Sehr geehrter Friedrich Merz, ich weiß, es ist nicht üblich, dass ein Botschafter einen offenen Brief an den designierten Bundeskanzler Deutschlands richtet. Ihnen schreibe ich aber nicht als Diplomat, sondern als Mensch und Europäer, als Nachbar und Christ. Denn wir leben in ungewöhnlichen, dunklen Zeiten. Der Krieg wütet in Europa. Ein barbarischer Krieg, den Russland vom Zaun gebrochen hat. Die Menschen haben Angst. Die Menschen wollen Frieden. Vor allem die Ukrainer, die jeden Tag enorme Opfer bringen. Und die Politiker suchen verzweifelt nach Lösungen, um diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen, finden aber keine.

Ausgerechnet Deutschland kommt eine entscheidende Rolle zu, um das Morden zu stoppen und einen gerechten Frieden herbeizuführen. Von Ihrem Erfolg als Kanzler hängt nicht nur die Zukunft der Bundesrepublik ab, sondern auch das Schicksal der Ukraine – und ganz Europas. Das mag pathetisch klingen, ist aber so. Sie haben eine historische Chance, die Bundesrepublik zum wichtigsten Leuchtturm der freien demokratischen Welt zu machen.

Sie wissen, wie sehr ich – als langjähriger Botschafter – den vertraulichen Austausch mit Ihnen als CDU-Vorsitzender und CDU/CSU-Fraktionschef im Bundestag immer geschätzt habe. Es wäre keine Übertreibung zu sagen, dass es uns im April 2022 dank Ihres persönlichen Einsatzes und dem massiven Druck seitens der Opposition im Parlament gelungen ist, Kanzler Scholz und die Ampel dazu zu bewegen, nach langem Zögern schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Auch Ihr mutiger Besuch in Kiew Anfang Mai 2022 – als erster deutscher Staatsmann – war ein starkes Zeichen, um die damalige Bundesregierung anzuspornen, der Ukraine viel stärker militärisch unter die Arme zu greifen.

In zwei Wochen sollen Sie zum neuen Bundeskanzler gewählt werden. Nicht nur die Deutschen erhoffen sich von Ihnen einen wahren Politikwechsel. Auch wir Ukrainer blicken mit Zuversicht auf Sie als Anführer der westlichen Staatengemeinschaft. Sie werden ein schweres Kreuz zu tragen haben. Sie werden die größte Verantwortung seit 1945 übernehmen, größer als jede Koalitionslogik. Denn es liegt in Ihrer Hand, als Friedensstifter diesen verdammten Krieg noch 2025 zu stoppen. Aber wie? Wie kann ein Durchbruch erzielt werden? Die Lage scheint verfahren, fast aussichtslos zu sein. Hier sind fünf Schritte, die Sie im Laufe der ersten 100 Tage Ihrer Kanzlerschaft unternehmen könnten, um den Gordischen Knoten zu durchschlagen und Putin zum Frieden zu zwingen.

Erstens: Einen Koalitionsbeschluss fassen über die Finanzierung der Waffenlieferungen für die Ukraine in Höhe von mindestens 0,5 Prozent des BIP (21,5 Milliarden Euro pro Jahr) oder 86 Milliarden Euro bis 2029. Um Ihren Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, könnte man ein Kreditabkommen ins Auge fassen. Das wäre eine gerechte Lösung und zugleich eine Rieseninvestition in die eigene Sicherheit Deutschlands. Diese Mittel sollen in die Produktion modernster Waffen sowohl in Deutschland als auch in der Ukraine investiert werden.

Zweitens: Die gleiche 0,5-Prozent-Regelung initiieren und durchführen auf EU-Ebene (372 Milliarden Euro bis 2029) sowie im Rahmen der G 7 (zusätzlich 181 Milliarden, wenn man die USA – noch – nicht mitrechnet). Dieses Mega-Commitment von 550 Milliarden Euro für die ukrainische Verteidigung in den nächsten vier Jahren wäre ein gewaltiges Warnsignal an Putin, dass Sie, Herr Merz, und unsere Verbündeten es ernst meinen mit der Ukraine-Hilfe. Das wird Putin beeindrucken.

Drittens: Am 6. Mai im Bundestag die sofortige Lieferung von 150 Taurus-Marschflugkörpern verkünden und sie zügig durchsetzen. Dieses Wahlversprechen muss eingelöst werden, trotz des erwarteten Widerstands seitens der SPD. Dafür braucht man keine „Abstimmung mit den Partnern“, keine Ultimaten an Putin. Man sollte diese Inferno-Waffen einfach liefern, ohne Wenn und Aber, um den schleichenden Vormarsch der Russen zu stoppen und die heutige Kriegsdynamik im Kern zu verändern.

Viertens: Auch um die Taurus-Systeme effizient einzusetzen, sollte eine Koalitionsentscheidung getroffen werden, der Ukraine 30 Prozent der verfügbaren deutschen Kampfjets und Hubschrauber aus den Beständen der Luftwaffe zu übergeben. Das wären ca. 45 Eurofighter und 30 Tornados, 25 Helikopter NH90 TTH und 15 Eurocopter Tiger. Diesen Schritt könnte man auch im Rahmen eines allumfassenden Darlehens abwickeln – eines Leih- und Pachtgesetzes, das der Bundestag verabschieden könnte. Hauptsache, es wird schnell geliefert. Dieselbe 30-Prozent-Regelung könnte auch für andere Waffensysteme aus den Beständen des Heeres eingeführt werden, um folgende kritische Lieferungen freizugeben: 100 Leopard-2-Kampfpanzer, 115 Puma und 130 Marder Schützenpanzer, 130 GTK Boxer, 300 Fuchs Transportpanzer, 20 MARS-II-Raketenartilleriesysteme mit Munition. Zugleich sollten Bestellungen für eine massive Modernisierung der Bundeswehr erfolgen, um die gelieferten Waffensysteme zügig zu ersetzen.

Macht aus Pflugscharen Schwerter

Und der letzte fünfte Schritt: Die Ukrainer erwarten von Ihnen, Herr Merz, Führungskraft und einen konkreten Umsetzungsplan für die im Koalitionsabkommen verankerten Vereinbarungen. Nicht mehr um den heißen Brei herumreden, sondern 200 Milliarden Euro eingefrorenes russisches Staatsvermögen beschlagnahmen und für den Wiederaufbau der Ukraine nutzen; konkrete militärische Sicherheitsgarantien beschließen; eine Nato-Beitrittsperspektive nicht nur formell bekräftigen, sondern innerhalb der Allianz – vor allem gegenüber den USA – dafür sorgen, dass sie demnächst Realität wird, genauso wie die EU-Mitgliedschaft der Ukraine bis 2029.

Ich weiß, dass sich viele in der SPD – vielleicht auch in Ihrer eigenen Partei – wieder empören werden: „How dare you!“ „Nicht schon wieder dieser freche Melnyk, der überall seinen Senf dazugibt.“ „Wir brauchen seine Ratschläge nicht, Nervensäge.“ Ich kann diese Reaktionen menschlich nachvollziehen. Nur: Es ist meine Pflicht als jemand, der Deutschland kennen und lieben gelernt hat, Ihnen, Herr Merz, diese Denkanstöße anzubieten. Ich bin Realist und mache mir keine Illusionen, ob Sie eine oder mehrere dieser Ideen aufgreifen. Oder auch keine. Aber das Osterfest naht. Wir feiern die Auferstehung Christi, der am Kreuz den Tod überwand. Und man darf hoffen auf ein Wunder.

Von Herzen wünsche ich Ihnen eine ruhige Hand am Steuer und den Mut, den Kurs in diesen stürmischen Gewässern zu halten, auch wenn die Wellen hochschlagen und der Kompass flackert. Der Prophet Joel mahnt uns alle: „Macht aus euren Pflugscharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße! Auch der Schwache rufe: Ich bin stark!“ (Joel,4,10). Möge dieser biblische Appell Ihnen – und uns allen – neue Kraft geben. Frohe Ostern!

Hochachtungsvoll, Ihr Andrij Melnyk

Der Autor war von 2015 bis Oktober 2022 Botschafter der Ukraine in Berlin. Demnächst wird er Botschafter seines Landes bei den Vereinten Nationen.