Schauspiel-Sensation Luna Wedler –

Und dann kam Luna

Publiziert: 11.09.2025, 16:01Frau in blauem Hemd blickt nach oben, mit Sonnenlicht im Hintergrund.

Auf dem Weg nach oben: Luna Wedler wurde soeben am Filmfestival in Venedig als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet.

Foto: Julia Ishac

Ein heisser Sommerabend in Zürich, Luna Wedler kommt zu Fuss, in kurzen Hosen und Sandalen, rauchend. Wie immer ist sie ein paar Minuten zu früh. Sie setzt sich in ihr Lieblingscafé im Kreis 4, eines von denen, die dem Umbau des Quartiers noch nicht zum Opfer gefallen sind, ein bisschen abgewetzt, ein bisschen schief. Bestellt ein Bier. Später noch eines. Und erzählt. Von Tilda. Von all den anderen Figuren, die sie gespielt hat. Und vom Spielen selbst.

Es heisst, eine gute Schauspielerin mache aus, dass man ihr glaubt. Dass man mitfühlt, mitleidet, mitfiebert. Dass sie mit einem einzigen Blick erzählen kann, wofür andere ein ganzes Buch brauchen. Wenn das der Massstab ist, dann ist Luna Wedler, fünfundzwanzig, eine sehr gute Schauspielerin. Vielleicht sogar eine der besten ihrer Generation. Wer sie als Tilda in «22 Bahnen» sieht – ihr jüngstes Projekt, die Verfilmung von Caroline Wahls Bestseller, seit Anfang September im Kino –, versteht sofort, warum man zu diesem Schluss gelangen kann.

Aber wie wird man das, eine gute Schauspielerin? Und wer ist diese Frau, die so leichtfüssig in Rollen schlüpft, dass sie seit ihrem Debüt vor zehn Jahren in über zwanzig Filmen gespielt hat, fast immer in der Hauptrolle? Die gleich für ihren ersten grossen Kinofilm den Schweizer Filmpreis gewann und als «European Shooting Star» ausgezeichnet wurde, später für den Deutschen Filmpreis nominiert war, in Netflix-Produktionen mitwirkte, in Arthouse-Dramen ebenso wie in Historienfilmen, die in Deutschland genauso gefragt ist wie in der Schweiz?

Gespräche mit Luna Wedler sind Expeditionen

Wer Luna Wedler auf der Leinwand sieht, bemerkt oft zuerst das Offensichtliche: die blauen Augen, die rauchige Stimme, diese rohe, intensive Präsenz. Und genau das begegnet einem auch im echten Leben.

Mit ihr zu sprechen, ist, als sässe man unter einem Himmel, der unaufhörlich die Farbe wechselt. Helles Lachen, dann nachdenkliche Pausen, rasche Sätze, die sich überschlagen – und plötzlich wieder Stille, in der man spürt, wie ernst sie alles nimmt. Sie ist hibbelig und hochkonzentriert, jung und alt. Ihre Antworten sind lang, verschlungen, oft wie kleine Erzählungen. Gespräche mit ihr sind Expeditionen ins Ungewisse. Man weiss nie, wohin sie führen – manchmal fragt sogar sie selbst verwundert: Wie sind wir nur hier gelandet?

Das Erstaunlichste aber ist, dass diese Energie nicht nur spürbar wird, wenn man ihr gegenübersitzt. Man begegnet ihr auch, wenn man mit anderen spricht. Niemand erzählt nüchtern von Luna Wedler: nicht der Schauspielkollege Max Hubacher, nicht die Regisseurinnen Lisa Brühlmann und Mia Meyer, nicht die Casterin Corinna Glaus. Sie alle geraten ins Schwärmen. Gespräche über Wedler sind Unterhaltungen voller Begeisterung, Rührung.

Es gibt Schauspielerinnen, die bewegen im Kino. Und es gibt Schauspielerinnen, die bewegen auch im Leben. Luna Wedler gehört zu Letzteren.

Aufgewachsen ist sie in Zürich, zuerst im Kreis 6, später im Kreis 8, als eine von drei Töchtern. Die Eltern – der Vater Chirurg, die Mutter KV-Lehrerin – trennten sich früh. «Wir waren sehr selbstständig», sagt Wedler, «aber wir waren auch behütet.»

Es folgten Jahre mit Umzügen und Schulwechseln. Ein kurzes Intermezzo am Realgymnasium endete schon nach der Probezeit. «Sechs Minuspunkte», sagt sie und lacht, als staune sie selbst, dass sie sich je in einer Welt aus Stillsitzen und Handheben aufgehalten hat. «Konzentriert zuhören war einfach nicht meins. Heute kann ich das, weil ich etwas mache, das ich liebe. Aber damals: keine Chance.»

Sie liebte etwas anderes: das Tanzen. Sechsmal die Woche, mehrere Stunden am Tag. Zeitgenössisch, Jazz, Ballett. Sie war talentiert, und die Mischung aus Strenge und Freiheit lag ihr. Der Körper arbeitete, der Kopf durfte fliegen – so fühlte es sich an. Doch Tanz ist Spitzensport, wenn man nach oben will. Die Konkurrenz gnadenlos, der Druck hoch, alles muss dem Training untergeordnet werden. Luna war vierzehn, das Leben draussen rief. Der Traum zerbrach.

Vor Kurzem wagte sie sich in Paris zum ersten Mal seit Jahren wieder in eine Ballettstunde. «Ich hatte Angst», erzählt sie, «weil Tanzen meine ganze Kindheit und Pubertät geprägt hat, weil es eine grosse Liebe war.» Sie stand vor dem Spiegel, versuchte die Schritte – und spürte, dass sie nicht mehr so gut war wie früher.

«Einen Moment war ich traurig, aber auf eine melancholische, schöne Art. Weil ich am Tanzen schon immer mochte, dass ich mich fallen lassen kann. Und weil ich das ja im Schauspiel gefunden habe.»

Die Tanzkarriere war vorbei, das Gymnasium keine Option. Luna Wedler sagt: «Ich war vierzehn und lost.» Ohne Plan, was sie machen sollte, keine Ahnung, wohin es gehen könnte. Sie suchte einen Nebenjob, um sich etwas Sackgeld zu verdienen. Und stiess auf eine Zeitungsanzeige: offenes Casting für einen Schweizer Spielfilm. Sie meldete sich an.

Doch je näher der Termin rückte, desto weniger wollte sie hingehen. Am Ende erschien sie, auch weil ihre Mutter sie ermutigte, wie Jahre zuvor bei der ersten Tanzlektion. Vor Ort drängten sich fünfhundert Jugendliche.

So fing alles an.

Sie bekam eine Hauptrolle, Corinna Glaus sah sie und lud sie zum Casting von «Blue My Mind» ein, dem Abschlussfilm der Regisseurin Lisa Brühlmann an der Zürcher Hochschule der Künste. Ein Studentinnenfilm, der sich bald als weit mehr erwies: als einer der eindrücklichsten Schweizer Filme der letzten Jahre, mit Preisen überhäuft. Die Geschichte handelt von Mia, die vom Teenagermädchen zur Meerjungfrau wird. «Blue My Mind» ist Coming-of-Age und Körperhorror zugleich, grotesk und schön, ein intensives Erlebnis. Man spürt beinahe körperlich, wie Mias Gestalt sich verändert, während die Kamera in kühlen Blau- und Grautönen ihre Einsamkeit, Sehnsucht, Ängste nachzeichnet.

Die Casting-Legende war entzückt, Wedler erhielt die Rolle in «Blue My Mind»

Glaus gilt als Casting-Legende und unermüdliche Förderin junger Talente, hat mit Filmen wie «Herbstzeitlosen», «Heidi», «Platzspitzbaby» und «Die göttliche Ordnung» einige der erfolgreichsten Schweizer Kinohits besetzt – und dabei Stars wie Joel Basman, Ella Rumpf, Sarah Spale entdeckt. Und eben Luna Wedler, die zum Zeitpunkt des «Blue My Mind»-Castings sechzehn war. Sie sagt: «Manchmal sieht man bei Jugendlichen sehr deutlich den Weg, wie sie sich in den verschiedenen Phasen eines Castings Schritt für Schritt an eine Figur herantasten. Oft leidet man fast mit, weil es so mühsam wirkt, von der eigenen Person in die Figur hineinzugelangen. Bei Luna war das anders. Sie hatte den Mut, sich in die Rolle hineinfallen zu lassen.»

Sie überlegt. «Man merkte, dass sie arbeitet, dass es auch für sie eine Herausforderung ist, aber sie liess es nie angestrengt aussehen. Und das Entscheidende: Ich hatte nie das Gefühl, sie behauptet etwas. Stattdessen holte sie die Figur ganz nah an sich heran. Darin liegt ihre Besonderheit.»

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Die Castings führte Lisa Brühlmann selbst. Ihre Erinnerung deckt sich in vielem mit jener von Corinna Glaus – und geht doch noch darüber hinaus. Sie erzählt es als kleine Geschichte, eine Abfolge von Bildern:

«Beim ersten Mal kam Luna ins Casting und hatte sich kurz zuvor einen Zahn ausgeschlagen. Ich dachte: interessant. Und dann spielte sie so klar, so authentisch, dass man sofort wusste, in ihr steckt etwas Spezielles. Beim zweiten Mal tauchte sie mit einem verstauchten Knöchel auf, beim dritten Mal mit einer grossen Schramme. Ich fragte sie, was das sei, und sie sagte nur: ‹Das ist ein Brandy, das macht man jetzt so.› Und ich dachte: Dieses Mädchen ist krass. Sie lebt, sie wirft sich ins Leben, mit einer unglaublichen Lust, fast schon grenzgängerisch. Und gleichzeitig war sie immer pünktlich, immer zuverlässig. Sie war immer da.»

Es ist eine der brutalen Wahrheiten des Filmemachens: Du kannst das beste Drehbuch haben, atemberaubende Bilder, eine starke Crew – wenn die Hauptrolle nicht stimmt, funktioniert der ganze Film nicht. Mit der Hauptrolle steht und fällt alles.

Lisa Brühlmann wusste genau, was sie für «Blue My Mind» brauchte: eine Schauspielerin, die Mia tragen konnte, dieses Mädchen, das zwischen Identitätssuche, Selbsthass und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit taumelt. Eine Schauspielerin, die mutig und angstfrei ist.

Sagt sich leicht.

Aber was bedeutet es?

«Vielleicht kann ich es so erklären: In einer Castingszene, in der es um Scham ging, ist Luna errötet, ein Zeichen dafür, dass es ihr peinlich war. Das hat mir gezeigt, dass sie sich wirklich überwindet, dass sie an einen Ort geht, wo es wehtut. Sie hatte den Mut, sich dem zu stellen. Daran scheitern viele.»

Lächelnde junge Frau mit geschlossenen Augen und Sommersprossen im roten Oberteil.

Luna Wedler sagt: Das Kennenlernen einer Figur ist wie sich verlieben.

Foto: Julia Ishac

In die Zeit des «Blue My Mind»-Drehs fällt auch die erste Begegnung mit Max Hubacher, einem der prägenden Schweizer Schauspieler seiner Generation, sechs Jahre älter als sie. Er hatte schon mehrere Hauptrollen gespielt und für seine Verkörperung des Verdingbuben 2012 den Schweizer Filmpreis erhalten.

Die beiden lernten sich beim Casting zu «Der Läufer» kennen, der Geschichte eines Berner Spitzensportlers mit Doppelleben, und drehten später noch mehrere weitere gemeinsame Filme. Wedler war neu im Geschäft, nach eigener Erinnerung «extrem nervös». Doch davon sei nichts zu spüren gewesen, sagt Hubacher. «Es waren viele Leute da, viele waren richtig gut. Und dann kam Luna, stellte sich mitten in den Raum. Und plötzlich hatte sie eine Boldness, eine Direktheit, etwas Furchtloses, das alle staunen liess. Sie wirkte, als hätte sie das schon hundertmal gemacht. Strahlte eine Reife aus, die sie in dem Alter eigentlich noch gar nicht haben konnte.»

Eine Schauspielerin mit mehr Angeboten, als sie annehmen kann

Wie macht sie das? Sie will es zu erklären versuchen.

Zurück in Luna Wedlers Lieblingscafé im Zürcher Kreis 4, zu der rauen Stimme, den blauen Augen, der Zigarette und dem Bier.

Im August 2024 war sie gerade mit Freundinnen und Freunden auf Sizilien in den Ferien, als die Anfrage für «22 Bahnen» kam, die Verfilmung des Romans von Caroline Wahl. Ein Monat vor Drehbeginn, ultraknapp. Oft erhält sie in diesem Moment schon das Drehbuch, diesmal nur eine Charakterbeschreibung von Tilda, dazu eine Synopsis des Films und drei Szenen, die sie vorbereiten sollte. [Das grosse Gespräch mit Caroline Wahl lesen Sie hier.]

Sie gehört zu den wenigen im Filmgeschäft, die mehr Anfragen bekommen, als sie annehmen kann. Das gibt ihr die Freiheit, ihre Rollen zumindest ein Stück weit selbst auszuwählen. Natürlich, sagt sie, habe es auch Figuren gegeben, die sie unbedingt spielen wollte und nicht bekam – welche, verrät sie nicht. Doch wenn sie diese Filme später sah, habe sie nie gedacht: «Das hätte ich besser gekonnt.»

Weil sie unterwegs war und alles schnell gehen musste, gab es kein Live-Casting, sondern ein E-Casting. Also stellte sie mit Hilfe ihrer Freundinnen und Freunde in ihrem Ferienhaus eine Kamera vor eine weisse Wand und sprach die Szenen ein. «Mag ich normalerweise gar nicht», sagt sie, «es geht doch darum, in Kontakt zu sein mit den Leuten.» Aber E-Castings werden immer häufiger, sie sparen Zeit und Geld.

Zwei Tage später hatte sie den Job.

Luna Wedler spielt nicht Tilda – sie WIRD zu Tilda

Als sie das Drehbuch bekam – sie hatte die Romanvorlage zu dem Zeitpunkt bewusst noch nicht gelesen –, war das wie ein Päckli, das man vorsichtig aufreisst, neugierig, fast ängstlich.

«Ich hoffe dann immer, dass es zu kribbeln beginnt», sagt sie. «Frage mich, ob es mir gefällt, und bin gespannt, wer die Figur eigentlich ist, die ich spielen soll.»

Diesmal setzte das Gefühl sofort ein, auf den ersten Seiten schon. Tilda, die Hauptperson, kommt nach Hause, findet die Wohnung im Chaos, voller Rauch, die Mutter betrunken am Boden. Und sie handelt so routiniert, dass man spürt: Das ist nicht das erste Mal. «In ihr steckte so viel Ruhe, so viel Abgeklärtheit, dass es fast unheimlich wirkte», sagt Luna Wedler. «Ich wollte wissen, woher das kommt.»

Sie hat die Fähigkeit, einen Menschen zu beobachten, zu ergründen, zu verstehen – und dann zu ihm zu werden. Aber wie? Wie nähert man sich als Schauspielerin einer Rolle?

Sie begann, sich die Welt um Tilda zu erschliessen wie ein Netz aus Beziehungen und Brüchen: die kleine Schwester Ida, für die Tilda längst zur Mutter geworden ist; die eigene Mutter, gefangen im Alkohol; Ivan, der verlorene Freund, dessen Abwesenheit wie eine Schuld in ihr weiterlebt; und dessen Bruder Viktor, der Hoffnung und Gefahr zugleich bedeutet.

Nach dem Drehbuch las sie endlich auch Caroline Wahls Romanvorlage, hielt in ihrem roten Notizbuch – sie schreibt nie ins Drehbuch – erste Eindrücke von Tilda fest: «Sportlich, sensibel, entschlossen, verletzlich, verträumt, stark, zerbrechlich, zusammenhaltend, steht für sich ein.»

Daneben Fragen: «Wie hört sich ihre Stimme an?»

Oder Beobachtungen: «Mathe macht Sinn. Für fast alles gibt es eine Lösung. Es gibt nur richtig oder falsch.»

Auch zu Viktor: «Er darf auf keinen Fall ‹nur› gut aussehend und sexy sein. Es muss eine Verbindung da sein, ein Vertrauen ohne Worte. Verwirrung, Ungewissheit.»

Sie fragte sich, wie Tilda wohl geht. Wie sie sitzt. Wie sie grüsst. Sie nahm Tilda mit, wenn sie vor die Tür trat, setzte sich mit ihr ins Tram und liess die Figur langsam Besitz von ihr ergreifen.

Sie spürte: Tilda schlägt die Beine nicht übereinander, sie sitzt aufrecht, mit beiden Füssen fest am Boden. Sie ruft nicht laut «Hoi», sie nickt nur knapp. Tilda würde nie Nagellack tragen, nie ihre Haare färben. Und plötzlich, als sie Tilda schon ein paar Tage mit sich trug, hörte sie auch ihr Lachen. «Ich fand, es muss ein schönes Lachen sein, das von ganz tief unten kommt.»

Luna Wedler sitzt auf Einkaufswagen vor einem Geschäft an der Dolderstrasse in Zürich. Sie trägt eine blaue Jacke und Jeans und hat blondes Haar.

Für ihr Talent gibts einen super Markt: Wedler, die im Zürcher Kreis 6 aufgewachsen ist, entspannt vor einem Lebensmittelgeschäft an der Dolderstrasse (Kreis 7!).

Foto: Julia Ishac

Doch es ging nicht nur darum, Tildas Alltag in sich hineinzulassen. Sie musste sich auch technisch vorbereiten. Der Dreh begann in weniger als einem Monat. Also betrat sie einen Sportladen, kaufte sich – als Tilda – eine Schwimmbrille und einen Badeanzug, ging ins Hallenbad, zog Bahn um Bahn und fühlte sich der Figur näher. Im Wasser begriff sie, dass das Schwimmen für Tilda war, was für sie selbst einst das Tanzen war: Rückzugsort und Kraftzentrum.

Sie reaktivierte sogar ihr Apnoe-Training von den «Blue My Mind»-Dreharbeiten, übte, zwei Minuten oder länger unter Wasser zu bleiben. Denn sie wusste, es würden Szenen kommen im kalten Freibad – sie drehten im Herbst, die Geschichte aber spielt im Hochsommer –, in denen sie den Eindruck erwecken musste, es gäbe nichts, was Tilda lieber täte, als einzutauchen, den Grund zu berühren, sich dort unten ganz zu Hause zu fühlen.

Parallel studierte sie den Text – weniger als sonst, Tilda ist eine stille Beobachterin. Aber wenn sie spricht, muss jedes Wort sitzen. Luna Wedler lernt im Gehen: beim Aufräumen, Einkaufen, Joggen. Manchmal klebt sie Zettel an Türrahmen, Kühlschrank oder Badezimmerspiegel, und jedes Vorbeigehen zwingt sie, die Passage laut aufzusagen. Sogar im Ausgang passiert es, dass sie sich beim Händewaschen im Spiegel ansieht, die Figur erkennt und den Dialog spricht.

Dann stellte sie sich zwei Fragen.

Erstens: Wie viel von Tilda steckt schon in ihr?

Zweitens: Was muss sie sich aneignen, um Tilda zu werden?

Die erste Antwort fand sie rasch: Geschwisterliebe. Tildas Fürsorge für Ida kannte sie aus sich selbst.

Die zweite brauchte länger.

«Stille», sagt Luna Wedler im Café. «Tilda ist eine, die das aushält. Sie stresst sich nicht, wenn nichts passiert. Sie bleibt bei sich – so sehr, dass ihr Gegenüber ins Straucheln kommt. Aber nicht, weil sie jemanden quälen will, und auch nicht, um cool zu wirken. Sie versucht gar nicht, jemand Bestimmtes zu sein. Sie verstellt sich nicht. Diese Ruhe, dieses Nichtstun auf die Leinwand zu bringen – das ist vielleicht die grösste Kunst. Nur im Gesicht zeigen, dass innen schon alles tobt.»

Schwierig ist aber auch etwas anderes: einen Roman zu verfilmen, den Hunderttausende gelesen haben. Jede Leserin, jeder Leser trägt ein Bild von Tilda im Kopf. Und Luna Wedler kann diesem Bild niemals gerecht werden, schlicht weil es ein persönliches Bild ist. Und doch sitzt man im Kino, schaut auf die Leinwand und denkt: Ja, genau so ist es richtig. Weil man den Eindruck hat, dass sie Tilda nicht spielt, sondern Tilda ist.

Es ist ihre Gabe. Die Gabe, die Corinna Glaus und Lisa Brühlmann schon früh erkannten. Die Gabe, die bei den Dreharbeiten im Herbst 2024 auch Mia Meyer sah, die Regisseurin von «22 Bahnen». Die Gabe, die Caroline Wahl, die Autorin der Romanvorlage, sofort überzeugte. Sie legte ein paar Mal das Veto ein, weil ihr die Vorschläge der Casting-Agentur zu leicht, zu filigran waren. Bei Luna Wedler aber spürte sie: Das passt. Obwohl sie, wie sie selbst sagt, beim Schreiben gar nie ein festes Bild von Tildas Aussehen im Kopf hatte.

Shanghai, Berlin, Venedig, dazwischen ein paar Tage Zürich

Mia Meyer erinnert sich an das Casting-Video aus Sizilien, das Luna Wedler eingesandt hatte. Sie sagt: «Ich hatte schon beim ersten Take Gänsehaut. Ich habe geweint, weil sie mich so berührt hat. Wirklich, ich sass am Computer und weinte. Und von da an bis zum letzten Drehtag konnte ich nicht sagen, wo Luna aufhörte und Tilda begann. Das ist ihre Magie: Sie gibt sich einer Figur so ganz hin, dass man als Regisseurin den Mut hat, alles auszuprobieren.»

Eine der zentralen Szenen in «22 Bahnen» ist die, in der Ida, die kleine Schwester von Tilda, verschwindet. Wahrscheinlich, weil die Mutter, wieder einmal betrunken, die Kleine geschlagen hat.

Luna Wedler isst ein Fruchtgummi, während sie einen nachdenklichen Gesichtsausdruck hat.

«Dieses Mädchen ist krass», dachte die Regisseurin Lisa Brühlmann, als sie die sechzehnjährige Luna Wedler erstmals sah.

Foto: Julia Ishac

Für Tilda ist es ein Wendepunkt, für Luna Wedler eine spezielle Herausforderung. Denn ausgerechnet diese Szene, die Suche nach Ida im Wald, musste am allerersten Drehtag gespielt werden. Gleich zu Beginn die volle Wucht.

Der ganze Dreh sollte dreissig Tage dauern, was eher knapp war: andere Kinoproduktionen dieser Länge nehmen sich sechzig. Dreissig Tage, in denen Luna Wedler abtauchte. Sie meldete sich selten bei ihrer Familie und bei ihren Freundinnen und Freunden. «Es war, als wäre ich in einer anderen Welt», sagt sie. Und auf gewisse Weise war sie das auch – in Tildas Welt.

«22 Bahnen»: Geglückt dank Luna Wedler

«Wie komme ich bloss an diesen Punkt?», fragte sie sich an jenem ersten Tag.

Sie lief los, rannte durch den Wald, so lange, bis ihr selbst der Atem stockte. Bis die Vorstellung real wurde: Die Schwester ist weg, vielleicht tot. Die Angst blieb im Körper, bis zu dem Moment, als sie das «Bitte!» hörte – das Signal, dass die Kamera läuft.

Die meisten Emotionen, sagt sie, könne sie aus der Figur selbst holen. «Aber manchmal reicht das nicht. Dann muss ich tiefer gehen. Und ja – von meiner Familie sind in meinem Kopf eigentlich alle schon einmal gestorben.» Sie hält inne, lächelt: «Das Schöne ist: Ich kann sie danach anrufen, und sie sind noch da.»

Regisseurin Mia Meyer sagt, das Besondere an Luna Wedler sei ihre völlige Transparenz. Man sehe ihr alles an – jede Angst, jede Wut, jede Sorge, jedes ambivalente Gefühl. Nichts wirke fabriziert, sie fühle es tatsächlich, und darum könne man den Blick kaum von ihr abwenden.

«Ich glaube wirklich, dass der Film durch Luna erst geglückt ist. Sie hat dieser komplizierten Figur eine Nähe und Nahbarkeit gegeben. Viele fragen sich, warum Tilda nicht einfach geht oder warum sie so egoistisch ist. Aber durch Luna spürt man sie. Man versteht sie.» Das Tilda-Werden ist das eine. Was Luna Wedler schwerfällt, ist der Abschied von einer Figur. «Kennenlernen ist wie sich verlieben», sagt sie, am Ende aber müsse man sich wieder trennen.

«Die leben für mich ja weiter, irgendwie. Das sind meine Freundinnen. Tilda ist noch da. Maxi auch. Mia schwimmt irgendwo im Meer. Die Figuren sind nie ganz weg, sie wohnen noch ein Stück in mir.» Darum, erzählt sie, könne sie auch nie beantworten, welche ihre Lieblingsrolle sei: «Dann wären die anderen beleidigt.»

Manchmal kommen sie näher, manchmal verschwinden sie wieder. Einer Figur schrieb sie sogar einen Abschiedsbrief – Lena Jakobi aus «Sie glauben an Engel, Herr Drowak?», dem Film, der im Juni am Festival in Shanghai Premiere feierte und im Dezember in die Kinos kommt. Lena ist eine Studentin, die an das Gute im Menschen glaubt. Im Rahmen eines Projekts trifft sie auf Hugo Drowak, einen verbitterten Einzelgänger, der sein Glück längst verloren hat. Zwischen den beiden entspinnt sich eine eigensinnige, widersprüchliche Beziehung, getragen von Lenas Hartnäckigkeit und ihrem Glauben daran, dass jeder eine zweite Chance verdient.

«Ich habe Lena so vermisst, dass ich nicht wusste, wie ich sie loslassen soll», sagt Luna Wedler. «Also habe ich ihr geschrieben: Darf ich mich bei dir ab und zu melden? Kannst du mir dann einen Rat geben?» Es klingt ein wenig albern, aber es ist ihr ernst. «Manchmal frage ich meine Rollen: Was würdest du jetzt tun?»

Marcello-Mastroianni-Preis und Jennifer-Lawrence-Wucht

Wenn Lisa Brühlmann, die «Blue My Mind»-Regisseurin, die Luna Wedler ihre erste Hauptrolle gab, heute auf sie blickt, muss sie lachen. Weil alles, was sie damals in ihr gesehen hat, sich bestätigt hat – und noch mehr.

«Natürlich hilft es, schön zu sein», sagt Brühlmann. «Diese Symmetrie im Gesicht, diese grossen Augen, die tiefe Stimme.» Aber Schönheit allein sei es nicht. «Viele können weinen. Doch bei Luna liegt darunter immer eine Kraft. Das macht Figuren erst interessant: Man will nicht nur sehen, wie sie scheitern, sondern auch, wie sie kämpfen. Luna bringt beides mit – Verletzlichkeit und Stärke. Ich kenne wenige, die das haben.» Manchmal erinnere Luna Wedler sie an Jennifer Lawrence, sagt Brühlmann, sie habe dieselbe Wucht, dieselbe Direktheit, dieselbe Ehrlichkeit wie die amerikanische Oscar-Gewinnerin.

Luna Wedler – in einem blauen Oberteil – hält ihr Gesicht mit den Händen und lächelt schelmisch.

Verschmilzt mit ihren Figuren: «Ich frage mich manchmal, was würde Tilda mir raten?»

Foto: Julia Ishac

«Bei Luna hat man immer das Gefühl: Diese Rolle ist genau für sie geschrieben. Aber es ist umgekehrt – sie stellt sich nicht in den Vordergrund, sie gibt sich einfach der Figur und dem Projekt hin. Genau das ist ihre Star-Qualität.»

Neben «22 Bahnen» in Berlin und «Sie glauben an Engel, Herr Drowak?» in Shanghai feierte diesen Sommer noch ein dritter Film mit Luna Wedler Premiere – und das nicht irgendwo, sondern in Venedig, am zweitwichtigsten Filmfestival der Welt, wo «Silent Friend» der ungarischen Regisseurin Ildikó Enyedi im Wettbewerb um den Goldenen Löwen lief. Luna Wedler steht darin an der Seite von Léa Seydoux und Hongkongs Kultschauspieler Tony Leung – und wurde in Venedig mit dem Marcello-Mastroianni-Preis als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet.

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Shanghai, Berlin, Venedig, dazwischen ein paar Tage Zürich, ab Mitte September schon der nächste Dreh (über den sie noch nichts verraten darf): Wedler ist viel unterwegs, hat viele Termine, Projekte, Aufgaben. Sie mag das, sie mag es, wenn viel läuft. Und doch denkt sie gerade wieder häufiger an Tilda. «Ich frage mich manchmal: Was würde Tilda mir raten?»

Es ist spät geworden im Kreis 4. Das Bier ist ausgetrunken, die Zigarette verglimmt im Aschenbecher, und Luna Wedler hat sich auf den Heimweg gemacht. Ihre Stimme aber, die hallt noch lange nach. 

Christof Gertsch ist Reporter bei «Das Magazin». christof.gertsch@dasmagazin.ch

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