Frau Dr. Enders, „Darm mit Charme“ war weltweit ein Bestseller. Nun gibt es Ihr neues Buch „Organisch“ – was haben Sie in den vergangenen elf Jahren gemacht?
DR. GIULIA ENDERS: Zunächst habe ich mein Medizinstudium abgeschlossen. Danach habe ich mir ein halbes Jahr Pause genommen, um einmal durchzuschnaufen. Anschließend habe ich begonnen, in einem Krankenhaus zu arbeiten und habe unter anderem mit meiner Schwester Jill, die ja meine Bücher illustriert, eine Ausstellung zu „Darm mit Charme“ gemacht. Und ich habe an einer Netflix-Doku zu Gesundheitsthemen mitgewirkt – eine interessante Mischung also.

„Darm mit Charme“ überrascht schon beim Titel. Ihr neues Buch „Organisch“ kommt da irgendwie schwerer rüber…
ENDERS: Mit meinem ersten Buch wollte ich ja den Darm vor allem auch aus der Schmuddelecke holen. Dafür war Humor besonders wichtig. Jetzt will ich unsere Organe erklären, die sind zum Glück in keiner Schmuddelecke, daher ist der Titel, aber auch der Ton des Buches ein anderer.

Welche Intention verfolgen Sie mit Ihrem neuen Buch?
ENDERS: Ich finde, wir haben manchmal den Zugang zu unseren Organen verloren. In meinem Buch lade ich dazu ein, durch unseren Körper zu laufen wie bei einem Waldspaziergang, bei dem man zu sich und damit zur Ruhe kommt, aber auch Ehrfurcht empfindet, weil man plötzlich alles besser versteht.

Aber an Gesundheitsratgebern mangelt es ja wahrlich nicht. Wir werden von Tipps doch regelrecht überschwemmt.
ENDERS: Wir werden damit bombardiert!

Und trotzdem fühlen sich so viele Menschen krank. Am mangelnden Wissen kann es doch nicht liegen, oder?
ENDERS: Ich habe den Eindruck, dass sich bei vielen Menschen die ganzen Tipps zu einer nicht enden wollenden To-Do-Liste auftürmen: Da müssen zum Frühstück Chiasamen gegessen werden, dann folgt ein Smoothie und bei der Arbeit soll alle 30 Minuten entspannt und tief durchgeatmet werden. Das sind aber oft alles nur Aufgaben, die ich abarbeite, ohne dass ein Grundverständnis dafür da ist, was in meinem Körper abläuft und warum er das eine oder andere braucht. Dabei sind unsere Körper ja keine Maschinen, bei denen immer die gleichen Programme zum Erfolg führen. Jeder Körper braucht etwas anderes. Aber erst, wenn ich beispielsweise wirklich verstehe, warum mich langsames Ausatmen beruhigt, oder, was es mit den Sonnenstrahlen auf sich hat, dann kann ich selbst entscheiden, was ich tue, dann muss mir niemand sagen: Crem dich ein!

Apropos Eincremen. Ein paar Tipps geben Sie schon. So schreiben Sie beispielsweise, dass man statt Kollagencreme Karottensaft trinken und hüpfen soll…
ENDERS: Das ist mehr so eine lustige Anmerkung. Weil einem plötzlich klar wird, wenn man einmal verstanden hat, wie die Haut aufgebaut ist, dass da viele Wirkstoffe von außen, die uns beispielsweise als Anti-Aging-Mittelchen verkauft werden, gar nicht durchkommen. Vieles kann von innen besser wirken. Beispielsweise Vitamin A im Karottensaft. Das kann man gerne ausprobieren. Und Hüpfen schadet auch nicht, das führt garantiert zu einer besseren Durchblutung.

Und Sie schreiben, dass eine siebenminütige Handmassage gerade Menschen, die unter Selbstzweifeln leiden, besonders guttut und wie wichtig überhaupt echte Berührungen für den Körper, für unser Wohlbefinden sind. Ist das ein Appell, weil unser Alltag so digital geworden ist und sich viele auch einsam fühlen?
ENDERS: Viele Menschen spüren, dass ihnen etwas fehlt. Sie können aber nicht sagen, was es ist. Auf der Suche nach guten Gefühlen sitzen wir Stunde um Stunde vor dem Smartphone, fühlen uns danach aber nicht besser. Wer einmal verstanden hat, wie unser Gehirn funktioniert, der kann erkennen, was hier schiefläuft: Wenn ich beispielsweise nur digital im Austausch mit anderen stehe, denkt mein Gehirn immer und immer wieder: Jetzt wird gleich das Bedürfnis nach körperlicher Nähe, nach Zugehörigkeit erfüllt. Dies passiert aber ja nie wirklich, weil nur das Auge die Kontakte sieht, es aber nie zu einer echten Begegnung kommt. Mein Gehirn wird praktisch von den sozialen Medien getäuscht. Das ist, als würde man Wasser trinken, das keines ist. Das Problem in unserer Zeit ist doch, dass wir den Körper und seine Bedürfnisse oft ignorieren und vergessen. Wenn wir unseren Körper aber wieder ins Boot holen und unsere Bedürfnisse verstehen und erkennen, wann sie wirklich erfüllt werden, dann können wir auch wieder glücklich werden oder zumindest zufriedener.

Die Sehnsucht nach dem Spüren des Körpers ist enorm, man denke nur an all die Kurse, in denen richtig geatmet wird…
ENDERS: Aber da gibt es meines Erachtens einen großen Unterschied: In den Kursen sagt mir jemand anderes genau, wie viele Sekunden ich jetzt ein- und wie viele Sekunden ich jetzt ausatmen muss und ich befolge das. Wenn ich aber einmal verstanden habe, wie meine Lunge funktioniert und dass beim Ausatmen mein Herz weniger zu tun hat und die Nerven um das Herz entspannen, was wiederum dazu führt, dass die Nerven drumherum und mein Gehirn entspannen, dann weiß ich selbst, was ich zu tun habe. Es geht darum, länger auszuatmen als ein. Das war’s schon. Ständig gesagt zu bekommen, was ich tun muss, ist ein anderer Ansatz als meiner: Ich habe einfach die Hoffnung, dass ich meinem Körper mehr Gutes tun kann, wenn ich ihn von innen, also organisch, auch verstehe. Ich glaube, dieser Weg funktioniert besser.

Zumal Sie schreiben, dass Ihnen das Verständnis Ihres Körpers sogar geholfen hat, mit Trauer umzugehen. Als Ihre Oma gestorben ist, war das für Sie ein sehr schmerzhafter Verlust…
ENDERS: Ja, meine Oma hat mich mit aufgezogen, sie wohnte im Haus meiner Mutter. Und als sie 2019 starb, dachte ich zunächst, ich werde ein Totalausfall sein. Doch ich habe überhaupt nichts gefühlt. Sogar meine Angst im Dunkeln war weg – alles war weg. Damals hatte ich eine Patientin mit einer Wundheilungsstörung. Also vertiefte ich mich noch einmal in dieses Thema. Und das hat mir mehr geholfen als die psychologischen Ratgeber, zu denen ich schon gegriffen hatte. Ich habe mich damals bei der Haut wiedergefunden: Bei Verletzungen wächst ja ein Schorf, der auch ganz gefühllos ist. Und man hat oft den Eindruck, darunter tut sich nichts. Darunter tut sich aber jede Menge, es werden Immunzellen angelockt, es erneuert sich viel. Allerdings ist es eben wichtig, die Stelle in Ruhe zu lassen, nicht aufzukratzen, sie zu schützen. Das hat mir bei der Heilung geholfen, ich konnte einfacher loslassen und dann auch weinen.

Nicht nur zu Ihrer Oma hatten Sie ein inniges Verhältnis. Bevor Sie Lunge, Immunsystem, Haut, Muskeln und Gehirn erklären, erzählen Sie uns liebevoll von Menschen – vor allem von Frauen – die für Ihr Leben wichtig sind. Frauen gelten generell als gesundheitsbewusster. Haben Sie einen Tipp, wie Männer ein anderes Verhältnis zu ihren Organen bekommen?
ENDERS: Da habe ich schon einiges an Feedback erhalten. Den Männern hat vor allem das Kapitel zu den Muskeln gefallen! Vielleicht sollten sie damit anfangen…

War naheliegend.
ENDERS: Nun, bei vielen Männern ist tatsächlich der Muskelaufbau, aber auch die Fitness ein zentrales Thema. Das gleicht aber auch ein wenig aus: Frauen werden oft am Aussehen gemessen und Männer fühlen sich in dieser Hinsicht oft getrieben, Muskeln aufzubauen und lassen sich einreden, welche Shakes sie trinken sollen. Gleichzeitig wollen sie Mechanismen hinter einer Sache verstehen. Erst, wenn sie verstanden haben, wie und warum etwas läuft, löst das eine Verhaltensänderung aus. Das habe ich immer wieder im Krankenhaus bei Patienten beobachtet: Wenn ich meinem Patienten sage, es wäre gut, die Ernährung umzustellen und weniger Bratwürste zu essen, dann bringt das in aller Regel gar nichts. Wenn ich ihm aber erkläre, wie das ganze Bratfett direkt in sein Herz gekippt wird, sieht das schon anders aus. Fett gelangt nach der Verdauung nämlich nicht wie andere Nährstoffe über Blutgefäße zur Leber, sondern geht schnurstracks über Lymphgefäße zum Herz. Daher kann es nicht so ordentlich geprüft und sozusagen direkt entgiftet werden wie anderes und deshalb leiden das Herz und die Blutgefäße drumherum meist als Erstes unter schlechter Ernährung. Wer das versteht, kann den Tipp, auf gutes Fett zu achten, besser nachvollziehen und die Wahrscheinlichkeit, dass jemand bewusster isst, wird größer.

Aber mal ehrlich: Vieles, was unser Körper braucht, wissen wir doch schon gut, dennoch fehlt es einfach an der Umsetzung, weil der innere Schweinehund – um bei der Bratwurst zu bleiben – zu fett ist…
ENDERS: Es kommt meines Erachtens vor allem auf die innere Haltung an. Ich habe für mich festgestellt: Je tiefer ich etwas verstehe, umso eher ändere ich meine Haltung. Wir kennen das doch alle: Wie oft nimmt man sich vor, nicht mehr so viel am Handy herumzuhängen? Ständig! Und am nächsten Tag hänge ich trotzdem wieder die ganze Zeit an dem Gerät fest. Wenn ich aber auch da – ähnlich zur Sehnsucht nach Berührung – einmal verstanden habe, wie in dem Fall meine Belohnungszellen im Gehirn durch die sozialen Medien oder beispielsweise auch durch Snacks ständig an der Nase herumgeführt werden, dann stört mich das. Die armen Belohnungszellen wollen mir nur Gutes tun. Und sie werden vom Smartphone so lange in die Irre geführt, bis sie total abstumpfen oder ermüden. Das lass ich nicht gerne zu! Da fällt es mir leichter, das Handy auch mal wegzulegen. Ich fühle mich dann auch nicht mehr so ausgeliefert. Wir können Komplizen unseres Körpers werden und selbst erkennen, was er wirklich braucht.

Viel Bewegung braucht er auch…
ENDERS: Ja, aber das Problem, das viele auch da haben, ist doch das: Sie gehen abends noch ins Fitnessstudio, weil sie Angst davor haben, zu dick zu werden oder krank. Sie fühlen sich von außen dazu verdonnert. Wenn ich aber mal verstanden habe, dass ich beim Sport vor allem auch mein Gehirn umbaue und schon nach einer Stunde die Rezeptoren für Motivations- oder Glückshormone verändere, dann wird mir klar, dass es beim Sport nicht nur um Muskeln oder Fitness geht. Dann kann ich abends – jetzt mal flapsig formuliert – sagen: Hey Gehirn, was hast du heute wieder alles geschafft, jetzt ist Feierabend, lass uns noch etwas machen, bei dem die Muskeln dir etwas Gutes tun. Oder im besten Fall: ein Sport, der Muskeln und Gehirn Freude macht! Damit wäre vielleicht auch etwas Druck draußen.

Wohin geht Ihr Weg nun? Sie gehen auf Lesereise – und dann? In einem Interview haben Sie von Plänen für eine proktologische Praxis speziell für Frauen erzählt.
ENDERS: Also bis Sommer 2026 bin ich tatsächlich auf Lesereise – erst noch in Deutschland, dann im Ausland. Und dann überlege ich. Ich werde in jedem Fall in dem Dreieck Forschung/Klinik/Schreiben bleiben und da zu finden sein. Die Praxis, die Sie ansprechen, spukt mir im Kopf herum, weil ich denke, dass in diesem Bereich wirklich noch viel zu tun ist und man da richtig helfen könnte. Viele Frauen haben nach der Geburt Verletzungen auch im proktologischen Bereich, also im Bereich des Enddarms. Das Problem ist oft, dass die Frauen glauben, weil sie nach der Geburt so viel zu tun haben, dass sie sich jetzt nicht um sich kümmern dürfen. Ich fände es auch wichtig, noch besser vorherzusagen, welche Frau vaginal entbinden soll und welche besser nicht.

Der Darm bleibt also Ihr Lieblingsorgan?
ENDERS: Der Darm hat mich von Anfang an am meisten interessiert und da gibt es noch so viel zu erforschen. Zum Beispiel untersucht in Frankfurt ein tolles Forschungsteam den Zusammenhang von Depressionen und dem Darmmikrobiom. Das finde ich auch hoch spannend.

Zur Person: Giulia Enders, 35, wurde in Mannheim geboren und lebt heute mit ihrem Freund in Frankfurt. Ihr 2014 erschienenes Buch „Darm mit Charme“ wurde zum internationalen Sachbuch-Bestseller. Nun ist ihr neues Buch „Organisch“ erschienen, illustriert wieder von ihrer älteren Schwester Jill Enders.

  • Daniela Hungbaur

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