Im Werkzeugkasten aller guten Sci-Fi-Regisseur:innen und -autor:innen
liegt ein wundervolles kleines Instrument namens Dystopie. Mit dem
umzugehen, will gelernt sein. Hämmert man damit zu heftig auf das
Publikum ein, wird es stumpf und reagiert nicht mehr. Setzt man es zu
behutsam an, geht die Botschaft am Ziel vorbei.

Glücklicherweise ist Oscar-Preisträger Bong Joon-ho nicht nur geübt im Umgang mit dem dystopischen Werkzeug, er ist ein Genie im Erschaffen gänsehaut-würdiger Welten.
Davon könnt ihr euch bei Netflix aktuell gleich doppelt überzeugen:
Hier läuft im praktischen Double Feature sowohl sein knochenharter
Sci-Fi-Thriller Snowpiercer als auch die zuckrig-grausame Dystopie von Okja.

Snowpiercer entführt uns in einen eisigen Schreckenszug, Okja in den Großstadt-Dschungel

Der
titelgebende Snowpiercer ist die letzte Bastion der Menschheit im Jahre
2031 – ein gepanzerter Zug, der den eingefrorenen Globus umrundet, ohne
je stehenzubleiben. Der Kampf gegen den Klimawandel ging schrecklich
schief und alles außerhalb des Zuges ist unbewohnbar. In den Waggons hat
sich derweil ein grausames Kastensystem gebildet.

Je weiter
hinten der Waggon, desto ärmer sind die Menschen darin und desto mehr
müssen sie für den Antrieb des Zuges schuften. Doch die Wut und das Leid
der untersten Kaste bricht sich schließlich Bahn. Curtis (Chris Evans) zettelt eine Revolution an.
Für ihn und seine Mitstreiter gilt es, sich bis an die Spitze des Zuges
zum Zugführer Wilford (Ed Harris) vorzuarbeiten – ein Kampf auf Leben
und Tod.

Dagegen lebt die kleine Mija (Seo-Hyeon Ahn)
in Okja fast idyllisch im Dschungel. Sie und ihr Großvater dürfen seit
Jahren ein experimentelles Tier aus den Labors der Mirando Corporation
großziehen: Okja, eine Mischung aus Schwein, Nilpferd und, ihrem treuen,
liebenswerten Charakter nach, Hund. Okja und Mija sind beste
Freundinnen – doch da fordert die Mirando Corporation ihren Besitz
zurück.

Okja soll in die Labors und großen Zuchtanlagen zurückkehren und den Grundstein für eine neue Schlachttierrasse legen. Mija muss hilflos zusehen, wie Okja in die große Stadt entführt wird.
Kurzentschlossen reist Mija hinterher, um sie zu retten. Dabei findet
sie einen Verbündeten im Guerilla-Umweltschützer Jay (Paul Dano) und
wird mit dem Schrecken der industriellen Schlachtung konfrontiert.

Die Sci-Fi-Filme bei Netflix liefern zwei grundverschiedene, aber ebenbürtig geniale Dystopien

In
Snowpiercer ist die Gänsehaut doppelt garantiert. Einerseits ist die
Welt so eindrucksvoll und haptisch inszeniert, dass ihre Kälte einem
unter die Haut kriecht. Andererseits stellt er uns und seine Figuren vor
moralische und philosophische Fragen, die nie jemand beantworten müssen
sollte. All das vor einer bizarren, von Gegensätzen regierten Kulisse aus Dekadenz und Elend.

Snowpiercer
trägt seine Dystopie offen vor sich her. Lebt das Scheusal der
Menschheit und die Düsternis der Welt in vollen Zügen aus und ist dabei
dennoch wunderbar abstrus. Dagegen kommt die als Dschungel-Abenteuer
beginnende und als Großstadt-Heist-Mission weiterlaufende Geschichte von
Okja fast schon harmlos daher. Doch Bong Joon-ho wäre kein böses
Supergenie, wenn seine Okja-Dystopie nicht die perfidere wäre.

Hier
wird erwachsene, verkopfte Vernunft gegen den Blick aus Kinderaugen
eingetauscht. Durch diese müssen wir die Untaten der Welt ertragen. Das
sorgt gerade im Kontrast zur märchenhaften, kindlichen Fantasie für einzigartiges Grauen. Ist aber auch unfassbar spannend und herrlich grotesk. Und bringt wirklich jeden ins Grübeln.

Wer also die volle Packung Dystopie, Sci-Fi und Psycho-Trip vertragen kann, wird mit Joon-Ho Bongs Doppeldosis bei Netflix bestens versorgt.