Charkiw. Der Eingang wirkt wie der zu einem Bunker, dabei führt er in eine Schule. Dennoch trügt der erste Eindruck nicht: Diese Schule in der ostukrainischen Stadt Charkiw ist im wahrsten Sinne des Wortes bombensicher. 50 Stufen führen in die Tiefe, die Klassenräume liegen siebeneinhalb Meter unter der Erde und sind durch gehärteten Beton besonders geschützt.

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Die permanenten russischen Drohnen- und Raketenangriffe zwingen die Schulen in den Untergrund – wie auch andere Teile des öffentlichen Lebens in der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Nur dort sind die Menschen noch sicher vor dem Terror aus der Luft.

Die „Safe School“, die „Sichere Schule“ im Nordosten der Stadt, wurde innerhalb von nur neun Monaten in die Erde gegraben. Vor wenigen Tagen wurde sie eröffnet. Sie ist eine von sieben unterirdischen Schulen in Charkiw, die extra errichtet wurden, andere sind behelfsmäßig in U-Bahn-Stationen oder alten Schutzräumen untergebracht. Drei weitere unterirdische Schulen sollen bis Jahresende fertig werden. 54.000 Schülerinnen und Schüler leben noch in Charkiw, ein Drittel davon kann inzwischen unterirdisch unterrichtet werden. Der Rest wird per Fernunterricht online geschult.

Eine neue Schule, tief in der Erde: Die "sichere Schule“ im Nordosten der ukrainischen Stadt Charkiw.

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Seit dem russischen Überfall vor gut dreieinhalb Jahren findet in oberirdischen Schulen gar kein Unterricht mehr statt. „Die russischen Drohnen brauchen von der Grenze bis hierhin eineinhalb Minuten“, sagt Serhii Makeiev, Direktor einer der vier Schulen, deren insgesamt knapp 1500 Kinder jetzt im Schichtsystem in der „Safe School“ unterrichtet werden. „Das wäre gar nicht genug Zeit, um alle Schüler rechtzeitig in Schutzräume zu bringen.“

Oben warnen Sirenen vor russischen Lenkbomben

Auch in der unterirdischen Schule heulen um 10.44 Uhr die Sirenen, die in diesem Fall vor einer Bedrohung durch russische Lenkbomben warnen. Der Unterricht muss aber nicht unterbrochen werden. An diesem Donnerstag wird viermal Alarm ausgelöst, der insgesamt fast neun Stunden dauert. Bei einem der Alarme knattern mitten in der Stadt Maschinengewehrsalven: Soldaten eröffnen das Feuer auf eine russische Drohne. Unter der Erde bekommen die Kinder davon nichts mit.

Die „Safe School“ in Charkiw ist so freundlich und einladend gestaltet, wie das unter der Erde möglich ist. Dass die Räume nicht beengend wirken, liegt auch an den drei Meter hohen Decken. An ihnen verlaufen silberfarbene Schächte, aus denen Frischluft strömt. Die grünweißen Wände sind mit bunten Blumen bemalt, in Kiesbehältern stecken Plastikpflanzen. Es gibt 16 Klassenräume und eine kleine Aula, eine Cafeteria und ein Lehrerzimmer, einen Ruheraum und eine Krankenstation. Bei der Finanzierung der hochmodernen Ausstattung hat die staatliche deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) geholfen.

Schulleben unter der Erde: In der Aula der "Safe School" in Charkiw werden Klassenfotos gemacht, die meisten Mädchen und Jungen tragen dafür Vyshyvanka, traditionelle ukrainische Trachtenblusen mit bunten Stickereien.

In der Aula werden gerade Klassenfotos gemacht. Die meisten Mädchen und Jungen tragen dafür Vyshyvanka, traditionelle ukrainische Trachtenblusen mit bunten Stickereien. In einer sechsten Klasse läuft Mathematikunterricht, von zu Hause sind Schülerinnen und Schüler per Video zugeschaltet. An der Wand hängt ein Poster mit der Aufschrift: „Ein Schüler Charkiws ist nicht nur ein Kind mit einem Schulranzen, sondern ein potenzielles Genie.“ Im Englischunterricht müssen Lückentexte ergänzt werden, in Geschichte wird ein Test geschrieben. Als es zur Pause klingelt, wimmeln die Gänge nur so vor Schülern.

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„Es ist wirklich cool, hier zu sein“

Die Schule verfügt über eigene Generatoren und Trinkwasservorräte. Sollte sie etwa im Fall eines Raketeneinschlags von der Außenwelt abgeschnitten werden, könnten Kinder und Lehrer hier unten 48 Stunden lang autark überleben. Was fehlt: Fenster und Tageslicht. „Daran gewöhnt man sich“, sagt Lisa (11). Die Sechstklässlerin ist das erste Mal seit Kriegsbeginn wieder in einer richtigen Schule, das Gleiche gilt für ihre gleichaltrige Klassenkameradin Roksana. „Es ist wirklich cool, hier zu sein, es ist nicht wie Online-Unterricht“, sagt sie. „Hier kann man besser lernen und vor allem hat man seine Freundinnen hier. Und hier ist es sicher.“

„Daran gewöhnt man sich“: Die Sechstklässlerin Lisa (11, links im Bild) ist das erste Mal seit Kriegsbeginn wieder in einer richtigen Schule, das gleiche gilt für ihre gleichaltrige Klassenkameradin Roksana.

Englischlehrerin Inna Larchenkova (27) sagt, für die soziale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler sei der Unterricht in Anwesenheit viel besser, selbst wenn er unterirdisch stattfinde. „Die Kinder mögen es hier“, sagt sie. „Hier können sie miteinander reden, zusammen lachen, sich gegenseitig helfen und auch mal gemeinsam schummeln.“ Direktor Makeiev sagt, unterirdische Schulen seien nicht ideal. „Aber bei dieser Sicherheitslage sind sie die einzige Lösung. Sonst müssten wir die ganze Schulbildung einstellen.“ Natürlich hoffe man, dass der Krieg so bald wie möglich ende und die alten Schulgebäude wieder genutzt werden könnten.

Die Schulen sind kein Provisorium

Die Schulen unter der Erde zeugen vom Durchhaltewillen, vom Improvisationstalent und vom Innovationsgeist der Menschen in Charkiw. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Dass die Schulen nicht als Provisorium angelegt sind, macht deutlich, dass hier niemand wirklich mit einem baldigen Ende des Krieges rechnet.

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Stattdessen haben sich die Behörden in Charkiw auf weitere Opfer der russischen Aggression vorbereitet. „In der Stadt gibt es zwei unterirdische Intensivstationen in zwei Krankenhäusern“, sagt die Sprecherin des Stadtrats, Mariam Satueva. „Sie werden derzeit nicht genutzt, und so Gott will, werden sie auch nicht gebraucht werden – aber es gibt sie.“ Medienvertreter sind dort nicht erlaubt. Trotz der ständigen Bedrohung aus der Luft harren weiterhin relativ viele Bewohner in Charkiw aus. Satueva sagt, vor Beginn des russischen Überfalls hätten in der Stadt und dem Umland rund zwei Millionen Menschen gelebt, heute seien es noch etwa 1,3 Millionen.

Tanzstunden in der U-Bahn-Station

Dass viele Menschen die Region nahe der russischen Grenze verlassen haben, merkt Maksim Telezhnyi. Der 39-Jährige ist hauptberuflicher Breakdance-Lehrer und unterrichtet Kinder und Jugendliche. Der aus dem vergangenen Jahrhundert stammende Hip-Hop-Tanzstil mit seinen akrobatischen Bewegungen erfreut sich in der Ukraine immer noch großer Beliebtheit. „Vor dem Einmarsch hatte ich mehr als 200 Anfragen, heute habe ich noch 30 Schüler“, sagt Telezhnyi.

Hiphop-Kurse in Charkiw: Die Tanzstunden finden in einer umfunktionierten U-Bahn-Station statt.

Vor dem russischen Einmarsch im Februar 2022 hat der Tanzprofi große Klassen im jüdischen Kulturzentrum in Charkiw unterrichtet, natürlich über der Erde. Nach der Invasion hat er seine Tanzstunden provisorisch in eine U-Bahn-Station verlegt. Inzwischen hat er ein Studio im Keller eines unscheinbaren Wohnblocks im Südosten der Stadt angemietet. Zu wummernder Musik drehen sich dort kopfstehende Kinder um die eigene Achse.

Das Leben ist bizarr geworden.

Maksim Telezhnyi, Tanzlehrer in Charkiw

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„Das Leben ist bizarr geworden“, sagt Telezhnyi. „Es ist eine Mischung aus ständigen Angriffen und normalem Alltag.“ Kürzlich habe es einen Luftschlag neben einem Markt gegeben. „Danach haben die Händler einfach weitergemacht.“ Sein Tanzunterricht sei eine Möglichkeit für Kinder und Jugendliche, ein Hobby aus Vorkriegszeiten weiterzuführen. „Die Stadt ist noch am Leben“, sagt er. „Nur zu Hause zu sitzen, ist kein Leben.“

In Charkiw herrscht inzwischen so oft und so lange Luftalarm, dass viele Menschen die tödliche Bedrohung ignorieren, weil sie die Schutzräume sonst kaum noch verlassen könnten. Das führt zu surrealen Szenen: Etwa dann, wenn sich am Freitagabend in der Innenstadt Technobeats mit dem Sound der Sirenen mischen und junge Ukrainerinnen und Ukrainer einfach weitertanzen. Oder wenn es wirkt, als wären die Menschen taub, die an einem sonnigen Samstagnachmittag durch den Park an der Oper spazieren – weil sie keinerlei Reaktion auf den Alarm zeigen.

Ein „Bunker“ als Restaurant

Im „Bunker“ in der Innenstadt ist der Name Programm: Das Lokal liegt im Keller und hat kein einziges Fenster. Managerin Alla Shaulekina (32) sagt, ursprünglich hätten sie und der Besitzer ein oberirdisches Restaurant eröffnen wollen. Nach Kriegsbeginn, als russische Truppen am Stadtrand standen, habe man die Keller-Location gefunden. „Für die Sicherheit unserer Gäste und unseres Personals ist das die beste Option. Unsere Kunden mögen unser Angebot. Aber ein Teil von ihnen kommt auch, weil es hier einfach sicher ist.“ Die Menschen in Charkiw hätten genug davon, unter der Erde zu sein. „Wir wollen raus aus den Schutzräumen und wieder draußen leben. Wir sind neidisch auf die Feste, die es im Westen der Ukraine noch gibt.“

Bar ohne Fenster: Managerin Alla Shaulekina (32) betreibt das Restaurant „Bunker“ in der Innenstadt von Charkiw.

Die russischen Angriffe haben das kulturelle Leben in Charkiw zwar unter die Erde gezwungen, aber nicht zum Erliegen gebracht. Der prunkvolle Konzertsaal der Oper mit seinen 1500 Sitzen wird zwar nicht mehr genutzt. Dafür wurde im Untergeschoss eine Halle, in die einst Lastwagen Waren anlieferten, zum Vorführraum umfunktioniert. Auf der Bühne werden neben Opern auch Theaterstücke, Ballettstücke und Konzerte aufgeführt, rund 400 Zuschauer finden hier Platz. „Die Nachfrage ist ziemlich groß, weil die Menschen sich in diesen schrecklichen Kriegszeiten nach Normalität sehnen“, sagt Operndirektor Igor Tuluzov (67).

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„Die Nachfrage ist ziemlich groß, weil die Menschen sich in diesen schrecklichen Kriegszeiten nach Normalität sehnen“: Operndirektor Igor Tuluzov (67).

Auch an diesem Samstagnachmittag sind fast alle Stühle belegt, die Besucher haben sich fein herausgeputzt. Auf der Bühne spielt das Opernorchester französische Chansons, während der Alarm draußen vor russischen Kampfdrohnen warnt, die in den ukrainischen Luftraum eingedrungen sind. Bei den Liedern geht es um Liebe, Herzschmerz und „La vie en rose“. Auch wenn das Leben in Charkiw längst nicht mehr rosarot ist, bedankt sich das Publikum bei den Sängerinnen und Sängern mit „Bravo“-Rufen. Die Künstler revanchieren sich mit Luftküssen.

„Nicht nur das kulturelle Leben, das ganze Leben in der Stadt wird durch die ständigen Angriffe beeinträchtigt“, sagt Tuluzov. Der unterirdische Saal sei aber auch dank einer massiven Betondecke so sicher, dass Vorstellungen selbst bei Luftalarm fortgesetzt werden könnten. „Hier kann man den Krieg kurz vergessen. Man kann hier unten einfach der Musik zuhören“, sagt der Operndirektor. „Wenn die Zuschauer nach den Veranstaltungen wieder nach Hause gehen, dann strahlen ihre Augen. Und das ist das Allerwichtigste.“

Mitarbeit: Yurii Shyvala