Die Nachspielzeit lief bereits seit drei Minuten, und in der Ecke der Arena des VfL Wolfsburg, in der sich die Anhänger von RB Leipzig zusammengefunden hatten, ertönte ein Aufschrei. Er war so laut, dass der Schalldruckpegel dabei womöglich sogar höher lag als beim Jubel über den frühen Treffer des Belgiers Johan Bakayoko in der 9. Minute, der am Ende das Leipziger 1:0-Siegtor bedeutete.
Der Grund für das nachgerade orgiastische Jauchzen war die Einwechslung des Spielers mit der Rückennummer 36. Er wird in Leipzig wie ein Messias verehrt und war letztmals vor fast 700 Tagen für RB am Ball gewesen: Timo Werner, mit 113 Toren Rekordschütze des in Sachsen beheimateten Bundesligisten. Dessen Wiederkehr hatte am Ende fast größeren Nachrichtenwert als der Umstand, dass RB im vierten Spiel nach dem 0:6 zum Start beim FC Bayern den vierten Sieg in Serie errang, damit sein Torverhältnis ausgleichen und sich unter den ersten Vier der Tabelle festsetzen konnte.
Borussia Dortmund
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Der BVB beweist beim 2:0 gegen Mainz seine neue Stabilität – auch ohne den verletzten Torjäger Guirassy. Doch reicht das schon, um ein Bayern-Jäger zu sein? Der Trainer bleibt vorsichtig.
Größere Impulse verlieh Timo Werner dem Spiel nicht mehr. Seine Einsatzzeit war so knapp bemessen, dass sich nicht einmal verlässlich das Urteil von Abwehrchef Willi Orban bewerten ließ, der sagte, Werner sei „immer noch ein guter Spieler“, der auch „beim Gegner etwas im Kopf auslöst“. Aber immerhin, ein erster Schritt war für Werner am Samstag gemacht. Und man konnte im Sommer nicht davon ausgehen, dass der ehemalige Nationalstürmer diesen Schritt noch in der Arbeitskleidung von RB machen würde.
Der 29-Jährige war nach rund anderthalbjähriger Leihe von Tottenham Hotspur nach Leipzig zurückgekehrt. Doch als Retter sah ihn unter den Klubverantwortlichen in Leipzig niemand mehr. Im Gegenteil. RB ließ wochenlang nicht ein Jota des Zweifels daran aufkommen, dass man Werner so schnell wie möglich loswerden wollte. Die Situation geriet kafkaesk, denn ohne dass W. etwas Böses getan hätte, wurde er nachgerade gemobbt.
Die harten Schlagzeilen im Sommer standen im krassen Kontrast zu Werners „Erlöser“-Begrüßung 2022
Kaum ein Tag verging, an dem Werner nicht vorgehalten wurde, mit Abstand der Spitzenverdiener zu sein; und dass er sich im RB-Kosmos nicht einfach so nach New York delegieren lassen wollte. „Lieber Tribüne als Premier League!“, war eine der Schlagzeilen, die Werner über sich lesen musste, ebenso die Frage: „Ob Werner selbst noch sportliche Ambitionen hat?“ Das war schon deshalb bemerkenswert, weil es so stark im Gegensatz zum August 2022 stand, als Werner bei seiner ersten Rückkehr in Leipzig noch so enthusiastisch begrüßt worden war.
Damals hatte er London erstmals den Rücken zugekehrt. Werner hatte zwei Jahre beim FC Chelsea hinter sich gelassen, zwar mit einem Champions-League-Sieg 2021 im Finale von Porto gegen Manchester City, aber auch mit viel persönlichem Frust. Sein Rückwechsel nach Leipzig glich einer Flucht, und für diese bedurfte es einflussreicher Helfer.
Denn in Leipzigs damaliger sportlicher Leitung gab es gewichtige Stimmen, die warnten, Werner würde sportlich nicht (mehr) ins Konzept passen. Am Ende soll sich bei der Rückholaktion insbesondere der damalige RB-Vorstandsvorsitzende Oliver Mintzlaff durchgesetzt haben, der sich später eines exzellenten Verhältnisses zu Werner rühmte. Nun war von ihm nichts zu hören, als Werner öffentlich ein Strick daraus gedreht wurde, dass er die vielen Millionen akzeptiert hatte, mit denen Leipzig ihn einst wieder angelockt hatte.
Dass das unter den Fans nicht verfing, war schon am vergangenen Wochenende zu spüren, als Timo Werner erstmals seit dem Amtsantritt von Trainer und Namensvetter Ole Werner im Kader stand und beim Aufwärmen bejubelt wurde. Auch aus der Mannschaft kamen Töne, die verhießen, dass Timo Werner sich größter Beliebtheit erfreute. Und erfreut.
„Die Leute lieben Timo. Und wir lieben ihn genauso“, betont RB-Routinier Willi Orban
„Wir sehen es in jedem öffentlichen Training, dass die Leute Timo lieben, und wir lieben ihn genauso“, sagte Willi Orban: „Er hat die ganze Vorbereitung Gas gegeben, obwohl das keine einfache Situation war.“ Unter anderem musste Timo Werner, wenn der Trainer ein Spiel Elf gegen Elf ansetzte, um den Platz laufen, als wäre er nicht der Messias, sondern Barabbas: „Er hat das professionell durchgezogen“, sagte Orban. Bis er sich wieder in den Kader zurückkämpfte und sogar für Dienstreisen infrage kam, wie nun nach Wolfsburg.
Dort bekam er als gut 90-minütiger Zuschauer ein Spiel geboten, für das RB-Geschäftsführer Marcel Schäfer, ehedem bei der VW-Filiale in Wolfsburg tätig, das Adjektiv „wild“ fand. Statistiker zählten 22:19 Torschüsse für Wolfsburg; in der Sparte „expected goals“ (xG) kam der VfL gar auf den Wert 3,05. RB Leipzig schaffte es noch – spät – diesen Wert auf 2,41 zu schrauben. Aber nur, weil der Videoschiedsrichter (trotz unmissverständlicher Bewertung der Szene durch den Feldreferee) spät einen Foulelfmeter verhängte, der einen xG-Wert von 0,77 hat.
Dass Christoph Baumgartner diesen Elfmeter verschoss, war das eine. Das andere war, dass der xG-Wert der Wolfsburger Bände sprach – über die Defensive der Leipziger, aber vor allem über die schreckliche Chancenausbeute des VfL. Zum Vergleich: Der FC Bayern kam beim 6:0 gegen Leipzig auf einen xG-Wert von 1,72. „Wir müssen ehrlich zu uns selbst sein, in einigen Situationen haben wir auch Glück gehabt“, sagte RB-Boss Schäfer und nahm Mannschaft und Trainer ins Visier: „Das ist vom Auftritt, von der Art und Weise, nicht das, was wir uns vorstellen. Es gibt ein paar Dinge, die sollten wir schleunigst abarbeiten.“ Denn am kommenden Wochenende steht für Leipzig der Besuch bei Borussia Dortmund an.