Ich schaue dorthin, wo Deutschland dunkel wird, wo auch München nicht leuchtet. Und seit vielen Jahren berichte ich davon, wie sich das Land auf gefährliche Weise verändert.
Als ich in den Neunzigerjahren beschrieb, wie sich im Osten die Rechtsradikalen festsetzen, rollten bei mir in der Redaktion einige die Augen: Die Ramelsberger übertreibt.
Von München aus waren die NPD und die Skinhead-Banden und die Nationalen Sozialisten weit weg. Ich schrieb über die Baseballschlägerjahre, als die noch gar keinen Namen hatten. Erst im Rückblick erkannte man, was da war: geduldete Gesetzlosigkeit, allein gelassene Jugendliche, Eltern, die mit sich und den Umbrüchen beschäftigt waren.
Damals ging der NSU in den Untergrund. Und als er 2011, nach zehn Morden, wieder auftauchte, hatte sich das Land verändert.
2013 begann in München der NSU-Prozess. 2013 wurde auch die AfD gegründet. Fünf Jahre später erging das Urteil gegen Beate Zschäpe und ihre Helfer und im selben Jahr zog die AfD mit zehn Prozent in den bayerischen Landtag ein. Während ich drinnen im Gerichtssaal verzweifelte Opferfamilien beschrieb und grinsende Neonazis, ging draußen die Saat des Hasses auf.
Ich habe mich damals gefragt, ob das, was ich tue, eigentlich noch sinnvoll ist: immer beschreiben, immer warnen und nichts ändert sich. Und ich habe dann weitergemacht. Denn Aufgeben ist keine Lösung.
Als bekannt wurde, dass die Stadt mir diesen Preis verleiht, erhielt ich eine ganze Reihe von Glückwünschen. In diesen Mails kam immer wieder das Wort „mutig“ vor. Dass das, was ich mache, doch so mutig sei. Das lässt mich ratlos zurück.
Nein: Ich bin nicht mutig. Ich übe nur meinen Beruf aus. Dafür muss man sein Handwerk können, ein Rückgrat haben und Menschen mögen. Aber Mut braucht es – meist – nicht.
Man muss in diesem Land nicht mutig sein, um als Journalistin zu arbeiten. Noch nicht. Damit das so bleibt, müssen wir Demokraten etwas tun. Das Wichtigste: Wir dürfen nicht in vorauseilender Feigheit verstummen.
Ich frage mich immer, warum ein Handwerker seinen Azubi nicht zur Rede stellt, wenn der sich SS-Runen auf die Beine tätowiert. Ich frage mich, warum Gerichte und Staatsanwälte so lange die Paragrafen hin und her wenden, bis auch noch die eindeutigste Provokation nicht mehr strafbar ist. So wie in Pforzheim. Da hatte eine Neonazi-Partei direkt neben der Synagoge ein Wahlplakat aufgehängt. Darauf stand: „Wir hängen nicht nur Plakate.“ Die Staatsanwaltschaft fand das nicht eindeutig genug.
In Deutschland schleicht sich eine eigenartige Haltung ein. Da wird ständig nach der Angst gefragt, die man doch sicher bei seiner Arbeit haben müsse – egal, ob ein Richter urteilt, ein Bürgermeister mit den Leuten diskutiert oder eine Journalistin berichtet. Es klingt, als würden wir in einem autoritären Staat leben, in dem Zivilcourage gefährlich ist. Manchmal kommt mir die Beschwörung dieser abstrakten Gefahr wie eine Entschuldigung dafür vor, dass man selbst nicht den Mund aufmacht.
Noch ist dies ein demokratisches, freies Land. Man muss hier keine Angst haben, seine Meinung zu äußern, und man muss auch keine Angst haben, als Journalistin zu arbeiten. So etwas zu behaupten, würde die Maßstäbe verzerren. Wir sind nicht in China, in Russland, in Iran oder Gaza, wo JournalistInnen wirklich unter Lebensgefahr arbeiten. Diese Journalisten sind mutig.
In Deutschland muss man als Gerichtsreporterin nur neugierig, hartnäckig und geländegängig sein. Man sollte darauf vorbereitet sein, nachts stundenlang im Nieselregen vor Gerichtsgebäuden zu warten, bis man im Morgengrauen von übellaunigen Wachtmeistern eingelassen wird. Man sollte sich nicht von Juristen abschrecken lassen, die erst Menschen mit zweitem juristischen Staatsexamen für satisfaktionsfähig halten. Und man sollte auch nicht vor einem Neonazi erzittern, der einem auf der Pressetribüne des NSU-Gerichtssaals zuruft: „Wenn wir erst mal an der Macht sind, bist du dran.“
Wenn man da schon einknickt, macht man es ihnen zu leicht.
Man muss sich nicht von jeder Drohung einschüchtern lassen. Nicht, wenn man eine so starke Zeitung wie die Süddeutsche im Rücken hat, mit einer Chefredaktion, die auch in schwierigen Zeiten hinter einem steht. Und nicht, wenn man in einer Stadt wohnt wie München, wo immer wieder Hunderttausende gegen Rechtsradikale auf die Straße gehen. Hier ist man vom Common Sense getragen. Als Lokalreporterin in Sachsen ist das schon eine andere Sache. Vor diesen Kollegen habe ich höchsten Respekt.
Aber kommen wir zu den Abgründen.
Seit ich als Gerichtsreporterin arbeite, sehe ich die menschlichen Abgründe aus nächster Nähe. Aber mich hat noch nie interessiert, wie groß das Kaliber der Tatwaffe war und wie weit das Blut spritzte. Mich interessiert vor allem, wieso eine Tat geschah und wie man sie hätte verhindern können.
Warum hat niemand den Serienmörder Niels Högel gestoppt, der mindestens 87 Menschen getötet hat – obwohl doch alle um ihn herum spürten, dass etwas nicht stimmt. Man hat ihm ein gutes Zeugnis gegeben und ihn dann weggelobt. Er mordete sofort weiter.
Oder der Lehrer Horst Arnold aus dem Odenwald. Eine Kollegin, hatte ihn bezichtigt, sie vergewaltigt zu haben. Es war eine Lüge. Arnold saß fünf Jahre unschuldig im Gefängnis, bis zum letzten Tag. Der Lehrer wurde nachträglich freigesprochen. Aber einen Job bekam er nie wieder. Er lebte von Sozialhilfe. Eines Tages stürzte er mit einem Herzinfarkt tot vom Rad. Niemand hatte sich je bei ihm entschuldigt.
Vor Gericht trifft man auf menschliche Größe und auf menschliche Niedertracht. Und natürlich werde ich immer als Erstes nach den Angeklagten gefragt: Wie ist die Zschäpe denn so? Oder: Wie nah warst du denn an Breivik dran? Hat der wirklich den Hitlergruß gezeigt?
Aber meistens sind die Opfer viel interessanter als die Täter.
Ich habe bei meiner Arbeit immer wieder Menschen getroffen, die an dem, was ihnen angetan wurde, nicht zerbrochen sind. Sie sind über sich hinausgewachsen.
Da ist der Junge, der Hand in Hand mit seiner Freundin übers Oktoberfest läuft. 17 ist er und schwer verliebt. Die beiden gehen zum Ausgang, es ist schon spät. Da explodiert die Bombe. Es ist der 26. September 1980. Das Mädchen ist sofort tot. Dem Jungen reißt es die Beine weg. Dimitrios Lagkadinos heißt der Junge von damals. Er hat sich ins Leben zurückgekämpft, einen Beruf gefunden, eine Familie gegründet. Er fährt mit dem Fahrrad sogar bei der Tour de France mit, in einem eigenen Rennen für Terroropfer. Ich freue mich, dass er heute hier ist.
Im NSU-Prozess bin ich einer jungen Frau aus Köln begegnet. Sie war 19 und stand kurz vor dem Abitur. Da explodierte im Lebensmittelladen ihrer Eltern ein Sprengsatz, gelegt vom NSU. Das Mädchen lag sechs Wochen im Koma. Ihr Gesicht war zerschnitten. Man hatte alle Spiegel vor ihr versteckt. Noch im gleichen Jahr machte sie ihr Abitur nach. Sie studierte Medizin. Sie ist heute Chirurgin, Oberärztin in Köln. Als sie im NSU-Prozess als Zeugin auftrat, stand da eine Leistungsträgerin der deutschen Gesellschaft. Sie sagte, die Terroristen hätten sie vertreiben wollen. Aber so einfach gehe das nicht mit ihr. Sie bleibe.
Solche Menschen sind viel interessanter, viel spannender als eine Beate Zschäpe oder ein Niels Högel. Und auch viel wichtiger als die Reporterin oder der Reporter, die über sie schreiben. Ich habe erlebt, dass man von diesen Menschen so viel lernen kann. Vor allem von Ina Libak.
Ich bin ihr im Gerichtssaal von Oslo begegnet, im Prozess gegen den Massenmörder Anders Behring Breivik. Ina Libak war auf der Insel Utøya gewesen. Breivik hatte die junge Frau viermal getroffen: in den Arm, in die Hand, in die Wange, in die Brust. Ina Libak wurde von ihren Freunden in den Wald geschleppt. Sie rissen sich die T-Shirts vom Leib und machten ihr mit Steinen Druckverbände.
Dann kam Breivik. Das Gewehr im Anschlag. Auf der Jagd nach Menschen. Der Wald in Utøya ist ganz licht, es gibt kaum Unterholz. Er kam näher, gleich musste er sie sehen. Sie pressten sich auf den Boden, sie hielten sich an den Händen. Ina Libak sagt vor Gericht: „Und meine Freunde sind nicht weggelaufen. Sie sind bei mir geblieben.“
In dem Moment, in dem Breivik sie hätte sehen müssen, drehte er sich um und ging in die andere Richtung.
Das, was Ina Libak und ihre Freunde gezeigt haben, das ist Mut. Und ein klein wenig davon wünsche ich mir auch für uns hier in München, in Bayern, in Deutschland. Dass wir nicht gleich weglaufen, wenn die Demokratiefeinde uns einschüchtern wollen. Dass wir Rückgrat zeigen, auch wenn das unbequem ist. Dass wir den Spaltern widersprechen, damit sie sich nicht als Handlanger der schweigenden Mehrheit fühlen.
Das hat nichts mit Mut zu tun. Es gehört sich einfach.