Karin Slaughters neuster Roman über zwei entführte Teenager gleicht einer Höllenfahrt.
Die Amerikanerin Karin Slaughter schreibt ultraharte Bücher.
James Arthur Gekiere, / Imago
Nicht nur bei Krimis, sondern in der Belletristik ganz allgemein herrscht eine Hyperinflation des 2×4 cm messenden rechteckigen Aufklebers. Weiss auf rotem Grund, springen einen die Versalien vom Buchdeckel an: BESTSELLER, damit die Zaudernden rasch zugreifen, denn das Verfallsdatum naht schneller als die nächste Neuerscheinung. Bei Karin Slaughter, der Thriller-Autorin mit dem Horror im Namen – to slaughter bedeutet schlachten –, hat das marktschreierische Prädikat nach über 40 Millionen verkaufter Titel immerhin seine Berechtigung.
Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Slaughters jüngster Wälzer zementiert ihren Ruf als eine der gleichermassen erfolgreichsten wie brutalsten Kriminalschriftstellerinnen: «Dunkle Sühne» ist ultraharte Kost, an der Grenze zu einer Pornografie der Gewalt. Aber da sind eben auch das Behutsame, das Zarte, die Trauer, die Scham und die Schuld. Am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag, verschwinden zwei Teenager während des grossen Feuerwerks.
Ein havariertes Fahrrad und eine Blutlache zeugen von einem schrecklichen Ereignis. Eines der vermissten Mädchen ist die Tochter der besten Freundin von Deputy Emmy Clifton, die alles daransetzt, die mutmasslich Entführten so schnell wie möglich zu finden. Emmys leuchtendes Vorbild ist ihr Dad, Cop wie sie und Sheriff der (fiktionalen) Stadt North Falls.
Längst wissen alle, die sich mit True-Crime-Podcasts oder Serien wie «CSI: Miami» und Konsorten die Langeweile vertreiben, dass die ersten 24 Stunden überlebenswichtig sind, danach sind praktisch alle Entführungsopfer tot. Das viele Blut am Ort des Verschwindens lässt Schlimmstes befürchten, und Emmy quälen Selbstvorwürfe, weil sich Madison, die Tochter ihrer Freundin Hannah, vergebens an sie gewandt hatte, als sie gerade mit etwas vermeintlich Wichtigerem beschäftigt war.
Karin Slaughter gönnt ihren Leserinnen und Lesern keinen Augenblick der Erholung, im Gegenteil, sie jagt uns auf den höchsten Punkt des Spannungsbogens, nur um uns dann in einer Höllenfahrt mit unvermindertem Tempo in den tiefsten Abgrund donnern zu lassen. Das ist kaum auszuhalten. Ihren wiederkehrenden Kernthemen, Missbrauch, Folter, Sucht, geht Slaughter auf den Grund – den Nährboden bereitet, im Guten wie im Schlechten, die Familie. Opfermut und Täterschaft liegen in «Dunkle Sühne» näher beieinander als erahnt, die Familienbande sind kompliziert verknotet und verwickelt, dunkle Geheimnisse drohen ans Licht zu gelangen. Jedenfalls wäre ein «Warnhinweis für Leser mit schwachen Nerven», wie von der britischen Zeitung «The Guardian» vorgeschlagen, sinnvoller als der sich selbst rühmende Bestseller-Kleber.
Slaughters Auseinandersetzung um Schuld und Sühne bildet den Auftakt zur North-Falls-Reihe. Ob diese ähnlich populär wird wie die Georgia-Reihe, in welcher Will Trent, ein Beamter des Georgia Bureau of Investigation (GBI) in Atlanta, die Hauptrolle einnimmt? Trent, ein ehemaliges Waisenkind, ist schwerer Legastheniker und hat sich trotz der Sprachbeeinträchtigung zum Special Agent mit genialischen Zügen hochgearbeitet.
Karin Slaughter hat ihn seit dem 2008 auf Deutsch erschienenen Titel «Verstummt» in über einem Dutzend Romanen auftreten lassen. Einen kräftigen Boost bekam die Buchreihe durch die Verfilmung. Eine vierte Staffel, die wie die vorangegangenen auf Disney+ zu sehen sein wird, ist für 2026 bestätigt. Zuletzt erschien «Letzte Lügen», ebenfalls in der Übersetzung von Fred Kinzel. Moderat brutal sind im Übrigen auch die Trent-Krimis nie, die Nerven werden bis zum Äussersten malträtiert.
Karin Slaughter: Dunkle Sühne. Übersetzt von Fred Kinzel. Harper Collins 2025. 599 Seiten.
Ein Artikel aus der «»