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Im Internet hat sich nach Recherchen von team.recherche ein fragwürdiger Markt mit Abnehmspritzen etabliert. Medizinische Online-Plattformen liefern verschreibungspflichtige Abnehmspritzen. Experten kritisieren Rezepte per Online-Fragebogen.
Von Maggi Geppert und Carina Parke, SWR
„Meine Tochter wollte schnell ein paar Kilo abnehmen und hat versucht, sich im Internet die Abnehmspritze zu besorgen.“ Mit diesen Worten wendet sich eine besorgte Mutter an das team.recherche des SWR. Ihre Tochter sei schlank und sportlich, sie brauche das verschreibungspflichtige Medikament nicht.
Trotzdem habe sie die Spritze bekommen, ohne dass ein Arzt sie je gesehen oder mit ihr gesprochen habe. Die sogenannten Abnehmspritzen sind für Diabetes- und zum Teil auch Adipositas-Patienten gedacht und können erhebliche Nebenwirkungen haben. Ist es wirklich so leicht, per Mausklick an das Medikament zu kommen?
Rezept per Fragebogen
Die Reporterinnen von team.recherche des SWR machen die gleiche Erfahrung. Bei einer Plattform, die sich selbst als Online-Arzt- und Apothekenservice bezeichnet, müssen sie nur einen Fragebogen online ausfüllen. Bei ein paar Antworten wie dem Gewicht machen sie falsche Angaben. Eine direkte Kommunikation mit einem Arzt findet nicht statt, weder per E-Mail noch per Videoschalte oder Telefonat.
Einige Tage später wird ihnen die Abnehmspritze Mounjaro vom Hersteller Eli Lilly für 387,92 Euro geliefert. Im Internet stoßen die Reporterinnen auf weitere Anbieter und wiederholen den Versuch bei vier anderen Plattformen. Drei erteilen eine Absage, doch bei einem Portal erhalten sie die Abnehmspritze Ozempic des Herstellers Novo Nordisk – wieder allein nach dem Ausfüllen eines Fragebogens, bei dem sie bei wenigen Angaben geschummelt haben. Ein Gespräch mit einem Arzt findet auch hier nicht statt, die Spritze kostet 199 Euro. Ozempic ist für die Behandlung von Typ-2-Diabetes zugelassen. Bei beiden Online-Portalen wurden die Rezepte für die Abnehmspritzen von jeweils einem Arzt im Ausland ausgestellt.
Experten: Viele Versprechen, wenig Kontrolle
Der Ernährungsmediziner Hans Hauner sieht die Rezeptausstellung für die Abnehmspritze allein auf Basis eines Fragebogens kritisch: „Ich würde tatsächlich unterstellen, dass es hier um schnelle Kohle geht. Man hat hier einen gesetzlichen Rahmen, in dem man relativ viel versprechen kann und in dem wenig kontrolliert wird, sodass es bestimmten Menschen, die damit Geld verdienen wollen, sehr einfach gemacht wird.“
Auch Verbraucherschützer kritisieren die Online-Plattformen und das Fragebogen-Prinzip. „Man kommt zu leicht an die Spritzen“, sagt Gesa Schölgens von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. „Unser Eindruck ist, dass viele dieser Anbieter nicht wirklich auf Patientinnen mit Adipositas zielen, sondern eher Lifestyle-Kundinnen im Blick haben.“
Bundesärztekammer: „Ausfüllen eines Fragebogens nicht ausreichend“
Die Bundesärztekammer teilt mit, man könne sich zu konkreten Angeboten nicht äußern. Außerdem könne man nicht beurteilen, unter welchen Voraussetzungen Ärztinnen und Ärzte im jeweiligen EU-Ausland Medikamente verschreiben dürften. Nach deutschem Berufsrecht setze die Einhaltung der erforderlichen ärztlichen Sorgfalt mindestens voraus, dass die Indikation einer Verordnung aufgrund des persönlichen Arzt-Patienten-Gesprächs gewissenhaft geprüft werde. „Das Ausfüllen eines Fragebogens ohne persönlichen Kontakt zwischen Patienten und Ärztin oder Arzt ist nicht ausreichend“, so die Bundesärztekammer.
Hersteller distanzieren sich von Lifestyle-Nutzung
Die beiden Portale, über die die Reporterinnen die Abnehmspritzen bekommen haben, ließen Anfragen unbeantwortet. Die beiden Hersteller der Spritzen, Ely Lilly und Novo Nordisk, distanzierten sich auf Anfrage von der Verwendung ihrer Abnehmspritzen als sogenannte Lifestyle-Produkte. Man spreche sich ausdrücklich gegen den Einsatz aus kosmetischen Gründen aus, betont etwa Ely Lilly. Novo Nordisk teilte ebenfalls mit, man unterstütze keine Nutzung zu kosmetischen Zwecken und habe schon Anbieter von eHealth-Leistungen abgemahnt.
Abnehmen als Lifestyle
Auf Social Media-Plattformen wie TikTok trendet Content zu Abnehmspritzen und zum Dünnsein. Ein Beispiel dafür: „SkinnyTok“. Unter dem Hashtag wurde bis vor Kurzem Abnehmen zum Lifestyle deklariert, insbesondere junge Frauen teilten extreme Diät- und Abnehmtipps. Nach einer breiten öffentlichen Debatte um die Gefahren des Abnehm-Hypes, insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene, hat TikTok reagiert und den Hashtag #skinnytok im Juni weltweit gesperrt.
Doch mit nur kleinen Änderungen in der Schreibweise von „SkinnyTok“ landen Nutzer wieder bei den gleichen, gefährlichen Inhalten. Was sagt TikTok dazu, dass solche Inhalte nach wie vor für alle zugänglich sind? Das Unternehmen äußert sich auf Anfrage nicht zur Umgehung des gesperrten Hashtags und antwortet nur allgemein. Es teilte unter anderem mit, man erlaube keine Inhalte, die Essstörungen oder gefährliche Verhaltensweisen zur Gewichtsabnahme fördern und beschränke den Zugang zu Videos, die bestimmte Körpertypen idealisierten.
Bedeutung von Social Media bei Essstörungen
Auch Judith, die ihren vollständigen Namen nicht nennen möchte, bekam Abnehm-Content in den Feed gespült: Kalorienspickzettel, Sport-Übungen oder Videos, in denen Influencer zeigen, was sie an einem Tag essen. Für Judith seien diese Videos zu einer Art Anleitung geworden – und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der sie eine Essstörung entwickelte. „Ich habe mir die angeguckt und dann dachte ich: Die essen alle viel weniger als ich. Ich muss ja dann auch so wenig essen“, erinnert sich Judith. Die psychische Last sei für sie immer größer geworden: „Die Krankheit hat meinen ganzen Tag bestimmt. Das war einfach nicht mehr lebenswert.“ Schließlich habe sie sich Hilfe in einer Klinik gesucht.
Dass Social Media eine zentrale Rolle bei Menschen mit Essstörungen spielt, beobachtet auch die Psychologin Britta Tröstler. Sie arbeitet als Therapeutin in der „Klinik am Korso“, eine der wenigen Kliniken in Europa, die sich ausschließlich auf Essstörungen spezialisiert haben. „Durch Social Media vergleiche ich mich vielleicht als Dünne mit anderen Dünnen. Das heißt, dann muss ich noch dünner sein, um zu gewinnen. Ein großer Faktor ist Leistung, die Beste sein.“
Ein unkontrollierter Markt
Der Skinny-Hype auf Social Media birgt Gefahren. Mit der Vermarktung von Abnehmspritzen als Lifestyleprodukt scheint er eine neue Dimension erreicht zu haben. Bei der Recherche stößt das team.recherche des SWR auch immer wieder auf Werbung für die Spritzen. Nicht nur von Stars und Influencern – auch Anbieter selbst schalten Werbung.
Dabei ist dies laut Verbraucherzentrale nicht erlaubt, da es sich bei den Spritzen um verschreibungspflichtige Medikamente handele. Gesa Schölgens, Projektleiterin bei der Verbraucherzentrale NRW, erklärt, dies sei möglich, weil der Markt unkontrolliert bleibe: „Wenn es niemandem auffällt, es niemand verfolgt oder meldet, dann kann man so weitermachen wie bisher und das fröhlich bewerben.“
Unerlaubte Werbung für Abnehmspritzen, an die man viel zu leicht herankommt. Skinnysein, Dünnsein – ein Hype, in dem viel Geld steckt. Viele wollen mitverdienen. Den Preis zahlen am Ende vor allem junge Frauen, die dem Skinny-Ideal entsprechen wollen, das sie auf Social Media jeden Tag in ihrer Timeline sehen.
Die Doku „Skinny um jeden Preis – wer profitiert vom Abnehm-Hype?“ in der ARD-Mediathek