Der Stadtführer Manuel Schmitz erzählt uns eine Abenteuergeschichte
Von Hajo Friedrich
„Die Apokalypse hatte begonnen und er konnte seine Brille nicht finden“. Mit solch einer Mischung aus Schrecken und Banalität beginnt das jetzt im Selbstverlag erschienene Büchlein „Nimmerleinstage“ von Manuel Schmitz. Erstmalig veröffentlicht der Brüssel-Stadtführer und Politikwissenschaftler damit einen fiktionalen Text.
Ich empfehle – nicht zuletzt auch in Schulen – die Lektüre des in Brüssel spielenden und sich leicht lesenden Bandes. Danach dürften vor allem manche Kenner und Bewohner Brüssels die Stadt und die darin ansässigen Institutionen und Menschen in einem anderen, vielleicht realistischeren Licht sehen.
Worum geht es?
„In Brüssel geht die Welt unter“, heißt es lapidar, und der traurige Held der Geschichte – der stark kurzsichtige Max – kann in seinem Haus im Brüsseler Norden seine Sehhilfe nicht finden. Fast alle Bewohner haben die Stadt verlassen. Und auch seine Frau und Kinder befinden sich panisch auf der Flucht in den vermeintlich sichereren europäischen Norden.
Hinzu kommt, dass sich unser Held seinen Fuß verknackst hat und sich nun nur noch humpelnd auf den Weg zu einem Optiker in der noblen Avenue Louise macht, wo – wie er hofft – eine neue Brille auf ihn wartet. Der Weg dahin durch die verwüstete Stadt ist eine kleine, den Leser und die Leserin in Atem haltende Abenteuergeschichte.
Dystopien wieder im Anmarsch?
Handlung und Stimmung der „Nimmerleinstage“ haben mich teilweise etwas an die dystopischen Texte von Stanislaw Lem, Arno Schmidt und Christian Kracht sowie Filme des Russen Andrei Tarkovsky erinnert. Und auch an den Wissenschaftler Stephen Emmott, in dessen Sachbuch „Zehn Milliarden“ ein seriöser Experte gefragt wird, was ein Überlebender in einer zusammengebrochenen Zivilisation am meisten brauchen könnte. „Ein Gewehr“, lautetet – meiner Erinnerung nach – die lapidare Antwort.
Die Farbe Rot
Das Buch hat 200 Seiten und kostet 17 Euro. Vielleicht hat es ja irgendwann mal einen noch höheren Sammlerwert; auch weil es über einen sehr schönen Einband verfügt – nämlich Papier, das sich wie Leder anfühlt. Und es ist, wie die belgischen Nummernschilder, in roter Schrift gesetzt. Wobei das Vorbild für Schmitz wohl eher „Die unendliche Geschichte“ von Bestsellerautor Michael Ende gewesen sein dürfte.
Er wolle weder eine „post-apokalyptische Geschichte“ noch etwas mit ‚sex and crime‘ vorlegen, sagt Schmitz im persönlichen Gespräch. Eher einen kleinen, surrealistischen Großstadtroman, der in seinem Titel ja auf den erfundenen Heiligenname „Sankt Nimmerlein“ und damit einen Termin oder ein Ereignis anspielt, das eigentlich niemals eintreten sollte. Tja, denkste.
Berlaymont – bitte melden!
Denn genau mit der Illusion, dass die Institutionen in der Hauptstadt Brüssel – wie etwa EU-Kommission und NATO – auf ewig Wohlstand, Sicherheit und Ordnung garantieren, räumt die Novelle indirekt tüchtig auf. Die Paläste der EU-Machtelite sind offensichtlich zerstört oder verwaist. Und ihre wortreichen, vollmundigen Besitzer schon längst in sichere Häfen abgetaucht. Kein Wunder, dass die „Nimmerleinstage“ das Europaviertel links liegen lassen.
Eindrücklich schildert Schmitz, wie eng der Horizont wird, wenn Stadt und Land weitgehend der Anarchie ausgeliefert sind. Unklar lässt er jedoch, wer und was genau hinter dem „unerhörten Ereignis“ steckt und, offensichtlich vom Süden herkommend, nach der Wallonie nun auch Brüssel angreift, verwüstet und dabei merkwürdige, riesige rote Kugeln (schon wieder rot) ins Straßenbild pflanzt. Stoff für Spekulationen aller Art, aber auch Fortsetzungen und Verfilmungen bietet das in roten(!) Einband gefasste Bändchen zuhauf.
Neue Zivilisation
Klar scheint dem Helden nur, dass nach dem Angriff eine „neue Zivilisation“ entstehen wird, die wohl auch wieder „komplexe Organisationen“ benötigt. „Denn die Bürokratie hat schon im Zweistromland begonnen“- also vor langer Zeit in Vorderasien zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris, sagt Manuel Schmitz.
Die Stadt Brüssel, Architektur – insbesondere „Machtarchitektur“ – interessieren den gebürtigen Trierer schon lange. Selbst Brüsselkennern und langjährige -bewohnern sei etwa sein dazugehöriges Buch empfohlen: Schnellkurs Brüssel-Belgien-Europa – Manuel Schmitz macht‘s möglich – Belgieninfo
Warum schreiben? „Das Tollste ist, sich selber zu überraschen“
Warum jetzt erstmals ein fiktionaler Text und welche Erfahrungen hat er beim Schreiben gemacht?
Irgendwie glaube er an die romantische Idee der „Verzauberung der Welt“ sowie das „Wunder der Kreativität“ durch die Literatur. „Das Tollste ist, sich selber zu überraschen“, sagt der Autor. So sei ihm die Geschichte mit Max „woanders hingerannt“ als er sich ursprünglich gedacht habe. Zwei Enden hätte er für die Geschichte im Kopf gehabt. Und wie geht es jetzt weiter? „Ich merke, wie ich wieder anfange, Wörter zu sammeln“.
In Zukunft wolle er sich stärker auf das Schreiben konzentrieren. Seinem Stil, leicht absurd, in bildhafter Sprache und mit einem Augenzwinkern zu schreiben, will er jedoch treu bleiben. Gleiches gilt seinem sympathischen Faible, gelegentlich für manche etwas altmodisch klingende Wörter in seine Sprache einzuflechten.
Manuel Schmitz – live
Wer den vielfältigen Künstler live erleben möchte, kann dies in diesem Jahr mindestens noch zweimal:
- Am 16. Oktober hält er in den Halles Saint-Géry einen (englischsprachigen) Vortrag mit dem Titel „Architecture as an expression of power“. Mehr Informationen: https://ante.brussels/conferences/
- und am 9. Dezember ist – Stand heute – eine Lesung aus den „Nimmerleinstagen“ geplant – mit anschließendem Gespräch mit dem Autor in der Brüsseler EU-Landesvertretung Rheinland-Pfalz.
Wo sind die „Nimmerleinstage“ erhältlich?
In den Buchhandlungen Gutenberg, Passaporta, Librebook und über die Internetseite des Autors: https://www.manuelschmitz.be/produktseite/nimmerleinstage
Zur Person:
Manuel Schmitz, geboren 1974, lebt seit 20 Jahren in Brüssel. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Als Stadtführer erklärt er seit 2016 die Stadt, vorher unterrichtete der promovierte Politikwissenschaftler an den Universitäten Trier und Löwen. 2023 erschien seine Architekturgeschichte Brüssels mit dem Titel „Monumental: Macht und Architektur in Brüssel: Schnellkurs Brüssel-Belgien-Europa – Manuel Schmitz macht‘s möglich – Belgieninfo
„Nimmerleinstage“ ist sein erster Roman.
Im Rahmen seines Projekts der Stadterkundung hat Schmitz jede der 6.000 Straßen der belgischen Hauptstadt erlaufen. Auf 567 Spaziergängen ist er dabei 2.900 Kilometer durch die Stadt gestreift. „Eine etwas verrückte Idee, um seine neue Heimat besser kennenzulernen – oder eine eigenwillige Aneignung der Stadt“, wie er sagt. Mehr Informationen auf seiner Website: www.manuelschmitz.be