Orientierungsloses Personal, lange Wartezeiten, viel zu kleine Portionen: Für sein neues Restaurant im Berliner Fernsehturm musste Starkoch Tim Raue viel Kritik einstecken. Wie schlimm ist das Essen dort wirklich?

Gutes Essen und eine schöne Aussicht findet man selten an einem Ort, deshalb wurden hohe Erwartungen geweckt, als der Berliner Sternekoch Tim Raue im vergangenen Jahr ankündigte, das Restaurant im Fernsehturm übernehmen zu wollen, dem Wahrzeichen seiner Heimatstadt. Die Ernüchterung folgte am Tag der Eröffnung Anfang Juni, als das Kassensystem versagte, allgemeines Chaos ausbrach und einige Gäste hungrig nach Hause gingen. Auch in den Wochen nach dem Start gab es viel zu meckern: orientierungsloses Personal, unanständig lange Wartezeiten, nicht abgeräumte Tische und noch dazu viel zu kleine Portionen.  

Auch die Speisen im „Sphere“, wie das ehemalige „Telecafé“ seit dem Rebranding durch Tim Raue heißt, entsprachen oft nicht den Vorstellungen der Gäste. Die Kommentare reichten von „jeder Schnellimbiss richtet das Essen ansprechender an“ über „bestenfalls Kantinenniveau mit Touristenaufschlag“ und „erschreckend schlicht“ bis zu „mach mal ein paar TV-Gigs weniger und kümmere dich um dein Kerngeschäft.“ Das Feedback war so verheerend, dass Raue, dessen Zwei-Sterne-Lokal in Berlin-Mitte seit Jahren zu den besten Restaurants der Welt gezählt wird, sich gezwungen sah, Krisenkommunikation zu betreiben und mehrere Erklärvideos auf Instagram zu veröffentlichen. In einem löffelt er eine Soljanka und gibt zu verstehen, dass es sich beim „Sphere“ nicht um ein Sternerestaurant handele: „Hier gibt es Omas Küche, wa?“

Im zweiten räumt er ein, dass die ersten Wochen ein wenig holprig gewesen seien und gelobt Besserung „Es gehört halt dazu, dass Menschen Fehler machen. Wir kümmern uns jeden Tag darum, immer besser zu werden. […] Wir freuen uns, wenn ihr herkommt und offen seid für das, was wir euch auf die Teller legen.“ Nun muss man Raue und seinem Team zugutehalten, dass die Gäste an einem so exponierten Ort, dessen Hauptattraktion der Rundblick auf Berlin aus 207 Metern Höhe darstellt, die unterschiedlichsten Erwartungen an die Verpflegung haben. Die einen wollen Sterneküche, die anderen Currywurst mit Pommes, wieder andere nur ein Stück Kuchen – auch aus logistischen Gründen konzentrierte sich das „Telecafé“ zu DDR-Zeiten auf Kaffee und Süßspeisen wie die Obsttorte „Berliner Früchtchen“ oder die Holländische Sahneschnitte. Dennoch ist ein so direktes Ansprechen von Mängeln unter Köchen eher ungewöhnlich und wirft deshalb die Frage auf: Wie schlimm ist es im „Sphere“ wirklich?

„Fast Track“ wie am Flughafen

Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage beginnt mit der Feststellung, dass sich die abschreckende Wirkung der zum Teil vernichtenden Rezensionen offenbar in Grenzen hält. Der späteste Slot, der am ersten Samstag im September noch verfügbar ist, beginnt um 16.30 Uhr. Am Abend sind die 200 Plätze mehrfach belegt. Bei der Reservierung muss man Tickets für Zugang zum Fernsehturm erwerben, die pro Person derzeit vergünstigte 28,50 Euro kosten (regulär: 33.50 Euro) und nicht erstattet werden können. Beim Zutritt zu den Aufzügen und beim Passieren der Sicherheitskontrolle werden die Restaurantgäste bevorzugt behandelt.  Wie auf dem „Fast Track“ am Flughafen schreiten sie an der Schlange von Besuchern vorbei, die nur die Aussichtsplattform besichtigen wollen.  

Das Reservierungssystem ist automatisiert, die Besucher erhalten am Empfang ein Kärtchen mit ihrer Tischnummer. In unserem Fall bedeutet das, dass wir nicht direkt am Fenster sitzen, obwohl noch Fensterplätze frei sind. Na gut. Der leichte Unmut darüber, dass wir direkt an der Speiseausgabe platziert wurden, verfliegt auch schnell, denn schon bald sind wir mit unserem Zweiertisch an der Kuchenvitrine angekommen – weil sich das Restaurant ja dreht, und zwar so schnell, dass man sich erst mal daran gewöhnen muss. Innerhalb von einer Stunde macht es zwei Umdrehungen, was ein angenehm beschwingtes Kreuzfahrt-Feeling auslöst.

Auch aus der zweiten Reihe ist das 360-Grad-Panorama überwältigend. Von hier oben sieht Berlin mit seinen Großsiedlungen überraschend geordnet aus, die Hauptstraßen ziehen sich wie Blutbahnen vom Zentrum in die Vorstädte. Weit im Südosten glitzert die rund 60 Kilometer entfernte Cargolifter-Halle am Horizont, in der ursprünglich Zeppeline gebaut werden sollten und die dann zum Freizeitpark „Tropical Islands“ umgewidmet wurde, dem ehemaligen Arbeitsplatz von Rolf Gerz, Raues Küchenchef im „Sphere“. Das robuste Retro-Interieur des Stuttgarter Büros Dittel Architekten wirkt funktional und atmosphärisch zugleich, es schwelgt in Space-Age-Nostalgie und beschwört einen freudigen Fortschrittsglauben herauf, ohne dabei gestrig zu wirken.

Das Speisenangebot basiert darauf, dass Raue sein typisches Spiel von Süßem, Scharfen und Sauren in abgemilderter Form auf einige Traditionsgerichte der Region anwendet, wie er es zuvor schon im „Soupe Populaire“ und in der inzwischen geschlossenen „Villa Kellermann“ in Potsdam getan hat, hier jedoch auf volkstümlicherem Niveau. Der „Garnelensalat Kadewe“ (16 Euro) entfaltet eine angenehme Schärfe, die Garnelen allerdings schmecken eher nach Asia-Imbiss als nach Feinschmeckeretage. Die Soljanka (11,50 Euro) dagegen ist zwar ein wenig zu eindeutig süß, aber auf eine ruppige Art lecker, wie man es sich von diesem Ort verspricht.

Doch, davon wird man satt

Auch an den Hauptspeisen gibt es wenig auszusetzen: Bei „Oma Gerdas Eisbein“ (28 euro) handelt es sich um zwei gegrillte Spanferkelhaxen, die den Transport im Lastenaufzug aus der Küche am Fuß des Fernsehturms gut überstanden haben: Die Schwarte ist knusprig, das Fleisch saftig und zart. Der Broiler (29 Euro) wird mit Karottensalat serviert, ein veredeltes halbes Grillhähnchen, das einen spürbaren Ticken saftiger und aromatischer ist als an der Straßenecke in Kreuzberg. Die Paprikarahmsoße bräuchte es nicht, zumal sie der Soljanka verdächtig ähnelt.

Bei den Portionsgrößen hat Raue offenbar nachjustiert. Die Königsberger Klopse waren anfangs wohl so klein, dass man sie mit Daumen und Zeigefinger wegschnipsen konnte. Inzwischen sehen die Speisen auf dem Teller üppiger aus als die Abbildungen auf der Speisekarte. Wenn irgendwo ein Spitzenkoch am Werk ist, lautet die erste Frage oft: Wird man davon satt? In diesem Fall lautet die Antwort: ja.

Über den Service wurde seit der Eröffnung besonders intensiv gemeckert. Dabei ist die Bedienung zügig und aufmerksam, mitunter nur ein bisschen zu jovial. Den zweiten scherzhaften Hinweis darauf, dass einer von uns beiden sein weißes Hemd mit Paprikarahmsoße bekleckert hat, hätte sich unser Kellner sparen können. Manchmal hat man den Eindruck, dass im „Sphere“ die Leichtigkeit und die Lässigkeit eines italienischen oder österreichischen Kochs fehlen, den eigenen Ansatz überzeugend auf ein massenkompatibles Niveau hochzuskalieren. Dennoch ist das Anliegen deutlich spürbar, den kulinarischen Kosmos Berlins erfahrbar zu machen – bis hin zum Bier, das nicht von einem Getränkemulti geliefert wird, sondern von der örtlichen Craft-Beer-Brauerei BRLO stammt (0,3 l Happy Pils: 6,90 Euro).

Es äußert sich auch bei einem Nachtisch namens „The Not Spaghetti Spaghettieis“ (7,50 Euro), das die Geschmacksrichtungen des Eisklassikers in einer kleinen Pappbox komprimiert – eine Sonderedition der Eismanufaktur Florida aus Spandau, eigens für Tim Raue entwickelt. Am Ende bekommt man im „Sphere“ genau das, was ein Ausflugslokal dieser Größenordnung bieten kann – und einen Deckel von 165 Euro für zwei Personen, bei dem die spektakuläre Location nicht zu knapp eingepreist ist. Das unermüdliche Drehen der Kuppel bewirkt, dass man bereits nach zwei Gläsern Wein mit einem leichten Rausch im Aufzug wieder nach unten rast.

Und der Kuchen? Vor allem das Aprikosentörtchen in der Vitrine sah wirklich einladend aus. Aber dafür war nach diesem frühen Abendessen einfach kein Platz mehr. 

Heiko Zwirner leitet das Stilressort von WELT AM SONNTAG und schreibt regelmäßig über seine Erlebnisse in der Gastronomie – vom Schnellimbiss bis zum Sternelokal. Das Essen im „Sphere“ war sein erster Besuch im Berliner Fernsehturm seit 25 Jahren.