„Das Theater braucht die Freiheit, provozieren zu dürfen – die Gesellschaft die Freiheit, herausgefordert zu werden.“ Diese Worte stehen zum Auftakt über dem Ukrainischen Theaterfestival, das zum zweiten Mal in der Pasinger Fabrik stattfindet (noch bis 5. Oktober). Von dem Wunsch nach Freiheit und dem Ende der Unterdrückung handelt auch das Eröffnungsstück „Borschtsch. Überlebensrezept meiner Uroma“. Die in Osteuropa beliebte Suppe ist für die Menschen in der Ukraine zu einem Symbol der Hoffnung geworden.
Drei Rezepte, drei Geschichten. Es ist Frühjahr 2022, kurz nach der russischen Invasion. Oleh, gespielt von Dmitriy Balashow, versucht verzweifelt, seine Mutter Ljuba (Julia Sleoneva) zur Flucht zu bewegen. Doch die kocht, geblendet von russischer Propaganda, in aller Seelenruhe Borschtsch, diese Suppe aus Rote Bete und Weißkohl, die in der Ukraine wie in Russland ein Nationalgericht ist. Eine Seelenruhe, die kurz darauf von einer Bombenexplosion erschüttert wird.
In der zweiten Szene explodiert zwar keine Bombe, aber der Geschichtslehrer Illja Leonidowytsch (Volodymyr Melnyk) bastelt gerade an einer, als seine Schülerin Lera (Anastasia Kostur), hereinstürmt und Suizid begehen will. Sie erzählt von ihrer Vergewaltigung durch einen Burjaten. „Das, was mir passiert ist, ist für immer“, sagt sie und bewegt damit nicht nur ihren Lehrer, der in einem im Angesicht des Krieges geradezu absurden Liebesverhältnis zu ihr steht, sondern auch das überwiegend ukrainische Publikum in der Wagenhalle der Pasinger Fabrik.
Der dritte und letzte Teil handelt von einem Gespräch zwischen der 85-jährigen Nadja Juchymiwna und deren Hund Tapsi, der sie vor einem russischen Soldaten beschützt und diesen totbeißt. Das Publikum jubelt. Nadja pustet daraufhin Seifenblasen, in deren schillernden Licht sich die Hoffnung auf baldige Rettung spiegelt. Sie skandiert noch „unsere [Panzer] sind schon ganz nah“, bevor das Stück endet und ihre Worte in tosendem Applaus untergehen. Die Menschen springen von ihren Sitzen auf.
Das Stück, geschrieben von Maryna Smiljanez und inszeniert von Tetiana Hubrii, die auch an den Kammerspielen gearbeitet hat, beruht auf wahren Begebenheiten. Rund 40 Interviews hat Smiljanez in den besetzen Gebieten für ihr Theaterskript geführt.
„Borschtsch“ weckt Erinnerungen. Erinnerungen, die niemand nachvollziehen kann, dem nicht das gleiche Leid widerfahren ist. Theaternebel, Licht und laute bedrohliche Musik verstärken diesen emotionalen Effekt. Auf der Bühne wie im Saal wird viel geweint – und zugleich gelacht. Ein Wechselbad der Gefühle, das von patriotischen „Slawa Ukrajini“-Rufen (Ehre der Ukraine) durchbrochen wird. Am Ende der Vorstellung hält Regisseurin Hubrii die ukrainische Flagge hoch.
Neben der Produktion „Borschtsch“ (Foto) zeigt das Festival noch drei weitere Stücke, zum Abschluss gibt es am 5. Oktober ein Konzert mit der ukrainischen Band „Kvartyrnyk“. (Foto: Theaterstudio Soloway)
Die Wucht der Emotionen, die das ukrainische Publikum wie eine Welle ergreift, ist erschütternd. Auch für nicht ukrainische Besucher, die sich aber trotz der herzlichen und offenen Art der ukrainischen Community wohl etwas verloren fühlen. Das mag auch an der Sprachbarriere liegen – das Stück wurde bis auf einen Akt auf Ukrainisch mit deutschen Untertiteln gespielt.
Der Gegensatz, die tiefe Kluft zwischen Tragödie und Komik, erscheint bisweilen befremdlich, ist aber wohl Alltag für die Ukrainer in ihrem Überlebenskampf: Gerade noch hat sich das Publikum im Saal die Tränen aus den Augen gewischt, da herrscht am Büfett im Vorraum gelöste Stimmung. Friedenspostkarten und ukrainische Kaffeebohnen werden verkauft, Kiewer U-Bahn-Karten versteigert. Der Erlös geht an die Soldaten an der Front und zwei (Veteranen-)Theaterprojekte.
Die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende ist groß an diesem Theaterabend, die Sehnsucht nach Frieden und bedingungsloser Souveränität allgegenwärtig. Die Menschen sind in die Fabrik gekommen, um ihr Leid zu teilen, sich am Borschtsch zu wärmen und Trost zu finden.
Ukrainisches Theaterfestival, noch bis 5. Oktober 2025, mit Publikumsgesprächen, Pasinger Fabrik, August-Exter-Straße 1, Informationen unter www.pasinger-fabrik.de