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Seite 1Im Garten von Claude Monet
Seite 2Was diese Welt etwas angenehmer macht
Dieser Artikel stammt aus ZEIT Wissen Nr. 05/2025. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
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Ob Claude Monet durch das Fenster seines Eisenbahnabteils die roten Tulpen blühen sah? Oder die späten Narzissen, die ihre Kelche der Frühlingssonne entgegenstrecken? Im April 1883 entdeckte der Maler auf einer Bahnfahrt von Poissy nach Vernon einen Bauerngarten und das an der Nordseite gelegene Wohnhaus, das ihm sofort passend schien für seine zehnköpfige Patchworkfamilie. Monet mietet den kleinen Hof und schreibt noch im Mai: „Ich bin in Ekstase. Giverny ist für mich ein herrliches Land.“ Da war der Maler 43 Jahre alt, in der Mitte seines Lebens und bitterarm. Land und Blumen aber sollten ihn reich machen – vor allem die Seerosen, die er ein paar Jahre später, 1889, auf der Weltausstellung in Paris zum ersten Mal in seinem Leben sah. Monet liebte Blumen ihrer Anmut wegen, er mochte die zarten, aber auch die kräftigen Töne, das flirrende Licht, das florale Übermaß und natürlich das Liebesleben, das Blüten ohne Scham ausstellen. Sind Blumen nicht die idealen Musen eines Malers? Zeigt sich in jeder einzelnen nicht das ganze Leben?
„Vielleicht bin ich nur durch die Blumen zum Maler geworden“, schreibt Monet im Anblick von Vergissmeinnicht und Kapuzinerkresse, Gladiolen und Dahlien und natürlich der ganzen Vielfalt des Bauerngartens mit Malven, Glockenblumen und Storchschnabel. Dem Himmel näher wachsen die stolzen Hochstammrosen, in weiten Schwüngen die verspielten Rosen und nahe der japanischen Brücke die herabstürzende Glyzinie, Blauregen und Klematis. Und später wachsen auch die Seerosen auf dem Teich, den Monet graben lässt und dessen Wasser das Licht und die ganze Schönheit des Gartens vervielfacht. Monet gestaltet die Natur nach seinen Vorstellungen. Er macht sich zum Schöpfer der Motive seiner Kunst. Der Garten in Giverny ist ein Kunstwerk, das dazu dient, ein anderes – vielleicht noch größeres – Kunstwerk zu erschaffen. Mit den Gemälden seiner Garten- und Wasserlandschaft verdient Monet schon bald viel Geld, er kauft das Haus, kauft mehr Land für noch mehr Blumen, noch mehr Bilder und Schönheit. Ein Jahr vor seinem Tod vollendet er den 22 Großgemälde umfassenden letzten Seerosenzyklus.
Mit den Bildern der amerikanischen Fotografin Aileen Bordman taucht man ein in Monets überbordenden Garten in Giverny, 60 Kilometer nordwestlich von Paris. © Aileen Bordman
Blumen geben uns Hoffnung
Was faszinierte Monet an Blumen? Warum erfreuen wir uns an den ersten Schneeglöckchen im Frühjahr und den Herbstzeitlosen, wenn die Tage dunkler werden? Warum liegt im nutzlosen Betrachten ein Reiz, „der reicht, das Leben froh und glücklich zu machen“, wie Jean-Jacques Rousseau in den Träumereien eines einsamen Spaziergängers schreibt? Blumen vermitteln uns die Vorstellung, dass das Leben kein Ende kennt, sondern einem Kreislauf folgt. Dass alles wieder von vorn losgehen kann. Dass das Sterben einen Sinn hat. Jede Blüte ist ein Beweis der Endlichkeit, aber auch der Wiedergeburt. Eine Blume muss welken, damit ihre Früchte wachsen und ihre Samen sich verbreiten. Der einzige Lebenszweck einer Blüte besteht darin, die Fortpflanzung sicherzustellen.
Bordman kennt das Anwesen seit ihrer Jugend: Ihre Mutter gehörte zu einer Gruppe, die sich in den 1970er-Jahren für seine Rettung engagierte. © Aileen Bordman
Auch Sigmund Freud war ein großer Gartenliebhaber. Der Begründer der Psychoanalyse meinte, dass Pflanzen in Träumen sexuelle Wünsche darstellen oder verbergen. Im Sommer 1913 wurde Freud von dem Dichter Rainer Maria Rilke und seiner Geliebten Lou Andreas-Salomé auf einer Bergwanderung begleitet. Freud schildert später, dass Rilke die Schönheit der Natur „nur als Vorboten des Verlustes“ sehen konnte, nicht aber die Wandlungsfähigkeit alles Lebendigen. Freud dagegen schwärmte davon, dass die Schönheit der Blumen nach ihrer Zerstörung durch den Winter wiederkehre, und dass diese Wiederkehr im Verhältnis zu unserer Lebensdauer als eine ewige bezeichnet werden dürfe.
Blumen verschönern die Welt
Die älteste Pflanze, die in einer menschlichen Siedlung gefunden wurde, ist 23.000 Jahre alt. Sie sieht aus wie ein Gänseblümchen, das man nicht essen konnte und das nicht als Medizin diente, und trotzdem gab es am Ufer des Sees Genezareth unendlich viele davon. Warum?
Die Natur bleibe unbeeindruckt von unseren Gefühlen, aber die evolutionäre Bedeutung freudiger Empfindungen dürfe man nicht unterschätzen, sagen die Psychologin Jeannette Haviland-Jones und der Genetiker Terry McGuire von der Rutgers University. Sie vermuten, dass vor rund 5.000 Jahren Wildblumen sich auf den gerodeten Böden der Bauern selbst ausgesät hatten und in der umgegrabenen Erde besonders gut gediehen. Vielleicht ließen die Bauern sie stehen. Vielleicht kultivierten sie die schönsten, vermehrten und verschenkten sie, schmückten die Häuser und die Gräber der Toten – weil ihnen die Blumen gefielen. So wie den Menschen am See von Genezareth die Gänseblümchen. Wir lieben die Natur nicht nur, weil sie uns satt macht, sondern weil sie unser Leben schöner macht.
Das emotionale Erleben von Welt sei stark daran gebunden, dass wir ein ästhetisches Auge haben, das Blumen wahrnimmt, und dass wir Freude daran haben, sagt Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme. © Aileen Bordman
Als Robin Wall Kimmerer, Pflanzenökologin und Mitglied der Citizen Potawatomi, gefragt wurde, warum sie sich als Studentin für Biologie entschieden habe, antwortete sie, dass sie herausfinden wollte, warum Astern und Goldruten so schön zusammen aussehen. „Bienen haben eine andere Farbwahrnehmung als Menschen, doch Gelb und Violett nehmen sie genauso wahr wie wir“, schreibt sie in ihrem Buch Ehrenhafte Ernte. Deshalb werden Astern, die in der Nähe von Goldruten wachsen und umgekehrt, deutlich häufiger bestäubt.