100 Jahre sind eine lange Zeit. Vor einem Jahrhundert war die Weimarer Republik gerade entstanden, Männer und Frauen trugen Hüte, Autos waren noch nicht so weit verbreitet wie heutzutage und sahen dazu noch ganz anders aus. In diese Welt wurde am 25. September 1925 Cäcilia Claßen – genannt Cilly – hineingeboren. Die Isengrabenerin wird heute 100 Jahre alt und hat viel aus ihrem Leben zu erzählen.

Für das Gespräch hat Claßen extra ihre Lebensgeschichte auf Papier gebracht. „Sie hat zwei Wochen daran gearbeitet“, erzählt Tochter Maria Claßen, die gemeinsam mit ihrem Bruder Gerd gekommen ist, um ihre Mutter beim Erzählen zu unterstützen.

Diese Hilfe braucht die 100-Jährige eigentlich gar nicht, denn geistig ist Cäcilia Claßen noch sehr fit. Sie holt mehrere Zettel hervor, aus denen sie vorliest. „Ich wurde 1925 in Erkelenz geboren“, sagt sie. Im Alter von rund zehn Jahren zog ihre Familie in den Wegberger Ortsteil Isengraben, dort lebt die 100-Jährige noch heute.

„Acht Jahre ging ich zur Schule“, sagt sie. Mit 14 musste sie aufhören – denn der Zweite Weltkrieg machte ihren Plänen, weiterzulernen, einen Strich durch die Rechnung. Stattdessen begann sie, in einer Seidenweberei zu arbeiten.

„Dort hatte ich vier Webstühle, an denen ich zunächst Kleider und später Fallschirmseide gefertigt habe“, so Claßen. Die Arbeit lief in Früh- und Spätschichten ab, was sehr anstrengend war. Dazu kam die ständige Angst, von Bomben getroffen zu werden. „Jede Nacht heulte der Fliegeralarm“, erinnert sie sich. „Dann mussten wir in den Keller gehen“.

Isengraben sei vom Krieg nicht direkt betroffen gewesen. „Aber die Panzer habe ich ständig vorbeifahren hören“, sagt die 100-Jährige.„Um den Grenzlandring gab es Gräben, in die wir bei Fliegeralarm reingegangen sind“, so Claßen. „Die boten immerhin Splitterschutz“, berichtet sie.

Angst war im Krieg ihr ständiger Begleiter. „Man kann sich nach dran gewöhnen“, sagt sie. „Den man wusste nie, ob einem etwas auf den Kopf fällt“. Einmal seien Schüsse durch den Giebel ihres Hauses gekommen. In ihrem Schlafzimmer haben diese dann Löcher in den Boden gemacht. „Da haben wir dann später Teppichboden drüber gemacht“, so die 100-Jährige.

Zur Arbeit nach Wegberg fuhr sie immer Fahrrad. Irgendwann ging das Gummi an den Reifen kaputt, Ersatz war nicht zu bekommen. „Da hat mein Vater einen Wasserleitungsschlauch um den Reifen gebastelt“, erinnert sie sich. Mit dieser klapprigen Konstruktion brauchte sie fast eine halbe Stunde zur Arbeit. „Und wenn ich ankam, dann haben meine Arme immer gezittert vor Anstrengung“, so Claßen.

„Aber direkte Not hatten wir im Krieg nicht“, sagt sie. Die Familie hatte einen Garten, Hühner und ein Hausschwein. Nach Kriegsende wurde das Geld der Familie 1948 dann jedoch nahezu wertlos, da die D-Mark die Reichsmark ersetzte. „Plötzlich waren alle Geschäfte voller Waren, aber wir hatten kein Geld, um etwas zu kaufen“, sagt sie. Jede Person hätte lediglich 40 D-Mark erhalten.

1950 heiratete Claßen ihren Ehemann Gerhard und bekam vier Kinder. „Mein Mann kam gesund aus dem Krieg zurück, stürzte aber dann im Alter von 39 Jahren von Dachstuhl und war schwer hirnverletzt“, sagt sie. Dreißig Jahre lang pflegte Claßen ihren Mann, bevor er 1992 schließlich starb.

Ein besonderes Highlight war Claßens erster Flug nach Frankreich. „Da saß eine Staatssekretärin von Helmut Kohl neben mir, die mir ihren Platz am Fenster anbot, damit ich herausschauen konnte“, so die 100-Jährige. Es sollte auch nicht ihr letzter Flug sein.

Heute hat die 100-Jährige sieben Enkel und sechs Urenkel. „Die besuchen mich alle regelmäßig“, sagt sie. Durch Beschwerden an der Hüfte und an den Knien ist sie gehbehindert. Aber kopflich ist Claßen noch sehr fit und geht mit der Zeit. „Mit 97 habe ich mir meinen ersten Laptop selbst geschenkt“, sagt sie. „Und sie kann auch damit umgehen“, bekräftigen ihre Kinder. Den Laptop nutzt sie etwa, um Nachrichten zu lesen und sich christliche Messen anzuschauen. Die Religion ist immer schon ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens gewesen. Jeden Sonntag wird sie von ihrer Tochter in die Kirche gebracht.

Zu Claßens Hobbys gehört das Gedichteschreiben. „Das kann sie wirklich gut“, bekräftigt ihr Sohn. „Ich habe sogar einen Ordner mit ihren Gedichten namens ‚Mamas gesammelte Werke‘“, so Maria Claßen.

Auch auf die Frage, was ihr Schlüssel zu langem Leben ist, hat sich Claßen vorbereitet. „Zunächst liegt das an der liebevollen Fürsorge meiner Tochter Maria“, sagt sie. „Wenn ich gewusst hätte, dass sie so was sagt, dann hätte ich ihren Zettel weggeschmissen“, entgegnet Tochter Maria. „Aber es stimmt“, bekräftigt Sohn Gerd.

„Und außerdem glaube ich als Christin, dass unser guter Gott für jeden Menschen eine bestimmte Lebenszeit vorgesehen hat“, sagt sie. „Da kann ich nur dankbar sein“. Zu ihrem Geburtstag ist die ganze Familie zusammengekommen, um mit ihr zu feiern.