Sechs Punkte für einen getöteten Soldaten, 40 Punkte für einen zerstörten Panzer, bis zu 50 Punkte für ein ausgeschaltetes Raketensystem. Ukrainische Soldaten können seit Kurzem auf dem sogenannten „Brave 1 Market“ Waffen und Ausrüstung gegen „e-points“ einlösen. Diese erhalten sie für bestätigte Abschüsse; ein Team von Analysten in Kiew verifiziert entsprechende Videoaufnahmen.
„Brave 1 Market wird das Amazon für das Militär werden“, sagt Mykhailo Fedorov, stellvertretender Ministerpräsident und Minister für digitale Transformation. So erhielten Einheiten die Technologie, die sie gerade am dringendsten benötigten. Die Waffen würden direkt an die Front geliefert. Militärs wüssten häufig nicht, welche Systeme bereits verfügbar sind, sagt Fedorov. Der digitale Waffenmarkt sei eine Lösung für das Problem. „Dieser Mechanismus verändert die Regeln der Kriegsführung.“
Welche Reichweite soll die Drohne haben?
Auf dem „Brave 1 Market“, der teilweise öffentlich aufrufbar ist, bieten ukrainische Unternehmen mehr als 1000 Produkte an: Flugdrohnen, Bodendrohnen, Waffen zur elektronischen Kriegsführung, Software, KI-Systeme und Munition. Nicht alle Systeme sind mit „e-points“ zu kaufen, derzeit sind es etwa 150; deren Zahl soll aber weiterwachsen. Der Markt ersetzt nicht die reguläre Ausrüstung der Soldaten an der Front, sondern dient als Ergänzung. Wie auf einem gewöhnlichen Onlinemarkt kann man sich durch Kategorien klicken, seine Suche optimieren oder deren Ergebnisse sortieren. Soll es eine Kamikaze- oder doch lieber eine Aufklärungsdrohne sein? Wie viel Geld will man maximal ausgeben? Welche Reichweite soll das Waffensystem haben? Und was sind die gefragtesten Angebote? Auch die gewünschte Höchstgeschwindigkeit und maximale Flugdauer von Drohnen können ausgewählt werden.
Amazon für Waffen: Screenshot der Seite „Brave 1 Market“brave1.gov.ua
Auf einer Rüstungsmesse im westukrainischen Lemberg hat sich die F.A.Z. mit der Produktmanagerin und Teamleiterin des „Brave 1 Market“ getroffen. Im Gespräch erzählt Yuliia Myrna von den Zielen der Plattform. „Uns ist es gelungen, die Lieferung von Drohnen an die Front von mehreren Monaten auf zwölf Tage zu verkürzen“, sagt sie. Das sei „unglaublich“, aber man wolle die Soldaten noch schneller ausrüsten. Aufgrund des rasanten Technologiewettlaufs verlieren Drohnen mit der Zeit an Effektivität. Daher sei es von „entscheidender Bedeutung“, sagt Myrna, die Lieferzeit weiter zu verkürzen.
Mit dem Waffenmarkt soll auch die Motivation der Soldaten gesteigert werden. Auf der Website ist zu sehen, welche Einheit die meisten Abschusspunkte gesammelt hat. Derzeit führt der SBU, der Inlandsgeheimdienst, dicht gefolgt von der Drohneneinheit „Birds of Magyar“. Laut Minister Fedorov hat der interne Wettbewerb zu so vielen Abschüssen geführt, dass man mit der Lieferung von Waffen nicht mehr nachgekommen sei.
16.000 Punkte für 400 zerstörte Panzer
Auf dem öffentlich zugänglichen Teil der Website ist nicht zu erkennen, wie viele „e-points“ ein Produkt kostet; auch Produktmanagerin Myrna will das nicht preisgeben. Von der Regierung heißt es, dass man für 16.000 Punkte – was derzeit 400 zerstörten Panzern oder rund 2660 getöteten Soldaten entspricht – etwa 500 First-Person-View-Drohnen, 500 Nachtsichtdrohnen, 100 schwer bewaffnete Vampire-Mehrzweckdrohnen und 40 Aufklärungsdrohnen erhalte. Myrna sagt, die Preise seien nicht fix. Sie würden je nach Lage an der Front angepasst. „Wenn wir etwa Probleme mit feindlichen Fahrzeugen haben, bekommt man für Treffer mehr Punkte.“ Das Gleiche gelte für russische Soldaten.
Myrna sagt, dass ukrainische Soldaten das Gefühl hätten, „die Situation unter Kontrolle zu haben“. Die Waffenkäufe auf der Plattform würden nicht vom Kommandeur bestimmt, sondern auf unterer Ebene der Einheit entschieden. Soldaten könnten die Produkte ganz nach ihren individuellen Bedürfnissen erwerben. Es gehe nicht nur um Motivation, sondern auch um die Möglichkeit, eigene Lösungen zu finden. „Die Punkte geben ihnen das Gefühl, dass sie nicht nur mit der Verteidigung unseres Landes Geschichte schreiben, sondern auch Teil der Entwicklung der Verteidigungstechnologie sind.“ Die Rückmeldungen von Soldaten seien positiv.
Einem Bericht der BBC zufolge ist die Resonanz dagegen gemischt. Während einige Soldaten, mit denen die britische Rundfunkanstalt gesprochen hat, die Effizienz des Waffenmarkts loben, üben andere deutliche Kritik: Das grundlegende Motivationsproblem werde dadurch nicht gelöst, sagt ein Kombattant. „Punkte werden die Leute nicht davon abhalten, aus dem Militär zu fliehen.“ Ein anderer Soldat beschwert sich demnach darüber, dass Einheiten zu viel Zeit damit verbrächten, sich die Treffer zuzuschreiben. Manchmal würden sie sogar absichtlich ein bereits außer Gefecht gesetztes russisches Fahrzeug angreifen, um mehr Punkte zu sammeln. Für den Soldaten ist der Markt auch moralisch fragwürdig. „Dieses System ist nur das Ergebnis unserer verdrehten mentalen Gewohnheit, alles in Profit umzuwandeln – sogar unseren eigenen verdammten Tod.“
Der Waffenmarkt erinnert an populäre Ego-Shooter wie „Call of Duty“. Dort erhalten Videospieler für mehrere Abschüsse virtueller Gegner – sogenannte Killstreaks – Belohnungen bis hin zum Einsatz einer Atombombe. Produktmanagerin Myrna entgegnet auf die Kritik an der „gamification of war“, dass Russland mehr Waffen, mehr Soldaten, mehr Geld und mehr Ressourcen habe. „Sie wollten uns innerhalb von drei Tagen besiegen – das haben sie nicht geschafft.“ Das liege nicht an irgendeiner „magischen Waffe“, über die Kiew verfüge. „Sondern daran, dass wir versuchen, innovative Wege zu finden: um diesen Krieg zu gewinnen, um am Leben zu bleiben, um unser Land und unsere Nationalität zu retten.“ Die Art und Weise, wie die Ukraine das erreiche – „tut mir leid, aber das ist unsere Sache“.
Der Markt soll auch dazu dienen, den direkten Austausch zwischen Rüstungsunternehmen und Soldaten zu fördern. Dadurch sollen die Waffensysteme verbessert und der aktuellen Lage im Kampfgebiet angepasst werden. „Ohne das Feedback von Soldaten an vorderster Front wissen unsere Hersteller nicht, was sie tun sollen“, sagt Myrna. Sie kündigt an, dass der „Brave 1 Market“ bald auch für europäische und andere ausländische Unternehmen geöffnet werden soll. Es würden derzeit „technische Fragen“ geklärt. Die Erweiterung des Waffenmarkts könnte schon bis Ende dieses Jahres erfolgen. Myrna bestätigt, dass mindestens ein deutsches Unternehmen auf der Anfrageliste stehe. Welches, verrät sie nicht.