– Wie oft gibt es uns eigentlich? In „Die zehn Lieben des Nishino“ von Hiromi Kawakami gibt es die Hauptfigur Yukihiko Nishino genauso oft: zehnmal.
Im Englischen beschreibt das Wort „Sonder“ die Erkenntnis, dass jeder Mensch um uns herum ein Leben führt, das genauso komplex und verschachtelt ist wie unser eigenes. Genauso überwältigend ist die Erkenntnis, dass nicht nur jeder Mensch das Zentrum eines komplexen Universums bildet, sondern dass jeder Mensch auch noch auf verschiedene Arten und Weisen existiert. Aber wie soll denn das nun funktionieren?
Ganz einfach: Jeder Mensch, dem wir begegnen, sieht uns auf eine ganz eigene Art und Weise. Das kann das Ergebnis einer flüchtigen Begegnung sein. Aber auch Menschen, mit denen wir unser gesamtes Leben verbracht haben, haben eine unterschiedliche Vorstellung von uns.
Und jede Vorstellung ist eine ganz eigene Version von uns. Mit diesem Umstand spielt „Die zehn Lieben des Nishino“ von Hiromi Kawakami.
„Die zehn Lieben des Nishino“: Faszinierender Roman aus Japan
An sich könnte man diesen Roman als eine Ansammlung von Kurzgeschichten betrachten. Jedes Kapitel ist eine Geschichte für sich. Eine andere Liebe von Yukihiko Nishino. Die Kapitel sind sogar in sich schlüssig. Interessant wird das Buch aber erst, wenn wir die Kurzgeschichten im Kontext zueinander betrachten.
Denn faszinierenderweise lesen wir hier nicht die Lebensgeschichte von Nishino aus seiner eigenen Sicht. Stattdessen hat jedes Kapitel eine andere Ich-Erzählerin, die eine andere Version von Nishino kennenlernt und beschreibt. Dabei bekommen wir nicht den Eindruck, dass sich Nishino auf eine bestimmte Art verstellt. Stattdessen sind die Sichtweisen der Frauen von ihren eigenen Erfahrungen und Erwartungen beeinflusst.
Und so können wir uns bis zum Ende nicht sicher sein, wer dieser Yukihiko Nishino, diese Hauptfigur des Romans, eigentlich ist. Mal begegnen wir einem sympathischen, einfühlsamen Mann. Ein anderes Kapitel beginnt wortwörtlich mit dem Satz: „Yukihiko war grausam.“
Bis zuletzt bleibt es ein Rätsel. Dennoch erfahren wir ganz am Ende ein bisschen mehr über Nishino. Das war auch bitter nötig. „Die zehn Lieben des Nishino“ liest sich schnell und angenehm, doch spätestens bei Liebe Nr. 7 beginnen wir uns zu fragen, ob das Buch nicht auch mit ein paar Lieben weniger ausgekommen wäre. Glücklicherweise beginnt sich dann der Kreis zu schließen und der Roman bekommt ein gelungenes Ende. Und das, obwohl wir immer noch nicht wissen, wer Nishino eigentlich wirklich ist.
So gesehen ist „Die zehn Lieben des Nishino“ mehr als ein Roman, sondern schon fast so etwas wie eine Charakterstudie. Nicht etwa von Nishino, sondern von uns selbst. Denn wir beginnen uns unweigerlich zu fragen, wie denn eigentlich die Menschen, denen wir selbst begegnet sind, uns sehen. Und wie viele Versionen von uns selbst es da draußen eigentlich gibt.
„Die zehn Lieben des Nishino“
von Hiromi Kawakami
„Die Gabe“ von Suzumi Suzuki – Ein düsterer Kurzroman und zwischen Schuld, Tod und Rotlicht
„Der stille Freund“ von Ferdinand von Schirach – Geschichten über Menschen und Zufälle
Faszinierende Verwirrung: Dieser Roman wird Sie nicht mehr loslassen