Es gibt diesen Moment: Ein Baby liegt auf einer Decke, irgendwo im Gras, in einem irischen Wald. Die Mutter ist davongelaufen, einfach so. Für einen Augenblick wirkt es, als sei dieses Verlassen ein Akt der Erlösung – für das Kind. Und für die Mutter. Was wie ein Albtraum klingt, eröffnet Claire Kilroys Roman „Kinderspiel“. Der Beginn einer literarischen Spirale ins Innenleben einer jungen Mutter, die mit der Wucht ihrer Gefühle ringt.

Gefühle, die in den letzten Jahren viele Motherhood-Romane ins Zentrum rückten. Kein Wunder. Die Geburt eines Kinds und das Muttersein sind existenzielle Erlebnisse. Was im Leben ist ähnlich göttlich und zugleich monströs?

Das Gleiche gilt für die bewusste Entscheidung gegen ein Kind – oder die schmerzhafte Unmöglichkeit, eines zu bekommen. Hinzu kommt ein gesellschaftliches Mutterbild, das wenig Platz lässt für Zweifel, Hadern und Unsicherheiten, die unweigerlich dazugehören.

Erst seit wenigen Jahrzehnten nimmt die Literatur Mutterschaft ernst – und zwei aktuelle Romane beweisen, dass das Thema noch lange nicht erschöpft ist: „Achte Woche“ von Antonia Baum und „Kinderspiel“ der irischen Autorin ­Kilroy. Beide beleuchten die Ambivalenz der Mutterschaft auf völlig unterschiedliche Weise – der eine nüchtern-analytisch, der andere mit sprachlicher Wucht.

Die Romane

Claire Kilroy: „Kinderspiel“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025. 288 Seiten, 23 Euro

Antonia Baum: „Achte Woche“. claassen Verlag, Berlin 2025. 128 Seiten, 21 Euro

Jede Wahl ist endgültig

In Antonia Baums „Achte Woche“ geht es nicht um das Baby, das da ist, sondern um das, das kommt. Oder nicht kommt. Die Protagonistin Laura ist schwanger. Schon wieder. Einmal hat sie abgetrieben, einmal ein Kind bekommen. Nun steht sie erneut vor der Entscheidung – und weiß: Es gibt keine richtige. Jede Wahl ist endgültig, jede birgt das Risiko tiefer Unzufriedenheit.

Laura arbeitet in einer Frauenarztpraxis, die auch Abtreibungen durchführt. Die Pa­ral­lele zwischen ihrer eigenen Entscheidung und denen der anonymen Frauen, die täglich durch die Praxisflure gehen, weitet den Blick für andere Leben, andere Schicksale.

Baum erzählt in knappen Szenen und Sätzen, die oft mehr andeuten als aussprechen. Ihre Figuren reden selten viel, aber was sie sagen, hallt nach. Etwa wenn Laura sich selbst beschreibt, erschöpft, stinkend, wie „angespülte Algen in der Sonne“.

Der Roman springt zwischen Gegenwart und Erinnerung, zwischen Lauras Alltag als Arzthelferin und ihrer Familiengeschichte. Er wechselt von nüchterner Beobachtung zu existenzieller Reflexion, erzählt aus Lauras Perspektive.

Kleine soziologische Studien

Baums Roman erinnert an Sheila Hetis Roman „Mutterschaft“, in dem die Protagonistin keine Mutter ist, aber sich unablässig die Frage stellt, ob sie es werden soll – eine Frage, die für sie immer mehr zur philosophischen, persönlichen und gesellschaftlichen Zumutung wird.

Doch wo Heti essayistisch bleibt, schreibt Baum narrativer. Ihre Beschreibung der Pa­tien­tinnen ähneln kleinen soziologischen Studien. Da ist die 16-jährige Maha mit weißer Daunenjacke, hellbraun umrandeten Lippen und von Wimpern­extensions umkränzten Augen. Oder Amelia, unter deren Arm Mutterpass, Versichertenkarte und ein Buch klemmt.

Claire Kilroy wählt einen anderen Zugriff: Während Baum mit distanzierter Präzision erzählt, sucht Kilroy die emotionale Unmittelbarkeit. Ihre Ich­erzählerin Soldier spricht in einem atemlosen Monolog zu ihrem Sohn Sailor. Soldier will ihrem Sohn alles sagen, alles erklären – auch das Unerträgliche.

Es ist, als rede sie gegen das Verstummen an, als kämpfe sie mit der Sprache, um nicht in den Abgrund zu stürzen, der sich zwischen Windeln wechseln, stillen und Ehekonflikten auftut. „Ein Gutenachtkuss von jemandem, der für dich töten würde, andere, sich selbst, von einer, die sich schon getötet hat.“

Rauschhafter Text

Kilroys Roman ist ein Rausch. Er schwankt zwischen poetischer Zärtlichkeit und apokalyptischem Furor. Zwischen Autofahrten zur Schwiegermutter, Einkaufsdramen im Möbelhaus und einer fieberhaften Nacht am Meer entfaltet sich die fragile Innenwelt einer Mutter, die sich nicht mehr erkennt.

Es sind diese Widersprüche, die den Text so kraftvoll machen: Die Liebe zum Kind ist bedingungslos – und genau das macht sie zerstörerisch. Soldier will stark sein, retten, sich aufopfern – und träumt zugleich davon, alles hinter sich zu lassen. In einer Szene geht sie so weit ins Watt, auf der Suche nach dem Gefühl ihrer Jugend, dass sie beinahe ertrinkt – mit ihrem Sohn im Arm.

Man liest diesen Text und denkt an Rachel Yoders „Nightbitch“, in dem eine Mutter sich in einen Hund verwandelt, weil es keine andere Sprache für ihre neue Existenz gibt. Oder an Rachel Cusks „A Life’s Work“, diesen schonungslosen Essayroman, der Mutterschaft als Kontrollverlust und kulturelle Leerstelle beschreibt.

Auch Kilroy lässt ihre Figur durchdrehen, heulen, sich in einen Wolf verwandeln, der nachts ziellos durch die Straßen streift. Die Überforderung ist total. Und doch blitzt durch die Dunkelheit ein Abgrund an Liebe, der alles zusammenhält.

Beide Romane eint der Mut zur Ambivalenz. Sie entwerfen keine Heldinnen, keine Opfer, keine Vorbilder. Sondern Frauen, die hassen und lieben, gebären und fliehen wollen. Die sich aufreiben an einer Gesellschaft, die Mutterschaft als natürlich, intuitiv, selbstlos imaginiert – und dabei systematisch entwertet. Beide zeigen, was Literatur kann: Komplexität aushalten, ohne sie aufzulösen.

Eindimensionale Männer

Schade nur, dass beide Romane ihren Männerfiguren diese Komplexität nicht zugestehen. Kilroy differenziert hier noch eher. Auch Soldiers Ehemann knallt sich lieber vor den Fernseher und glotzt Fußball, statt seiner Ehefrau beim Versorgen des gemeinsamen Kinds zu helfen. Doch klingt immer wieder durch, dass sie ihm gar nicht zutraut, den gemeinsamen Sohn richtig zu versorgen. Auch die Nähe zwischen den beiden ist nicht gänzlich erloschen. Es bleibt ein Rest von Intimität, eine Ahnung von Verbundenheit.

In „Achte Woche“ hingegen geraten die Männer nur noch zum Klischee. Lauras Vater, ein von seiner Karriere besessener Jurist, mokiert sich über dicke Frauen, die er als „Tonnen“ bezeichnet, und verteidigt einen mutmaßlichen Vergewaltiger. Ihr Ex-Freund Aram fliegt am Tag der Abtreibung nach Singapur zur Bitcoinkonferenz.

Raum für Überraschungen oder Komplexität wird den Männern in beiden Romanen nicht wirklich zugestanden. Das mag eine bewusste Umkehrung jahrhundertelanger Klischees weiblicher Figuren sein. Im Vergleich zur psychologischen Genauigkeit, mit der die Frauenfiguren gezeichnet werden, liest es sich dann aber doch eher als Leerstelle.

Zugleich ist auffällig, dass die literarische Reflexion über Mutterschaft fast ausschließlich aus einem bestimmten Milieu stammt: weiß, urban, Mittelschicht. Wer darf zweifeln, wer darf hadern – und wessen Erfahrungen bleiben unsichtbar? Auch das steht als stiller Subtext in diesen Büchern.