplant hätten. So gibt es zwischen den beiden Einrichtungen eben doch Glaswände mit Türen, die ihren Griff auf 1,70 Meter Höhe haben, damit ausschließlich das betreuende Personal die Türe öffnen kann. Auch die Betonmauerabtrennung im Hof, wo die Kindergruppen spielen, waren kein Wunsch der Architekten, wie Eckart Mauch beim Rundgang berichtet.
Begrünte Laubengänge
Damit muss man leben, kann man auch. Denn der beigefarben gesprenkelte Betonwerkstein am Boden in den Gängen, das helle Linoleum in den Räumen der Schule, die großen bodentiefen Fenster, das fröhliche Grün als Leitmotivfarbe von den Küchen über die Stühle bis zu den lindgrün quadratische gekachelten Toiletten und bei der Beschriftung und Möblierung schaffen eine fröhlich wirkende Atmosphäre. Und natürlich die Laubengänge, die Ausblicke erlauben – auf den Platz und das alte Backsteingebäude, in dem das Stadtarchiv untergebracht ist, beispielsweise, auf das ebenfalls begrünte Parkhaus und die Grabkapelle auf dem Würtemberg.
Das Gebäude ist zu 40 Prozent begrünt an der Fassade und auf dem mit Fotovoltaik belegten Dach, „das sind zehn Prozent mehr als vorgeschrieben“, sagt Eckart Mauch. Die Pflanzen, die entlang der Fassade ranken, sind selbstredend so ausgewählt, dass die Kinder, sollten sie ihr Pausenbrot mit Blumen geschmückt verzehren, bei guter Gesundheit bleiben.
Die Landschaftsarchitekten von Pfrommer + Roeder haben Pfeifenwinde, Anemonen-Waldrebe, fünfblättrige Akebie und dergleichen ausgewählt. „Die Klettertrompete auf der Seite der Volkshochschule blüht besonders prächtig“, sagt der Architekt. Auf der Schulseite sind der Kinder wegen die Pflanzen für Bienen und Wespen eher uninteressant, dafür gibt es Nistkästen im Dachrand für Fledermäuse, an Sperlinge und Mauersegler ist auch gedacht worden.
Turnhalle mit Technikclou
Zähle man Fassaden-, Dach- und sonstige Begrünung auf dem Grundstück zusammen, biete man so viel Versickerungsfläche als stünde kein Stein auf dem Grundstück, das zum Teil einmal als Schrottplatz genutzt wurde, sagt der Architekt, während man auf dem oberhalb der Sporthalle liegenden Hof der Schulkinder steht, der mit Laubengängen auch Schattenplätze im Sommer bietet.
Die Halle wird auch von Vereinen genutzt und ein kleinerer Gymnastikraum bietet, wie Marco Tschöp berichtet, interaktives Lernen. So könne man beispielsweise auch ballspielend Mathe oder Wörter lernen – wenn auf einem projizierten Bild sieben Gegenstände oder Zahlen zu sehen sind, die dann mit einem besonderen Ball angeschossen werden – die mit Smartphones und Computern aufgewachsene Jugend merkt so fast gar nicht, dass sie sich beim spielen gleichzeitig sportlich betätigt. Schöne neue digitale Lernwelt.
Architekt Eckart Mauch vom Stuttgarter Büro Glück + Partner, das 2021 den Wettbewerb fürs „Bine“ gewonnen hat. Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko
Bewegung verschaffen sich die Kleinen auch draußen. Passiert man den Innenhof, die „Bildungs-Magistrale“, wie der Architekt sagt, dann gelangt man sozusagen durch den Hofgarten ins Volkshochschulgebäude. Auch hier dominiert Holz bei Tischen, Bänken, Boden. Und auch hier findet sich ein Treppen-Atrium, die Hölzer fürs angenehmere Sitzen auf den Betonstufen sind hier nur regelmäßiger angeordnet als drüben, man ist ja hier unter Erwachsenen zumeist, die im Tanzsaal Bewegungsübungen machen wollen oder Näh- und andere Kurse belegen.
Die schickste Küche in Stuttgart
Der komplett verdunkelbare Raum im Erdgeschoss ist je nach Anforderung komplett zu öffnen, dann können 350 Menschen an Veranstaltungen teilnehmen, auch eine 75 Zentimeter hohe Bühne lässt sich aus dem Boden des Saales hochfahren. Hinter dem Raum verbirgt sich eine kleine Bewirtungszone. Die Kassenhäuschen haben eine behindertengerechte Station, bis in die fünfte Etage gelangt man gut zu Fuß oder mit dem Aufzug. Dort oben angekommen entdeckt man die schönste Küche Cannstatts, zumindest die mit der besten Aussicht.
Von der Dachterrasse aus blickt man auf alles, was Stuttgart besonders macht: Fernsehturm, Robert-Bosch-Villa, Wasen, Stadion, Gaskessel. Altrosa Fronten in der Lehrküche spielen schick ans VHS-Rot an, die Arbeitsflächen sind praktisch abwaschbar – eine Profiküche. Und ein Büffetschrank aus Holz, der aussieht wie in einem architektonisch schnieken Haus im hyggeligen Dänemark.
Kochkurs mit Blick auf Stuttgart
Die Architekten, die Vertreter der Stadt und der Generalübernehmer Wolff & Müller, der die Arbeiten sorgfältig, pünktlich und im Finanzrahmen von 93,6 Millionen Euro bleibend ausgeführt hat, haben sich schon gemeinsam zum Sushi-Kurs angemeldet.
Kein schlechtes Zeichen für ein Gebäude, das so charmant zukunftsweisend gestaltet ist, dass der Begriff „Lebenslanges Lernen“, der für Bildungshäuser gern bemüht wird, nicht nach Mühsal klingt, sondern wie ein ziemlich großes Vergnügen. Das Gebäude ist ein wunderbarer Ort für Menschen von Null bis Hundert, für Familien und Singles, Babys, Schulkinder, Leute in jedem Erwachsenenalter, die noch etwas wissen wollen vom Leben.
Weitere Bilder zum Gebäude in der Bildergalerie.
Neckarpark
Stadtentwicklung
Die Umnutzung des ehemaligen Güterbahnhofsareals im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt gehört zu den wichtigen Stadtentwicklungsprojekten in Stuttgart. Dort entsteht ein neues Stadtquartier mit Wohnungen, Gewerbe, Bildungszentrum, einem bereits bestehenden Sportbad und Freiflächen. Fürs Quartier „wird ein zukunftsorientiertes Energiekonzept entwickelt, das eine möglichst umfangreiche Versorgung mit lokal vorhandenen regenerativen Energieträgern wie Solarenergie, Erdwärme oderAbwasserwärme gewährleistet. Dadurch soll der Energieverbauch umfassend reduziert und der lokale Ausstoß von Schadstoffen vermieden werden“, so beschreibt die Stadt ihr Vorhaben.
Wohnen
Auf rund 25 Hektar entsteht ein Quartier für rund 2000 Menschen, geplant sind etwa 850 Wohneinheiten, große Bereiche des Quartiers werden den Fußgängern und Radfahrern vorgehalten sein.