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Die Sängerin und der Sänger stehen einander vor weißer Wand gegenüber.Die kleine, wilde Peri, Vera-Lotte Boecker, und der große, milde Engel, Ivan Borodulin. © Monika Rittershaus

Tobias Kratzer beginnt seine Hamburger Intendanz entlarvend und umarmend, verkopft und sinnlich – ein Geniestreich.

Das nennt man einen Auftakt nach Maß. Es wurde sogar gebuht, also: einer buhte, das ist unvermeidlich an einem Abend, der etwas wagt. Außerdem buhte eine bereits während der Vorstellung, aber das gehörte dazu. Tobias Kratzers Verkleidungungsspiele sind wie immer so gut, dass man es fast geglaubt hätte. Man nennt das einen Auftakt nach Maß, weil das alles sehr gut durchdacht ist. Genau so sollte es sein, an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt. Was tun mit den großen, etwas übergroß gewordenen Erwartungen? Hier die überzeugendste aller möglichen Antworten.

Seine Intendanz an der Hamburgischen Staatsoper eröffnet der 45 Jahre alte Regisseur Kratzer – soeben von der Fachzeitschrift „Opernwelt“ erneut zum Regisseur des Jahres gekürt – nicht mit einer Großoper von Wagner oder Strauss oder wenigstens Meyerbeer oder Bellini. Er nimmt nicht einmal eine richtige Oper dafür, sondern ein duftiges Oratorium, musikalisch über alle Zweifel erhaben, textlich in einem wunderlichen Zwischenreich zwischen persischer Mythologie nach westlicher Lesart, Empfindsamkeit und mehr romantischer als christlicher Erlösungssehnsucht.

1843 in Leipzig uraufgeführt, hat Robert Schumanns „Das Paradies und die Peri“ zur Titelheldin ein stilles Geschwisterchen des nur wenige Monate älteren „Fliegenden Holländers“: ein Engelswesen, dessen Vertreibung aus dem Paradies nicht begründet wird und dessen tapferer Kampf, mittels dreier Gaben an jenen Sehnsuchtsort zurückzugelangen, in drei Teilen geschildert wird. Die Gaben: das Blut eines jungen Kämpfers gegen die Tyrannei; der letzte Seufzer einer Frau, die mit dem pestkranken Geliebten sterben will/wird; die Tränen eines reuigen Alten angesichts der Unschuld eines Kindes. Keine anderthalb Stunden dauert das.

Kratzer nutzt es vielfältig, seine Inszenierung spielt und trägt zusammen mit der absoluten Schönheit der Musik auf mindestens zwei Ebenen. Dass die Musik aber die einzige ist, die ohne die anderen sein könnte, wird keinen Moment geleugnet. Omer Meir Wellber, der neue Hamburger Generalmusikdirektor, dirigiert das Philharmonische Staatsorchester schlank und mit Schmelz, aber nicht zu süß. Als Rest der oratorischen, nichtszenischen Situation sind Solisten und Solistinnen meist gut platziert, der Chor (geleitet von Alice Meregaglia) ist in allen Belangen agil. Im Ensemble sehr gute bis grandiose Stimmen, angeführt von Kai Kluge mit kernigem Evangelisten-Tenor und Annika Schlicht mit einem altwürdigen Mezzo.

In maximaler Aktion ist nur die Peri selbst, Vera-Lotte Boecker, die Bank der Bühnenszenerie als seidig und innig singende Sopranistin mit hohem lyrischen Anteil und als Schauspielerin mit Haut und Haar: eingangs noch von den Federn umgeben, am Rücken der Schmerz, den jeder spüren wird, der sieht, wie Boeckers Arme an den Schulterblättern die verlorenen Flügel suchen. Nachher vollständig mit Theaterblut übergossen. Nachher über die Bestuhlung des Parketts den Weg nach oben suchend, singend, schwankend, vom Publikum gestützt. Im bis dahin geschärften Blick für die Theatersituation als Situation zwischen Menschen (die einen machen was, die anderen sehen zu) ist das ergreifend, die Natürlichkeit, mit der Menschen einander mit bescheidenen Armbewegungen vorm Absturz bewahren können.

Im schneeweißen Alles-auf-Anfang-Raum von Ausstatter Rainer Sellmaier entwickeln sich klug, nicht rigoros aktualisiert die Handlungselemente: Tyrannei und Krieg als unruhiges Herumeilen von heute und prächtige Theaterchorschlägerei. Der Pesttod als Pandemie-Setting mit Schutzanzügen. Das spontane Mitleid des Alten mit dem Jungen zeigt die Welt als Halbkugel, ein schneefreies Schneeglas, in dem Kinder über einer Spielzeugstadt Flugzeuge fliegen lassen. Schon fangen die Schornsteine an zu qualmen, schon sieht man in der Glashalbkugel nichts mehr. Zum Glück nur Theaternebel, aber nur im Theater ist es nur Theaternebel.

Man ist zum Ende der Teile hin allerdings immer abgelenkt, auch das selbstverständlich Kalkül. Schon beim Einlass etablieren Kratzer und Manuel Braun (Video) eine weitere Ebene, eine Leinwand auf der Bühne, die Bilder aus dem Saal zeigt. „Willkommen“ steht auf der Leinwand außerdem, passend zum Tag und zum Stück (das mit diesem Wort endet). Man entdeckt sich, man feixt, man winkt. Auf der Bühne bereits einige Sängerinnen und Sänger, die ebenfalls interessiert zu uns herüberschauen: Die Bühne glotzt zurück.

Dann aber geht das Saallicht gegen Ende der „Peri“-Kapitel immer wieder an, die Bilder des nachdenklichen, verlegenen, dösenden Publikums zeigen sich. Ohnehin ein ungewohnter Anblick, aber ausgetüftelt: Zum Kriegskapitel buht eine „Zuschauerin“ und schreit, das sei doch keine Oper. Zum holden Schlummer-Lied im Pest-Kapitel kommt ein „Schlafender“ ins Bild, der erst aufwacht, als seine „Frau“ ihn in die Seite piekst. Als Zusatzspur trägt die Frau eine medizinische Maske. Trotzdem: Wirklich gute Bilder, auch davon handelt der Abend, glaubt der Mensch einfach (man ärgert sich sogar kurz, Schlafen im Theater ist doch eine der wenigsten Dinge, die dem Publikum erlaubt sind, und nun kichern alle über den armen Mann). Zum Abschluss des Mitleidskapitels: ein „Zuschauer“ weint.

Ehrlich gesagt ist das genial, aber es kommt noch besser: Im buchstäblichen Schlussspurt vor der Leinwand, die jetzt Fußwege und Straßen dieser Erde zeigt, rennt Boecker erst alleine, mal verschwitzt, mal verschneit, dann mit vielen anderen in Richtung Paradies (ja, zusammen ist es schöner, kluges Theater kann einem Lehren und sogar Binsenweisheiten auf den Weg geben, ohne dass man sich stört, man freut sich sogar darüber und überlegt sich, mal wieder was mit anderen zu unternehmen).

Das bisher von Bilderbuchengeln bewachte Ziel ist aber anders als erwartet. Das Paradies ist ein Konzertpodium, auf dem ein Chor das Ende von Schumanns „Das Paradies und die Peri“ singt. Auch die Peri wird noch fix in ein schwarzes langes Kleid und in die Reihe gesteckt. Sie fühlt sich unbehaglich. Sie passt hier nicht rein. Sie weint. Sie nimmt die Beine in die Hand.

So erzählt Kratzer nicht nur vom Paradies und der Peri und reißt nicht nur die vierte Wand flugs ein, die zwischen Opernbühne und -publikum recht stabil ist. Er stellt auch flugs infrage, was das Theater eigentlich kann und soll. Wenig. Aber etwas Besseres, um alles zu zeigen, zu reflektieren und zu fühlen, haben wir nicht.

Und das ist noch nicht alles

Am nächsten Tag des Festwochenendes, das schon als solches eine große, glückliche Umarmung ist, noch eine Setzung: Der Intendant inszeniert (mit Koregisseur Matthias Piro) die Kinderoper „Die Gänsemagd“ der in Hamburg geborenen Komponistin Iris ter Shiphorst, von Helga Utz geschrieben auf das Grimm-Märchen.

In der Studiobühne Opera Stabile sitzt das Publikum in der Mitte auf dem Boden, und die Mitte ist die Gänsewiese. Man soll mitgackern. Der Lohn ist perfektes Kindertheater, völlig kompromisslos musikalisch, optisch und in der Sache. Null Video auf einer von Sellmaier traumhaft ausgestatteten rundherumlaufenden Bühne, aber mit einem sprechenden Falada-Kopf, wie Sie ihn noch nicht gesehen haben werden. Das Theater kann alles und besser. Denn Claudia Chan dirigiert nun die vierköpfige Combo – unter anderem Keyboard und Kontrabassklarinette –, und Ida Aldrian ist nur die allerschönste Sopranstimme in einem glanzvollen, witzigen Ensemble. Einen Meter weg, manchmal weniger.

Es kann gut sein, dass an diesem Wochenende eine ganz große Theatergeschichte angefangen hat.

Staatsoper Hamburg: „Das Paradies und die Peri“ – 30. September, 3., 11., 14., 17., 24. Oktober, 1. November. „Die Gänsemagd“ – bis 15.
Oktober (derzeit keine Karten). die-hamburgische-staatsoper.de